Jeder kennt sie, doch nur wenige wissen, worum es sich bei der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung handelt. Der ADHS-Experte Prof. Dr. Marcel Romanos spricht im Interview über die komplexe, multifaktorielle Erkrankung und Entwicklungsstörung.

Herr Prof. Romanos, nach heutigem wissenschaftlichen Kenntnisstand handelt es sich bei der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung vermutlich um eine Regulationsstörung im Frontalhirn auf genetischer Grundlage. Können Sie das näher erläutern?
Es ist tatsächlich komplizierter als gemeinhin angenommen. Dass wir Auffälligkeiten im Frontalhirn finden – egal mit welcher Methode – ist völlig richtig. Wenn wir von ADHS sprechen, haben wir es mit einer Erkrankung nach dem Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation zu tun. Darin ist beschrieben, dass Symptome wie unter anderem Aufmerksamkeitsstörungen, Hyperaktivität und Impulsivität vorliegen. ADHS ist ein Verhaltensmuster, das Probleme auslöst. Wenn Kinder und Jugendliche zappelig sind, unaufmerksam und impulsiv, aber keinerlei Einschränkungen im Alltag haben, liegt nach der ICD-11 keine Störung vor. Wir finden allerdings nicht mit neurobiologischen Methoden einen Biomarker, anhand dem wir ablesen können, ob eine Person ADHS hat. ADHS ist eine erbliche Erkrankung, das bedeutet, Erbfaktoren spielen eine große Rolle, aber nicht ausschließlich. Aus Zwillingsstudien wissen wir: Wenn ein eineiiger Zwilling ADHS hat, erkrankt der andere in 80 Prozent der Fälle auch daran. Anders sieht es bei zweieiigen Zwillingen aus: Da kommt die gleichsinnige Betroffenheit nur in 30 Prozent der Fälle vor. Das heißt: Gene spielen eine Rolle, aber sie stehen in Wechselwirkung mit der Umwelt.
Was können das für Umwelteinflüsse sein?
Das können zum Beispiel Alkohol und Nikotin in der Schwangerschaft sein. Wir wissen auch, dass die Einnahme von Paracetamol, Schwangerschaftsdiabetes und Komplikationen bei der Geburt das Risiko des Kindes erhöhen, eine ADHS zu entwickeln. Wenn wir diese Kinder untersuchen, finden wir Veränderungen in der Struktur und in den Funktionen des Gehirns. Man darf sich das jedoch nicht als Pathologien wie etwa nach einem Unfall vorstellen, sondern das sind subtile Abweichungen.
Warum ist bei ADHS das Frontalhirn so wichtig?
Das Frontalhirn steuert unser Verhalten, kontrolliert unsere Impulse. Was letztlich im Stirnlappen passiert, ist entscheidend für unsere soziale Interaktion, dafür, wie wir Handlungen planen und die Impulskontrolle organisieren. Man kann sagen, es ist eine Art Steuerorgan in unserem Gehirn. Andere Hirnbereiche wie der Parietallappen sind dabei involviert in Funktionen, wie wir unsere Aufmerksamkeit im Raum aktivieren. Trotz vieler Forschungen konnte immer noch nicht ein Kerndefizit im Gehirn identifiziert werden. ADHS ist eine komplexe, multifaktorielle Erkrankung und Entwicklungsstörung.
Die Symptomatik von ADHS ist individuell ausgeprägt. Woran können wir dennoch erkennen, ob ein junger Mensch und ein Erwachsener von ihr betroffen ist?
Historisch betrachtet, sprach man lange Zeit von einer Hyperkinetischen Störung. Das zeigt, dass die Hyperaktivität im Vordergrund stand. Im Lauf der Forschung ist immer deutlicher geworden, dass die Hyperkinetische Störung und ADHS ein Phänomen sind. Doch ein Symptom, das bereits vorher auftritt, ist die Konzentrationsstörung beziehungsweise das Aufmerksamkeitsdefizit. In der Indikation unterscheidet man drei Subtypen: Personen mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom und Personen, die mehr oder weniger impulsive und hyperaktive Symptome aufweisen. Zur dritten, kleineren Gruppe gehören Personen mit ebenfalls hyperaktivem und impulsivem Verhalten. Wenn man die über einen längeren Zeitraum beobachtet, rutschen deren Mitglieder nahezu alle in das Vollbild rein. In stark betroffenen Familien beispielsweise gibt es solche Kinder, die nur dem Subtyp des Unaufmerksamen entsprechen und wiederum andere, die nur sehr hyperaktiv sind. Die ADHS ist also ein Dach über den verschiedenen Ausprägungen der Erkrankung.
Laut dem Diagnostiksystem für psychische Störungen (DSM-5) sind etwa zweieinhalb Prozent der erwachsenen Allgemeinbevölkerung betroffen. Einer weiteren repräsentativen Studie zufolge sind knapp fünf Prozent der erwachsenen Deutschen von ADHS betroffen. Ergeben diese Zahlen ein vollständiges Bild der Inzidenz?
