Manchmal ist ein Schritt zurück der entscheidende. So bei Nadiem Amiri, der dadurch sogar nach fünf Jahren den Weg zurück in die Fußball-Nationalmannschaft fand.

Im Januar 2024 wurde Nadiem Amiri wohl mehrfach gefragt, wie er auf eine solch seltsame Idee komme. Nach viereinhalb Jahren verließ er Bayer Leverkusen ausgerechnet am letzten Tag der Winter-Transferperiode der Saison, in der die Werkself auf dem besten Wege zum erlösenden ersten Meistertitel war. Ein halbes Jahr vor dem Titel und in letzter Konsequenz sogar dem Double. Obwohl Amiri vier Tage zuvor erstmals in der Startelf gestanden hatte. Und dann ging er auch noch zum FSV Mainz 05, der knietief im Abstiegs-Schlamassel steckte. Die „Bild“-Zeitung titelte: „Bundesliga-Star packt aus: Darum wollte ich nicht Meister werden“.
Was Amiri so natürlich nicht gesagt hat. Doch rund 14 Monate später hat er diese ungewöhnliche Entscheidung nicht nur nie bereut. Es war am Ende die entscheidende Wende in seiner Karriere. „Es war die richtige Entscheidung, nach Mainz zu gehen“, sagte kürzlich auch Bundestrainer Julian Nagelsmann, als er Amiri erstmals seit fast fünf Jahren für die Nationalmannschaft berief.
Die entscheidende Wende in seiner Karriere
Hinter der auf den ersten Blick so ungewöhnlichen Entscheidung steckte natürlich eine Entwicklung. Unter Trainer Peter Bosz hatte der Deutsch-Afghane trotz erstaunlich weniger Torbeteiligungen nicht nur nach eigener Auskunft „zweieinhalb gute Jahre“ in Leverkusen gehabt. Unter Bosz’ Nachfolger Gerardo Seoane hatte er dann einen schwereren Stand. Was auch daran lag, dass Bayer gerade ein offensives Ausnahmetalent namens Florian Wirtz verpflichtet hatte. Amiri ließ sich zum FC Genua ausleihen, kam zurück und nahm einen neuen Anlauf. Doch sowohl unter Seoane als auch später unter Xabi Alonso eroberte er den Stammplatz nicht zurück. Was bei Alonso auch taktisch bedingt war. Im zentral defensiven Mittelfeld bevorzugte dieser körperlich robuste Spieler wie Granit Xhaka oder Robert Andrich. Auf den offensiven Außenbahnen liebte er schnelle Spieler wie Jeremie Frimpong. Zentral offensiv hatte Wirtz alle Freiräume. Und die von Amiri so geliebte Acht gab es meist nicht. In der Hinrunde der vergangenen Saison kam er zwar zu sieben Einsätzen in der Bundesliga, aber immer so kurz vor Schluss, dass sich diese auf ganze 14 Spielminuten summierten. In der Europa League war er gar nicht erst gemeldet worden.
So konnte Amiri auch das Startelf-Debüt gegen Gladbach nicht von seiner Entscheidung abhalten. Und auch die bevorstehende Meisterschaft war kein Lockmittel mehr. „Meine Einstellung im Fußball ist, dass es um einen selbst geht“, sagte er der „Sport Bild“. „Wenn ich nicht meinen Teil dazu beitragen kann, dann kann ich eine mögliche Meisterschaft auch nicht so feiern wie die Spieler, die oft spielen. Daher war für mich klar, wenn etwas Gutes kommt, wo ich spüre, dass das der richtige Schritt ist, werde ich es machen.“ Er sei „nicht mehr so glücklich“ gewesen, „und das habe ich auch in meinem Privatleben gemerkt. Das lag vor allem daran, dass ich nicht gespielt habe. Über die Siege mit Leverkusen konnte ich mich für die Mannschaft freuen, aber nicht mehr richtig für mich selbst. In Mainz wurde ich gebraucht.“ Hinzu kam: „Mit dem Wechsel bin ich außerdem nach Hause gekommen, wohne jetzt wieder in meiner Heimat Ludwigshafen. Das ist eine Autostunde von Mainz entfernt.“
„Nicht mehr so glücklich“

Und auch für Mainz eine goldrichtige Wahl. Denn mit dem Stammspieler Amiri schafften die 05-er nach einer großen Aufholjagd den euphorisch gefeierten Klassenerhalt. Und als Fan verfolgte Amiri auch den Double-Gewinn seiner Ex-Kollegen in Leverkusen. „Ich fühle mich immer als Teil davon“, sagte er: „Es fühlt sich für mich auch an wie eine Meisterschaft.“ Wegen der Einsätze darf er sich auch offiziell Double-Sieger nennen.
Das Kuriose: Seine Wunschposition bekam Amiri auch in Mainz nicht. Der neue Trainer Bo Henriksen nahm ihn sich bald zur Seite und erklärte ihm, dass er ihn als Sechser sehe. Weil er ballsicher sei und dort viel den Ball habe und das Tempo und den Rhythmus bestimmen könne. „Ich habe ein, zwei Spiele gebraucht, um ein besseres taktisches Gefühl für die Position zu entwickeln“, sagte Amiri schon kurz darauf: „Mittlerweile fühle ich mich sehr wohl in der Doppelsechs. Es ist sogar meine neue Lieblingsposition geworden.“
Auf der er dann komplett durchstartete. An den ersten 26 Spieltagen stand er trotz dreier verpasster Spiele wegen zweier Sperren sechsmal in der „Elf des Tages“ des Fachblatts „Kicker“. Mehr Nominierungen bekamen nur Harry Kane (8) und Omar Marmoush (9).
Er stand immer in der Startelf, war an neun Toren direkt beteiligt und führte das Team viermal als Kapitän aufs Feld. Und vor allem: Die Mainzer standen auf Rang drei und dürfen von der erstmaligen Qualifikation für die Champions League träumen.
Seine eigene Entwicklung und die des Clubs macht Amiri vor allem an Henriksen fest. Der Däne bringe „brutal viel Energie rein, ist fachlich überragend und menschlich auch top“. Er habe ein „total sauberes und ehrliches Herz. Das ist Gold wert in diesem Geschäft.“ Zudem sei „die Energie, die er jeden Tag bringt, unbeschreiblich. Wie kann ein Mensch jeden Tag so positiv gestimmt sein?“ Das helfe vor allem ihm: „Ich bin vor Spielen immer ein wenig angespannt, sonst kann ich nicht performen. Wenn du einen Trainer hast, der so locker ist wie Bo, nimmt dir das total viel Druck ab. Dann siehst du alles nur noch positiv und bist sicher, dass du gewinnst.“

