Während Schnee oder Regen auf menschlichem Haar bei Minusgraden schnell gefrieren, verfügen Eisbären über einen natürlichen Vereisungsschutz. Dafür sorgt eine spezielle Zusammensetzung ihres Fell-Talgs. Diese Erkenntnis kann nützlich sein, wenn es darum geht, umweltfreundliche Oberflächenbeschichtungen zu entwickeln – als Ersatz für die Ewigkeitschemikalien PFAS.

Dass sie es mit ihrer Studie über das bislang rätselhafte Phänomen der Vereisungsschutzeigenschaften des Eisbärenfells zur Titelgeschichte des renommierten Fachmagazins „Science Advances“ schaffen würden, dürfte das internationale Forschungsteam wohl selbst in seinen kühnsten Träumen kaum erhofft haben. Doch ihre Entdeckung könnte zur Entwicklung umweltfreundlicher Technologien zur industriellen Vereisungsbekämpfung beitragen und damit in vielen Bereichen die Verwendung von ökologisch höchst bedenklichen Ewigkeitschemikalien, den PFAS (Per- und Polyfluoralkyl-Substanzen) überflüssig machen.
Lufttemperaturen bis minus 40 Grad
Der Anstoß für die jüngste wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Fell des Eisbären war geradezu amüsant-skurril. Dazu sollte man wissen, dass das einzige arktische Landsäugetier zum Jagen auch schon mal taucht und in einem der kältesten Klimata der Welt mit Lufttemperaturen von bis zu minus 40 Grad zurechtkommen muss, und dass dessen Wärmeisolierung durch Speck- und Fellschichten so ausgeklügelt ist, dass die Oberflächentemperatur seines Fells normalerweise nahe der umgebenden Lufttemperatur ist. Rein zufällig hatte die dänisch-norwegische Physikerin Bodil Holst, die als Professorin für Nanophysik an der Fakultät für Physik und Technologie an der norwegischen Universität Bergen (UiB) tätig ist und sich in ihren Forschungen schon seit längerer Zeit mit Enteisungseigenschaften von diversen Materialien beschäftigt, die deutsche ARD-Fernsehsendung „Wer weiß denn sowas?“ gesehen. Dabei wurde sie von einem Beitrag gefesselt, bei dem es um den verblüffenden Sachverhalt ging, dass Eisbären für Infrarotkameras unsichtbar sind. Was darauf hindeutete, dass ihr Fell die gleiche Temperatur wie ihre Umgebung haben musste. Sofort war ihre Neugier geweckt, zumal ihr aufgefallen war, dass sie noch niemals in einer Tierdokumentation einen von Eis bedeckten Eisbären gesehen hatte, nicht einmal bei einem Tier, das nach einem Tauchgang in unter dem Gefrierpunkt liegenden Gewässern wieder an Land gekommen war: „Ich war so fasziniert und dachte: Wie ist das möglich? Wie können sie ins Wasser springen, so gut isoliert sein und trotzdem nicht von Eis bedeckt werden? Wie kann es sein, dass das Einfrieren für sie kein Problem darstellt? Wie kann es sein, dass sich unter diesen Umständen kein Eis auf dem Fell ansammelt?“
Wenig später nahm sie Kontakt zu Kollegen des Norwegischen Polarinstituts in Tromse auf und besorgte sich Eisbärenfell, um erste Untersuchungen bezüglich der Interaktion von Eis und Pelz in Angriff zu nehmen. Um dem Rätsel des eisfreien Eisbärenfells fundiert auf die Spur zu kommen, stellte sie ein Forschungsteam mit der Gruppe von Prof. Øyvind Halskau vom Department of Biological Sciences der UiB sowie mit Quantenmechanikern der britischen University of Surrey zusammen und konnte auch den Chemie-Doktoranden Julian Carolan von der School of Chemistry des Trinity College Dublin zur Mitarbeit gewinnen.
Eisbärenfell aus Norwegen
Obwohl es schon zahlreiche Publikationen zu thermischen, strukturellen und sogar optischen Eigenschaften des Eisbärenfells gab, hatte sich noch niemand wissenschaftlich mit dessen Vereisungsschutzeigenschaften beschäftigt. „Die Natur hat in einer großen Bandbreite von Technologien zu Fortschritten bei der Materialleistung beigetragen, von hydrophoben Oberflächen nach dem Vorbild von Lotusblättern bis hin zu proteinbasierten Wasserfiltermembranen. In jüngster Zeit hat Eisbärenfell die Entwicklung wärmeisolierter Textilien auf Basis von Aerogelen inspiriert, die herkömmliche Daunenjacken übertreffen können. Während die Entwicklung biomimetischer wärmeisolierender Materialien auf Basis von Eisbärenfell ein relativ junges Unterfangen ist, ist das Wissen über die wärmeisolierenden Eigenschaften von Eisbärenfell schon seit Generationen vorhanden. Im Gegensatz zu den thermischen Eigenschaften von Eisbärenfell wurden dessen Vereisungsschutzeigenschaften bisher nicht untersucht“, so das Team.

