Alpin-Deutschland freut sich über ein Riesentalent. Emma Aicher beweist in diesem Winter, dass in ihr Siegpotenzial schlummert. Die Allrounderin bringt auch Maria Höfl-Riesch ins Schwärmen.

Emma Aicher steht viel lieber auf der Piste als im Rampenlicht. Wenn sie auf Skiern den Abhang runterrast, ist die 21-Jährige ganz in ihrem Element und strotzt nur so vor Selbstvertrauen. Gibt sie danach Interviews, ist davon nur wenig zu spüren. Wortkarg, ja fast schon schüchtern gibt die Skirennfahrerin Antworten auf selbst die unverfänglichsten Fragen. Zu beobachten war das auch bei einem TV-Interview während der Olympischen Spiele 2022 in Peking, als Aicher nach ihrem ersten Lauf von ZDF-Reporterin Lena Kesting gefragt wurde, was Teamkollegin Lena Dürr ihr aus dem Tal an Informationen hochgefunkt habe. Dürr war als Erste gestartet und sehr flott unterwegs gewesen. Aicher schien mit der Frage etwas überfordert, denn sie schwieg zunächst. Kesting schlug Aicher vor, auf Englisch zu antworten, falls das für sie angenehmer sei. „Nee, ich kann mich nur einfach nicht dran erinnern. Alles ein bisschen vergessen“, entgegnete die gebürtige Schwedin, die die Journalisten auch gerne mal mit „Ja“- oder „Nein“-Antworten ratlos zurücklässt.
Lieber auf der Piste als im Rampenlicht
Zuletzt konnte Aicher die ungeliebte Öffentlichkeitsarbeit wieder üben, denn sie stand extrem im Mittelpunkt, und ihre Aussagen waren bei Reportern stark gefragt. Beim Super-G-Rennen in La Thuile holte sie ihren zweiten Weltcup-Sieg, nachdem sie anderthalb Wochen zuvor schon im norwegischen Kvitfjell in der Abfahrt triumphiert hatte. Die Deutsche profitierte zwar von einer niedrigen Startnummer und der nachlassenden Qualität auf der Piste im Aostatal. Doch ein erneuter Zufall war ihr Sieg vor den Italienerinnen Sofia Goggia und Federica Brignone keineswegs. Emma Aicher ist in der Weltspitze angekommen. Alpin-Deutschland freut sich über ein Ausnahme-Talent, das aktuell eine Entwicklung zur Siegfahrerin nimmt.
„Ich behaupte, Emma wird eine Rakete.“ Das hatte der deutsche Cheftrainer Andreas Puelacher schon vor Aichers Premierensieg in Kvitfjell prophezeit. Dass sie dort dann tatsächlich den ersten deutschen Abfahrtssieg im Weltcup seit den inzwischen zurückgetretenen Thomas Dreßen und Viktoria Rebensburg im Februar 2020 feierte, war ein Paukenschlag. „Unglaublich. Ich gönne es ihr von Herzen“, sagte Kira Weidle-Winkelmann. Die Vizeweltmeisterin von 2021 meinte gar, sie könne sich von der acht Jahre jüngeren Teamkollegin „inspirieren lassen“. Weidle-Winkelmann selbst fuhr in diesem Winter ihren eigenen Ansprüchen oft hinterher, Lena Dürr (33) kann zumindest im Slalom immer mal wieder auf dem Podest landen.
Aber die schon jetzt größte deutsche Alpin-Hoffnung heißt Emma Aicher. „Es ist ein Traum, darauf arbeitet man die ganze Zeit hin. Ich bin sehr glücklich“, sagte die Wahl-Berchtesgadenerin nach ihrem ersten Podestplatz in Norwegen Ende Februar. „Es hat mich schon ein bisschen überrascht, aber es ist cool, dass es geklappt hat.“ Dass der Deutsche Ski-Verband (DSV) da einen Rohdiamanten in seinen Reihen hat, ist längst bekannt. Schon 2021 wurde Aicher für das deutsche Team nominiert, das im Olympiaort Cortina d’Ampezzo WM-Bronze gewann. Ein Jahr später wurde Aicher in Peking mit Olympia-Silber im Mannschafts-Wettbewerb dekoriert. Doch der Durchbruch als Einzelsportlerin gelang ihr in diesem Winter.

