Agit Kabayel kann als zweiter deutscher Profi-Boxer den Weltmeister-Gürtel im Schwergewicht gewinnen. Die Chancen des Bochumers hängen allerdings auch von den Ränkespielen der internationalen Verbände ab.

Kirmesboxer haben landläufig einen Ruf als rohe und mitunter auch primitive Schlägertypen. Vertreter der edleren, weil regulierten Kunst des Faustkampfes im Seilgeviert weisen seit vielen Jahren schon in aller Regel höchstens nur noch allerkleinste Gemeinsamkeiten mit den wilden Raufbolden auf Jahrmärkten und Volksfesten auf. Umso mehr gleicht der Aufstieg der deutschen Hoffnung Agit Kabayel einem Boxer-Märchen. Als Teenager aus kleinbürgerlichen Verhältnissen begann der Schwergewichtler aus Bochum-Wattenscheid seine Karriere vor rund 15 Jahren tatsächlich auf einem Rummelplatz als talentierter Schaubudenboxer und kann sich in der millionenschweren Glitzerwelt des internationalen Boxsports mittlerweile durchaus realistische Hoffnungen auf einen Kampf um den bedeutendsten aller Weltmeister-Titel machen. Immerhin darf sich Kabayel seit seinem K.o.-Sieg im vergangenen Februar in Riad gegen den Chinesen Zhang Zhilei offiziell bereits Interims-Weltmeister des Weltverbandes WBC nennen.
So sehr auch dieser Gürtel natürlich glänzt, so wenig zählt das künstliche Weltmeister-Branding am Ende in der Branche: Kabayel ist zwar nun nominell der erste Herausforderer des langjährigen Dominators Alexander Usyk – mehr als einen Anspruch auf einen Titelkampf hat der 32-Jährige aber erst einmal nicht. Denn ob Usyk seine Titelsammlung – der Ukrainer hält auch die Titel der Verbände WBA, WBO und IBO – auf der Zielgeraden seiner mit 38 Jahren allmählich ausklingenden Laufbahn gegen den international immer noch recht unbekannten „Underdog“ aus Deutschland aufs Spiel setzen will, steht noch in den Sternen.
Nicht zuletzt ist das Ansetzen eines solchen Kampfes eine Frage des Geldes. Vor diesem Hintergrund verspricht momentan eine zweite Auflage des Duells zwischen Usyk und dem britischen IBF-Champion Daniel Dubois allen Beteiligten – besonders dem saudi-arabischen Strippenzieher Turki al-Sheikh – den größten Schnitt.
„Nicht die richtige Weltmeisterschaft“

Kabayel, der gegen „Big Bang“ Zhang auch in seinem 26. Profi-Kampf (davon 18 durch K.o.) unbesiegt blieb, schätzt seine derzeitige Ausgangslage bei allem Erfolgs- und Titelhunger nüchtern ein: „Ehrlicherweise bedeutet die Interims-WM für mich noch nicht die richtige Weltmeisterschaft. Auch wenn das mein ganz großes Ziel ist. Ich denke, dass es erst den großen Vereinigungskampf von Usyk und Dubois geben wird. Aber danach bin ich dran, danach muss ein WM-Kampf für mich kommen, denn ich bin die Nummer eins der WBC.“
Sollte sein großer Traum tatsächlich in Erfüllung gehen, würde Kabayel als erst vierter Deutscher überhaupt nach der Krone aller Klassen greifen. In der Vergangenheit jedoch waren die Fußstapfen des verstorbenen Idols Max Schmeling, der 1930 und 1931 als bisher einziger Deutscher den Titel im Schwergewicht gewinnen konnte, sowohl in den 60er-Jahren für Karl Mildenberger als auch in den 90er-Jahren in gleich drei Anläufen für Axel Schulz zu groß.

Kabayel boxte sich immerhin beharrlich durch – und hoch. Ein Video vom imponierenden Kampf des Sohnes kurdischer Einwanderer auf einer Kirmes weckte die Aufmerksamkeit des Wuppertaler Boxtrainers Sükrü Aksu für das leicht erkennbare Talent mit dem großen Kämpferherzen. Nur ein Jahr später bestritt Kabayel seinen ersten Profi-Kampf, drei Jahre später gab der gebürtige Leverkusener den Sparringspartner für Box-Stars wie Anthony Joshua und Tyson Fury. „Da“, blickt Kabayel auf ebenfalls typisch selbstbewusste Weise auf eine Schlüsselerfahrung seiner Karriere zurück, „da habe ich gemerkt, dass ich noch viel zu lernen habe, aber auch, dass die Weltspitze für mich nicht unerreichbar ist.“
Kampf für Kampf, die ersten trotz Profi-Labels noch ohne Börse, holt sich der Rohdiamant seinen Schliff und schlug sich seinen Weg nach oben immer vielseitiger frei. Trotz fehlender Härte in seinen Schlägen vermag der frühere Europameister mit seiner linken Geraden Kontrolle über das Geschehen im Ring auszuüben. Neben der Schnelligkeit seiner Schläge zeichnen Kabayel außerordentliche Fähigkeiten im Nahkampf aus – etwa seine auf langfristige Schwächung des Gegners zielenden Leberhaken, die dem Linksausleger seinen Kampfnamen „Liver-King (Leber-König)“ einbrachten.