Zunächst einmal mussten sich die Forscher Eisbärenfell beschaffen. Dafür wurden im Frühjahr 2022 von Mitarbeitern des Norwegischen Polarinstituts Haarproben von sechs Eisbären auf Spitzbergen eingesammelt, wofür die drei Männchen und drei Weibchen im Zuge der jährlichen Populations-Überwachungskampagne mit einem Betäubungsmittel kurzzeitig sediert worden waren. Zusätzlich konnte mit einer Eisbärenhautprobe gearbeitet werden, die von einem im Zuge einer menschlichen Selbstverteidigungssituation erlegten Tier stammte. Zunächst einmal konnte mithilfe eines Mikroskops festgestellt werden, dass die Haare des Eisbärenfells nicht anders aufgebaut sind als menschliches Haar. Deshalb konnten seine eisabweisenden Eigenschaften keinesfalls mit der reinen Struktur erklärt werden.
Anti-Eis-Effekt nur bei fettigem Haar
In der Folge verglichen sie die vereisungshemmenden Eigenschaften der Eisbär-Fellproben mit denen von menschlichem Haar, das seine eigenen natürlichen Öle enthält, sowie mit denen von Skifellen, die mit reibungsmindernden Fluorkohlenwasserstoffen beschichtet waren. Einige Haarproben der Eisbären wurden zusätzlich auch noch gewaschen, um etwaige Auswirkungen auf die Eisschutzfunktion feststellen zu können. Dabei konnten die Forscher registrieren, dass das gewaschene Eisbärenfell seine bemerkenswert geringe Eishaftung einbüßte, was die Vermutung nahelegte, dass beim Waschen die natürliche Fettschicht des Eisbärenhaares entfernt wurde und es sich dann ähnlich wie menschliches Haar verhielt. Eis verfing sich in dem gewaschenen Pelz viermal so stark wie in den ungewaschenen Tierhaaren und konnte nur mit viel Mühe wieder daraus entfernt werden. Woraus die Wissenschaftler den Schluss zogen, dass dem Talg des Eisbärenfells die wesentliche Rolle bei dessen eisabweisender Wirkung zukommt. „Der Talg erwies sich schnell als Schlüsselkomponente für diesen Anti-Eis-Effekt, da wir entdeckten, dass die Haftkraft stark beeinträchtigt wurde, wenn das Haar gewaschen worden war“, so Julian Carolan. „Ungewaschenes, fettiges Haar machte es für Eis viel schwieriger, daran zu haften. Im Gegensatz dazu verhielt sich das gewaschene und weitgehend fettfreie Haar des Eisbären ähnlich wie menschliches Haar, an dem Eis leicht haftet, egal ob es gewaschen oder fettig ist.“
Logischerweise unterzogen die Forscher daher den Talg einer aufwendigen chemischen Analyse, wobei modernste Techniken wie Gaschromatografie-Massenspektronomie, Flüssigchromatografie-Tandem-Massenspektronomie oder Kernspinresonanz zum Einsatz kamen. Dabei konnten sie Cholesterin, Diglycerin und Fettsäuren als wesentliche Bestandteile identifizieren. Doch viel wichtiger war das komplette Fehlen einer anderen Substanz, nämlich Squalen. Dabei handelt es sich um ein Fettstoffwechselprodukt, das als ölige Verbindung in Gestalt einer Kohlenwasserstoff-Zickzackkette (mit der chemischen Formel C₃₀H₅₀) nicht nur im menschlichen Haar, sondern auch bei einer ganzen Reihe von Säugetieren, vor allem im Fell von Wasserbewohnern wie Biber, Seelöwe oder Seeotter, natürlicherweise vorhanden ist und auch in Kosmetika oft als natürlicher Feuchtigkeitsspender verwendet wird. Mithilfe quantenmechanischer Berechnungen ermittelte das Team, wie gut Squalen und die übrigen Hauptbestandteile des Eisbären-Talgs an Eisoberflächen haften können. Das Ergebnis war verblüffend, denn Squalen konnte an gefrorenes Wasser deutlich stärker anbinden als die anderen Moleküle. Weshalb das Fehlen von Squalen im Eisbären-Talg die Erklärung für das eisfreie Fell der Tiere sein musste, sprich, die sehr spezielle Zusammensetzung des Eisbären-Talgs verhindert das Einfrieren des Fells.