Aus verschiedenen Gründen weichen die Zahlen voneinander ab. Das DSM ist ein wenig abweichend von unserem System. In Zusammenarbeit mit dem Robert-Koch-Institut haben wir eine große repräsentative Studie umgesetzt. Zum einen kann man zählen, wie viele behandelt wurden, wobei man auf Daten der Krankenversicherungen zurückgreift. Auch kann man darauf schauen, wie oft in der Bevölkerung berichtet wurde, dass die Diagnose ADHS gestellt worden ist. Auffallend dabei ist, dass weniger Eltern von der Diagnose ihres Kindes berichten, als bei den Krankenkassen gemeldet wurden. Ein Drittel der Eltern gibt die Diagnose aber nicht wieder. Über den Grund dafür können wir nur spekulieren, möglicherweise entweder aus Unkenntnis oder weil sie die Diagnose ablehnen. Die zuverlässigste Quelle sind populationsbasierte epidemiologische Studien. Danach sind etwa fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen betroffen. Weltweit beträgt die Prävalenz – errechnet auf der Basis von Metaanalysen über die verschiedenen Kulturen hinweg – 5,3 Prozent.
Heißt das, man kann nicht von einer Trend- oder Modeerkrankung sprechen?
Die Diagnose wird häufig gestellt, aber nicht häufiger als sie in der Bevölkerung tatsächlich vorkommt. Wenn man die Eltern von Kindern und Jugendlichen mit ADHS befragt, was das RKI in der KiGGS-Studie über Jahre machte, sind die Raten sogar auf 3,9 Prozent gesunken. Manche Zahlen sind auch rückläufig, was eigentlich nicht erklärbar ist.
Und was ist mit der ADHS im Erwachsenenalter?
ADHS ist eine Entwicklungsstörung, Jungen sind zwei- bis dreimal öfter betroffen als Mädchen. Das Verhältnis gleicht sich bis ins Erwachsenenalter wieder aus. Wir sehen, dass sich die Symptomatik über die Zeit verändert. Vor allem nehmen Hyperaktivität und Impulsivität ab, die Aufmerksamkeitsstörung ist hingegen stabiler. Trotzdem kann man sagen, dass die Hälfte der betroffenen jungen Menschen die Symptomatik bis ins Erwachsenenalter behält, und die andere Hälfte sie verliert. Wenn man nach der Häufigkeit von ADHS fragt, muss man nach Altersgruppe und Zeitpunkt differenzieren.
Wie stellen Sie als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, der aktuell an der Überarbeitung der S3-Leitlinie „ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen“ mitarbeitet, die Diagnose „ADHS“?
Das ist eine klinische Diagnose – ebenso wie bei Depression und Schizophrenie. Es gibt jedoch keinen Biomarker bei psychischen Erkrankungen. Wir sehen Verhaltensmuster, die wir systematisch erfassen müssen. Zuerst machen wir eine Anamnese, um zu sehen wie sich die ADHS entwickelt hat. Anhand von standardisierten Befragungen mit dem betroffenen Kind, deren Eltern, Lehrkräften und anderen Betreuungspersonen. Zudem führen wir klinische Interviews, in denen wir andere Störungsbereiche abfragen, um Verwechslungen auszuschließen. Mithilfe der psychologischen Testdiagnostik untersuchen wir den IQ des Kindes, wobei verschiedene kognitive Bereiche untersucht werden. Außerdem machen wir Aufmerksamkeits- und Verhaltenstests. Wir wollen verstehen, ob die Symptomatik in einem Bereich sehr eng umschrieben ist oder ob sie situations- und zeitübergreifend ist. Des Weiteren stehen körperliche Untersuchungen an, um mögliche andere Erkrankungen, die eine solche Symptomatik imitieren kann, auszuschließen.
Über die Frage, was für die Störung ursächlich verantwortlich ist, wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Worum geht es dabei?
In der Diskussion geht es darum, ob ADHS eher biologische oder psychosoziale Ursachen hat. Man muss ganz klar sagen: Ob ein Kind von ADHS betroffen ist oder nicht, ist bei der Geburt entschieden. Wie die ADHS sich ausprägt, wie das Kind sie kompensieren kann, wie es im Alltag zurechtkommt und welche Folgeprobleme es möglicherweise entwickelt, kann durch psychosoziale, familiäre Faktoren beeinflusst werden. Eben diese Einflussfaktoren sind zentraler Bestandteil der Verhaltenstherapie und Psychoedukation. Allerdings kann man dadurch die biologische Disposition nicht wegdiskutieren.
Welche Therapiemöglichkeiten empfehlen Sie den Betroffenen?
Wenn eine ausgeprägte ADHS-Symptomatik mit erheblichen Einschränkungen vorliegt, werden die Kernsymptome, also Hyperaktivität, Impulsivität und Konzentrationsstörungen, mit Medikamenten exzellent positiv beeinflusst.