mit dem WM-Titel im Schwergewicht - Foto: picture alliance / SZ Photo
Sein Manager Spencer Brown preist Kabayels Qualitäten sogar beinahe schon marktschreierisch an. „Agit hat etwas Besonderes und ist ein außergewöhnlicher Boxer. Er ist mit seinen 1,91 Metern kein riesiger Schwergewichtler, aber er hackt seine Gegner regelrecht klein, bricht ihre Herzen, ist ein unerbittlicher Puncher und hat ein Kinn aus Eisen. Er ist zäh und hat Durchhaltevermögen. Alles zusammen macht ihn für jeden zu einem Albtraum“, sagt der langjährige Berater von Ex-Champion Fury.
Für eine Verbesserung von Agit Kabayels Vermarktungschancen – nicht nur, aber sicherlich auch für den Fall des erhofften Titelkampfes, zu dem es kommen könnte – hat Brown eine Imagekorrektur eingeleitet und diese in Riad nach dem Erfolg seines Schützlings umgehend aufs Gleis gesetzt. „Man hat ja gesehen, dass er Bäume umhauen kann. Deswegen nenne ich Agit jetzt ‚Holzfäller‘. Das ist jetzt sein Spitzname: ‚The Lumberjack‘.“
Er hatte keine einfache Jugend

Kabayels Triebfeder für seinen Vormarsch sind sicherlich auch die Lebensumstände, die ihn in seiner Kindheit und Jugend geprägt haben. Die gesamte Familie lebte zunächst im Hinterzimmer des elterlichen Döner-Imbisses, später teilte sich die sechsköpfige Familie nach dem Einzug in eine Zwei-Zimmer-Wohnung für die Nacht einen einzigen Schlafraum. Kabayel widerstand in diesen Jahren dem Negativsog, der in einer Mischung aus Perspektivlosigkeit und sozialem Niedergang nur allzu oft geradewegs in die Kriminalität hätte führen können. „Er kommt“, bemüht Spencer ein cineastisches Boxer-Klischee zur Charakterisierung seines Klienten, „aus einer Gegend wie ‚Rocky‘, wo sie sich aus dem Nichts nach oben arbeiten.“
Kabayels Erinnerungen klingen ganz ähnlich: „Es waren gemischte Zeiten“, erinnert sich der ehemalige Jugendfuß-baller. „Freunde von mir sind Ärzte oder Anwälte geworden. Andere Freunde aber sind auch für bis zu acht Jahre in den Knast gewandert. Es war so: Mit einem Fuß kannst Du in Gold treten, mit dem anderen in die Scheiße. Mich hat der Sport von der Straße ferngehalten.“
Entscheidenden Anteil an Kabayels günstiger Entwicklung misst der frühere Kickboxer selbst seinem einstigen Trainer Sükrü Aksu bei: „Er war einer der Ersten, die an mich geglaubt haben. Er wusste schon in meinem jungen Alter, dass ich das Potenzial habe, ganz groß zu werden.“ Auf den ganz großen Kampf, den ganz großen Ruhm und nicht zuletzt die vierte Millionenbörse in seiner Karriere muss Agit Kabayel allerdings, wie schon nach dem Sieg gegen Zhang Zhilei vermutet, voraussichtlich noch einige Monate warten. Hinter den Kulissen verdichteten sich einen Monat nach Kabayels Erfolg am Golf die Anzeichen für Usyks nächsten Kampf gegen einen lukrativeren Kontrahenten.

„Wir müssen abwarten, Tee trinken und sehen, wie die Würfel fallen“, kommentierte Kabayel den Trend: „Ich rechne auch nicht damit, dass der WBC Druck auf Usyk aufbaut, um den Titel gegen mich zu verteidigen.“
Vielmehr brachte WBC-Präsident Jose Sulaiman einen Überbrückungskampf für Kabayel ins Gespräch. „Agit hat den Interims-Titel, den er verteidigen kann“, meinte der Mexikaner und nannte die Ex-Weltmeister Fury, Deontay Wilder und Joshua als mögliche Gegner.
Nach Furys Rücktritt allerdings kommt aus Kabayels Sicht in sportlicher Hinsicht lediglich ein Fight gegen Joshua in Betracht. „Das ist durchaus sinnvoll. Es würde mir Spaß machen, gegen AJ zu boxen, da könnte ich mich sportlich messen, ob ich mit AJ in einer guten Verfassung klarkomme“, meinte der Usyk-Herausforderer im Wartestand. Wilder hingegen ist nicht mehr erste Wahl für den möglichen Champion in spe: „Wir müssen uns sportlich schon Richtung Weltmeisterschaft orientieren.“ Wann immer der Titelkampf auch stattfinden mag.