Henriksen merkte sogar, dass Amiri nach der Geburt seines zweiten Kindes Ende Oktober an Schlafmangel litt und sprach ihn offen drauf an. „Ich hatte drei Wochen, in denen ich deswegen nicht wie gewohnt performen konnte. Ich war wirklich am Limit“, sagte Amiri. „Bo hat mich während eines Trainings gerufen und gesagt: ‚Du brauchst Hilfe zu Hause.‘“ Amiri sprach mit seiner Frau. Er geht nun schon immer am Donnerstag vor den Spielen ins Hotel, dafür kommt dann seine Mutter nach Hause zur Hilfe. „Das ist Wahnsinn, was die beiden leisten.“ Das zeigt wieder einmal, dass Sportler mit einem intakten Familienleben erfolgreicher sind. Henriksen empfahl Amiri übrigens schon im August wieder fürs DFB-Team. „Er hat für die deutsche Nationalmannschaft gespielt. Warum also nicht noch einmal“, hatte er gesagt. Und hinzugefügt: „Er ist ein unglaublicher Fußballer.“
Bei der Nationalelf traf Amiri, der 2021 noch unter Joachim Löw seinen fünften und bis dahin letzten Länderspiel-Einsatz hatte, nun auf seinen zweiten großen Förderer. Denn unter Nagelsmann hatte er in Hoffenheim seinen großen Aufstieg hingelegt. „Das ist nicht so ein typisches Spieler-Trainer-Verhältnis, weil wir uns schon so lange kennen“, sagte Amiri. „Ich war 15 oder 16, als ich Julian kennengelernt habe. Wir wurden in der U19 zusammen Deutscher Meister, bei den Profis haben wir den Klassenerhalt geschafft und dann die Champions League erreicht. Dass ich ihn so viele Jahre später als Nationaltrainer wieder treffe, ist eigentlich die perfekte Geschichte.“ Auch Nagelsmann erklärte: „Ich freue mich extrem auf ihn!“
Stetiger Kontakt mit Nagelsmann
Dabei findet man im Archiv auch einige witzige Momente der beiden. So legte ihm der Trainer zum Beispiel 2018 mit einem Augenzwinkern nahe, sich eine Freundin zu suchen, nachdem Amiri in einem Interview erklärt hatte, er habe keine, weil er alles dem Fußball unterordne. „Kein Alkohol, nicht in die Disco, das ist nicht so schlecht. Dass er jetzt nie eine Freundin hat, also keine feste“, sagte Nagelsmann damals lachend, ohne den Satz zu beenden, und erklärte stattdessen: „Es ist sicher auch nicht schlecht, wenn man sich mal ablenkt, jemand zum Kuscheln hat.“ Das dürfe Amiri aber natürlich selbst entscheiden. „Vielleicht hat er die richtig verständnisvolle Freundin noch nicht gefunden. Ich kann ihm da ein paar Tipps geben“, sagte Nagelsmann, schränkte aber ein: „Ich bin jetzt auch nicht der Mega-Reißer gewesen in meinen jüngeren Jahren.“

Wenige Monate später zeigte Amiri öffentlich seinen Ärger über eine Auswechslung nach einer Stunde beim 1:1 gegen Düsseldorf. „Mir wird die Chance genommen, das Spiel zu entscheiden“, schimpfte er öffentlich. Nagelsmann antwortete gelassen: „Da hat er ja recht. Wenn er ausgewechselt wird, hat er keine Chance mehr.“ Auch das machte ihr Verhältnis aus: dass der Trainer diesen sensiblen und emotionalen Spieler immer zu greifen wusste. Als Nagelsmann 2019 zu RB Leipzig wechselte und Amiri nach Leverkusen sagte der Spieler aber: „Wir hatten eine geile Zeit zusammen, haben gemeinsam viel erlebt. Aber vermissen werde ich ihn nicht. Es ist vielleicht sogar ganz gut, dass wir jetzt nicht mehr zusammenarbeiten.“ Schließlich musste er sich in Leipzig auch mal in einem anderen Umfeld behaupten. In Kontakt sind sie aber immer geblieben. Deshalb erkannte Amiri auch sofort die Telefonnummer, als der Bundestrainer anklingelte. Weil das Handy in der Kabine vibrierte, ging er nicht ran, rief aber sofort zurück. Zumal er schnell wusste, worum es gehen muss. Als Nagelsmann die Einladung dann aussprach, seien ihm sogar „die Tränen gekommen. Das Ziel war riesig, der Weg war lang. Aber ich habe immer daran geglaubt, dass ich wieder dabei sein kann.“
Doch es wäre wohl nie so gekommen, wenn er im Januar 2024 nicht einen Schritt zurück gemacht hätte, den damals kaum jemand verstand.