Schnell, mutig und technisch elegant war Aicher schon früher unterwegs gewesen – nur oft nicht fehlerfrei. Immer wieder stand in den Ergebnislisten ein „DNF“ hinter ihrem Namen: „Did Not Finish“ (Hat das Rennen nicht beendet). „Aber ja, man lernt immer daraus. Deswegen sage ich, das kann man mitnehmen, und daraus kann man lernen“, sagte Aicher. Und das tat sie. „Wenn ich sie hier fahren sehe, bin ich das erste Mal überzeugt, dass sie den Abfahrtssport einigermaßen kapiert hat“, sagte DSV-Sportvorstand Wolfgang Maier während der Weltmeisterschaft in Saalbach-Hinterglemm. Dort landete Aicher im Super-G und in der Abfahrt auf einem guten sechsten Platz. „Ich hatte kein einziges Mal das Gefühl, dass sie irgendwo rausfliegt oder ihre Siebensachen nicht beieinander hat“, sagte Maier. „Und jetzt versteht auch die Emma langsam, was ihr die Trainer versuchen beizubringen.“ Doch zu viel Kontrolle schade bei Aicher. Sie sei eine „intuitive Skifahrerin“, meinte der DSV-Sportvorstand, „die sehr aus dem Gefühl heraus lebt, die nicht zu Tode korrigiert werden muss“.
„Ich bin sehr entspannt“
Im deutschen Lager gibt man ihr die Freiheiten, die sie für ihre Entwicklung braucht. Aicher könnte auch für den schwedischen Verband an den Start gehen, ihre Mutter Viktoria ist Schwedin, und sie selbst ist im schwedischen Sundsvall geboren und aufgewachsen. Zur Saison 2020/21 wechselte sie aber zum DSV, was ihr deutscher Vater Andreas damals mit den besseren Trainingsmöglichkeiten in den Alpen begründet hatte. Zuvor hatte sie mit ihrer Familie im Schweizerischen Engelberg gelebt und beim dort beheimateten Skiclub trainiert. Die Frage, was an ihr schwedisch und was deutsch ist, wird Emma Aicher oft gestellt. „Ich würde sagen, ich bin sehr entspannt, und das ist eher schwedisch“, antwortete sie lachend darauf in einem Sport1-Interview: „Manche Deutsche sind einfach, wie soll ich sagen, deutsch. Es macht mir nichts aus, wenn jemand fünf Minuten zu spät kommt. Meine Trainer zum Beispiel hätten es lieber, wenn ich fünf oder zehn Minuten früher da wäre.“
Steht sie auf Skiern, ist ihr Eifer ungebremst. Aicher will immer und überall Rennen fahren. Sie wurde beim DSV als Allrounderin ausgebildet, die in den technischen wie auch den schnellen Disziplinen fährt. Eine Strategie, die angesichts der zunehmenden Spezialisierung in der Sportart nicht unumstritten ist. Aicher geht im Weltcup in allen vier Disziplinen Abfahrt, Super-G, Riesenslalom und Slalom an den Start – als einzige Athletin. Eine Entscheidung pro Speed- oder pro Technik-Disziplinen steht aktuell nicht auf dem Plan. „Ich mag Skifahren. Ich mag es, alle Disziplinen zu machen. Ich mag die Abwechslung“, begründete Aicher ihre Vielstarts. „Ich mag es, am Start zu stehen, einfach nur Ski zu fahren und Spaß zu haben.“

Auch bei der WM hat sie alle Rennen bestritten und war dadurch in den zwei Wettkampf-Wochen einer enormen Belastung ausgesetzt. Sie selbst nahm es aber gelassen: „Ist ja unter der Saison auch nicht anders. Ich glaube, ich bin ganz gut daran gewöhnt.“ Dennoch scheint auch die 21-Jährige am Limit ihrer Belastungsfähigkeit angelangt zu sein. Der Wettkampfkalender sei „schon sehr anstrengend“, sagte sie. „Ich bin dieses Jahr fast alles gefahren. Es ist schon machbar, und man kann sich ja auch selbst aussuchen, was man fahren will und was man nicht fahren will. Da muss man halt schauen, wie fit man ist. Aber mehr muss es auch nicht sein.“