Welche Medikamente sind das?
Im Wesentlichen ist das Ritalin, Stimulanzien, die den Stoffwechsel im Gehirn erhöhen und die Kontrollfähigkeiten im Gehirn verbessern. Kinder können sich besser konzentrieren und fokussieren, länger still sitzen und ihr Verhalten besser regulieren. Verhaltenstherapie hat hingegen auf die Kernsymptome kaum Einfluss. Die Studien dazu sind da unzweideutig. Die Verhaltenstherapie kann Probleme, die infolge von ADHS auftreten sehr gut beeinflussen, das heißt dadurch können sich etwa Familienklima, Erziehungsverhalten, schulische Motivation und Sozialverhalten verbessern. Klar ist auch: Jedes betroffene Kind braucht einen individuellen Behandlungsplan, man spricht daher auch von einer multimodalen Behandlung.
ADHS ist nicht heilbar, das heißt, jeder ADHSler muss mit dieser Störung leben und sollte versuchen sie anzunehmen. Hat das Bewusstsein für Neurodiversität dazu beigetragen, ADHS bekannter zu machen?
Ich mag nicht den Begriff „Neurodiversität“, er ist kein medizinischer Fachterminus. Der Begriff kann auf der einen Seite Verständnis fördern, auf der anderen verharmlost er ADHS in vielerlei Hinsicht. Wir wissen, welche Auswirkungen ADHS haben kann: Wir sehen, dass ADHS assoziiert ist mit einer Zunahme an weiteren psychischen Erkrankungen im Entwicklungsverlauf. So sehen wir, dass das Risiko für Depression und Suizid drastisch erhöht ist. Eine kürzlich veröffentlichte Studie zeigt, dass Menschen mit ADHS Jahre früher sterben als Menschen ohne ADHS. Auch sind die psychosozialen Belastungen höher, etwa infolge von Arbeitsplatzverlust, Suchterkrankungen, Schwangerschaftsabbrüchen, finanziellen Problemen und Verkehrsunfälle. Wir sollten hierzulande die Versorgung für die Betroffenen verbessern.
Inwiefern sollte sich aus Ihrer Sicht die Versorgung verbessern?
Ich glaube, es ist allgemein bekannt, dass die Therapieplätze knapp und die Praxen und Kliniken voll sind. Die Kinder kommen zwar in der Regel in einer akzeptablen Zeit in die Diagnostik und Therapie. Aber im Kinder- und Jugendbereich fehlt es an einer kontinuierlichen Therapie. Das bedeutet, man muss an den betroffenen Familien dran bleiben. Untersuchungen in den USA haben gezeigt, dass von zehn Menschen, denen ein Medikament verschrieben wurde, nach einem Jahr nur noch einer die Medikamenteneinnahme fortsetzt. Das große Problem ist die Adhärenz, das heißt, inwiefern die Betroffenen bereit sind, an einer Therapie langfristig dran zu bleiben. Im Erwachsenenbereich sind die Probleme noch viel größer, weil nur ganz wenige Psychiater die Diagnostik anbieten und die Wartezeiten auf eine therapeutische Behandlung absurd lang sind. ADHS im Erwachsenenalter wurde lange überhaupt nicht wahrgenommen. Daher brauchen wir hier einen Perspektivwechsel.
Trotz günstiger Medikamenteneinnahme und psychologischer Unterstützung erleben die Betroffenen ein ständiges Auf

und Ab. Welche Rolle spielt dabei Psychoedukation, wenn es für die Betroffenen darum geht, Alltag und Berufsleben zu meistern?
Der Alltag der Betroffenen wird vor allem durch die Impulsivität erschwert. Es kann furchtbar frustrierend sein, wenn Erreichtes durch das eigene Verhalten wieder einstürzt, wenn zum Beispiel Beziehungen scheitern. Psychoedukation und das Wissen um das eigene Verhalten kann dabei helfen, sich auf die positiven Aspekte von ADHS zu fokussieren. Ideenreichtum, Spontaneität und Kreativität und eine gewisse Unternehmungslust gehören dazu. Für die Betroffenen ist das manchmal eine lebenslange Aufgabe.
Wenn Sie auf die aktuelle ADHS-Forschung blicken: Wo sind bislang noch Lücken, und wo müsste intensiver geforscht werden?
Die Forschung tendiert sehr stark dazu, wie effizient wir nicht nur Therapien entwickeln, sondern auch in die Fläche bringen und festigen. Andererseits geht die Forschung nach den Ursachen von ADHS weiter. Wir haben viel verstanden von der Neurobiologie der ADHS, aber wir haben noch kein kohärentes Bild. Das kann mit der Komplexität zusammenhängen und damit, dass uns für manche Fragestellungen die geeigneten Methoden fehlen. Unser Blick ins Gehirn ist begrenzt, das, was wir suchen, können wir womöglich mit den bisherigen Methoden nicht sehen.