Neben der chemischen Analyse des Talgs führten die Forscher noch weitere aufwendige Untersuchungen durch. „Wir haben die Eishaftkraft gemessen, die ein nützliches Maß dafür ist, wie gut Eis am Fell haftet; die Hydrophobie, die bestimmt, ob Wasser abperlen kann, bevor es gefriert; und die Gefrierverzögerungszeit, die einfach zeigt, wie lange es dauert, bis ein Wassertropfen bei bestimmten Temperaturen auf einer bestimmten Oberfläche gefriert“, so Julian Carolan. Die Eishaftung von natürlichen und gewaschenen Fellproben wurde in einem speziell angefertigten Gerät in einer auf minus 23 Grad heruntergekühlten Kammer ermittelt. Dabei stellte sich heraus, dass das natürlich-fettige Haar ein Anhaften des Eises in Gestalt von gefrorenen Brocken verhindert hatte. Es konnte nur ein Wert der sogenannten Eisadhäsionskraft von etwa 50 Kilopascal gemessen werden, vergleichbar mit Hightech-Skifellen samt Fluorkohlenwasserstoff-Beschichtung und deutlich unter der Schwelle von 100 Kilopascal, die gemeinhin als eisabweisend gilt. Das gewaschene Fell wies hingegen eine drastische Erhöhung der Eisadhäsion auf über 150 Kilopascal auf.
Weitere Forschung zu Skiwachs

Ihr eisfreies Fell ist den Eisbären laut den Forschern auch bei ihrer Nahrungssuche sehr hilfreich. „Unsere Forschung hat das Verständnis darüber verbessert, wie sich Eisbären an ihre Umgebung anpassen“, so Prof. Bodil Holst. „Sie müssen beim Jagen sehr leise sein, da Robben ein ausgezeichnetes Gehör haben. Im letzten Jahrzehnt haben Verhaltensbiologen festgestellt, dass Eisbären bei der Jagd meist still in der Nähe von Atemlöchern liegen und schnell und leise zuschlagen, wenn Robben auftauchen. Die geringe Reibung durch das Fett auf ihrem Fell macht dies möglich, ähnlich wie Öl die Quietschgeräusche von einer Tür entfernen kann. Die stille Jagd geht oft in eine Wasserpirsch über, bei der der Eisbär mit seinen Hinterpfoten ins Wasser gleitet, um seine Beute zu verfolgen. Je geringer die Eishaftung ist, desto weniger Lärm erzeugt er und desto schneller und leiser gleitet er.“
Die Inuit wissen laut den Forschern schon seit vielen Generationen die Vorteile des Eisbärenfells zu nutzen. So fertigen sie beispielsweise Jagdstühle, deren Füße mit Eisbärenfell gegen ein Einfrieren umhüllt sind, oder tragen Hosen aus Eisbärenfell, um sich lautlos über das Eis bewegen zu können. Wobei sie seit jeher intuitiv darauf geachtet haben, die haarbesetzte Seite der Eisbärenhaut niemals zu waschen.
Das Team geht davon aus, dass ihre Erkenntnisse um die natürlichen Lipidbeschichtungen des Eisbär-Haares künftig dabei helfen können, nachhaltige Vereisungsschutzbeschichtungen als Ersatz für die problematischen synthetischen Ewigchemikalien PFAS zu entwickeln. Zwar mag das noch wie Zukunftsmusik klingen, aber die Forscher haben einen Patentantrag für die Entwicklung eines umweltfreundlichen Skiwachses eingereicht. Nicht weiter verwunderlich, hatte doch ein Ski-Hersteller die Skifelle für die Studie kostenlos zur Verfügung gestellt, zudem arbeitet Prof. Bodil Holst mit diesem Unternehmen gelegentlich zusammen. „Das Ziel ist, eines Tages ein neues, von Eisbären inspiriertes Skiwachs zu haben, das umweltfreundlich ist“, so Prof. Holst. Doch darüber hinaus könnte an einer alternativen Oberflächenbeschichtung für Outdoor-Kleidung oder auch an einer umweltfreundlichen Eisabweisung für Flugzeugoberflächen und ähnlichen industriellen Materialien geforscht werden.