Die Allrounder-Fähigkeiten könnten sich in naher Zukunft als absolut gewinnbringend herausstellen. Schon in dieser Saison ist Aicher im Gesamtweltcup um Platz 15 herum positioniert, der Gewinn der Kristallkugel ist „ein Traum, den ich am längsten habe“, sagte sie. Innerhalb des DSV ist die Hoffnung groß, dass Emma Aicher in die großen Fußstapfen einer Rosi Mittermaier, einer Katja Seizinger und einer Maria Höfl-Riesch treten kann. Sie alle haben für Deutschland den Gesamtweltcup gewonnen. „In vielen Dingen erinnert sie mich an mich selber“, sagte Höfl-Riesch im Interview der „Münchner Abendzeitung“: „Auch diese jugendliche Unbeschwertheit und Lockerheit! Da kann es dann schnell gehen.“ Aicher sei „ja noch jung, muss auch körperlich sicher noch einen kleinen Schritt nach vorne machen“. Das sei auch eine Parallele zu ihrer Karriere, meinte die dreimalige Olympiasiegerin. „In dem Alter war ich auch noch nicht bei den Allerfittesten dabei. Aber so etwas kommt dann im Laufe der Karriere. Wenn sie gesund bleibt, hat sie sicher noch Großes vor.“ Höfl-Riesch (40) ist sich bei Emma Aicher sicher: „Die macht ihren Weg schon.“
Auf die eigenen Instinkte hören

Druck will sich Aicher trotz des Vergleichs mit den ganz Großen ihres Sports nicht machen. „Ich versuche, nicht so viel darüber nachzudenken. Denn das macht mich nicht besser“, sagte die Hochgelobte. „Ich versuche einfach, mich auf mein Training und mein Skifahren zu konzentrieren. Aber ich bin sehr glücklich über die Unterstützung, die ich habe, und dass sie an mich glauben. Ich hoffe, dass ich eines Tages eine der Großen sein werde.“ Auf dem Weg dorthin will sie sich selbst treu bleiben. Das bedeutet auch, dass sie nicht jeden noch so gut gemeinten Ratschlag annehmen werde, sondern viel mehr auf ihre eigenen Instinkte hören wolle. „Mich kümmert es wirklich nicht, was andere über mich denken oder was sie mir sagen“, sagte sie einmal lächelnd über ihren Charakter. „Ich bin ziemlich gut, wenn es darum geht: ins eine Ohr rein, ins andere raus.“ Die Erwartungshaltung von außen sei ihr „ziemlich egal“, sagte Aicher. „Ich selber habe aber schon hohe Erwartungen an mich selbst. Ich versuche, mein Bestes zu geben, und hoffentlich reicht es dann auch so weit, wie ich es will.“ Höfl-Riesch ist jedenfalls von Aichers Stärke begeistert: „Sie ist, glaube ich, mental wirklich stark, zumindest total locker drauf, macht sich offenbar nicht viele Gedanken, fährt einfach drauflos.“
Die Experten sind sich einig, dass Emma Aicher im Skisport alle Türen offen stehen – solange der Klimawandel die Sportart nicht existenziell bedroht. „Klar, man macht sich schon Sorgen, weil es wird schon weniger Schnee“, sagte Aicher. Den Rennkalender könne man ihrer Meinung nach „an die Jahreszeiten ein bisschen mehr anpassen“. Ein Start in Skandinavien sei zum Beispiel angebracht. „Es macht keinen Sinn irgendwo hinzufahren, wo es vielleicht keinen Schnee gibt. Aber es wird daran gearbeitet, dass es vielleicht eine Änderung gibt. Es wird auf jeden Fall versucht.“ Für die sonst so wortkarge Emma Aicher war das eine sehr ausführliche Antwort.