25 Jahre hat Thomas Müller für den FC Bayern München gespielt. Und ihn geprägt wie vor ihm vielleicht eine Handvoll Spieler. Nun muss er am Saisonende gehen. Obwohl schon alles geregelt schien.

Als Thomas Müller am Abend des 15. August 2008 erstmals in der Fußball-Bundesliga eingewechselt wurde, hätte wohl niemand gedacht, dass dieser etwas ungelenk wirkende Stürmer mit den Storchenbeinen und dem Allerweltsnamen Fußball-Geschichte schreiben würde. Wenn Thomas Müller im Sommer beim FC Bayern nach 25 Jahren aufhören wird, verliert die Bundesliga einen Weltmeister, WM-Torschützenkönig, zweifachen Champions-League-Sieger und deutschen Rekordmeister. Zum 13. Mal könnte Müller im Mai die Salatschüssel in die Luft recken, niemand wurde öfter Deutscher Meister. Mit fast 750 Pflichtspiel-Einsätzen ist er Rekordspieler des FC Bayern, dabei war er an über 500 Toren beteiligt. Müller hat mehr Bundesligaspiele gewonnen als jeder andere in 62 Jahren Bundesliga, mehr Tore vorbereitet als jeder andere, niemand hat in mehr Spielzeiten nacheinander mindestens ein Tor geschossen und niemand wurde häufiger ausgewechselt.
Viel mehr als nur Zahlen und Rekorde
Das alles sind Zahlen, die zeigen, dass hier einer der prägendsten Spieler, die es je gab, die Bundesliga verlassen wird. Dass Müller seine Karriere beendet, ist noch nicht sicher. Aber es scheint unvorstellbar, dass der Ur-Bayer, der in Pähl im Pfaffenwinkel – knapp 50 Kilometer von München entfernt – geboren wurde, und mit seiner Ehefrau Lisa das Pferde-Gestüt Gut Wettlkam im oberbayerischen Landkreis Miesbach betreibt, für einen Liga-Rivalen der Bayern auflaufen wird. Und somit wird die Liga ein echtes Aushängeschild und ein Stück Geschichte verlieren.
Denn Thomas Müller ist viel mehr als Zahlen und Rekorde. Er ist ein Kult-spieler. Ein spitzbübischer Redner, dessen Redefluss ihm einst den Spitznamen „Radio Müller“ einbrachte. Ein unorthodoxer Spieler, für den der Begriff „Raumdeuter“ erfunden wurde, der inzwischen sogar im Englischen benutzt wird. Und ein Bayern-Spieler, den selbst die meisten „Bayern-Hasser“ irgendwie mögen. Weil er mit großem Einsatz durchs Feld pflügt, Tore schießt, die kaum ein anderer schießt, mit wirbelnden Armen und weit aufgerissenem Mund jubelt und nachher herzerfrischend an den Mikrofonen analysiert. „Ich weiß, dass mein Spiel nicht das allerschönste ist. Ich bin nicht da, um die Leute mit Kunststückchen zu unterhalten“, sagte Müller mal. Und dennoch hat kaum jemand die deutschen Fußballfans je so unterhalten wie er.

„Wenn man über Thomas redet, weiß man gar nicht, wo man anfangen soll. Er hat so eine große Karriere hingelegt und ist ein top Typ, dem man alles gönnt“, sagte zum Beispiel Jürgen Klinsmann, unter dem Müller einst gegen den Hamburger SV mit dem heutigen Bayern-Trainer Vincent Kompany sein erstes Bundesliga-Spiel machte, bei Sky: „Thomas agiert wie ein Schachspieler, denkt immer zwei Züge voraus. Dazu hatte er das Auge für den Mitspieler. Ihm ging es nicht nur darum, selbst die Tore zu machen. Das ist ein Spielstil, der einzigartig ist. Das zeichnet ihn weltweit aus.“ Dabei sind es auch die Gegensätze, die Müller ausmachen. Die „augenzwinkernde Hoppla-jetzt-komm-ich-Verve“, von der „11Freunde“ mal schrieb. Den Beinamen „Lausbub“ wurde ihm schon kurz nach seinem Auftauchen im Profigeschäft verpasst. Wobei Müller schlau genug war zu wissen, dass man nur als Offensivspieler ein Lausbub sein kann. „Der Lausbub, das stimmt schon. Den will ich mir auch bewahren. Ich bin auch irgendwie einer“, sagte er 2013 dem „Playboy“. „Ich bin Offensivspieler, auf dem Feld versuche ich Sachen, die vielleicht gar nicht gehen können, und wenn es doch funktioniert, ist es genial. Als Verteidiger ginge das nicht.“ Auf die Frage, ob er auch ein „Philosoph“ sei, als den der „Spiegel“ ihn bezeichnete, sagte er ganz bodenständig: „Ich red’ schon gern dumm daher, und manchmal hört es sich vielleicht superschlau an.“
Langfristige Zukunft bei den Bayern?
Fast schon philosophisch hört es sich aber an, wenn Müller darüber spricht, dass ihn seine frühe Karriere auch einer ganz wichtigen Lebensphase beraubt hat. „Ich würde gern mal für einen Monat ein Studentenleben führen“, sagte er vor zwölf Jahren. „Mein Leben ist doch sehr einfach gestrickt. Von 365 Tagen bin ich zahllose Nächte im Hotel. Ich komme in viele tolle Städte, aber ich sehe nur das Hotelzimmer. Wir machen ja kein Sightseeing oder so was.“ Er wisse, dass er ein privilegiertes Leben führe. „Aber es ist nicht so, dass wir nur zweimal die Woche Fußball spielen, und ansonsten bereisen wir die Welt. Der Alltag besteht viel aus Busfahren, Fliegen, Reisestress. Ich bin nicht der Typ, der nach der Schule eine Weltreise gemacht hätte, der mit dem Rucksack auf Bali durch den Dschungel marschiert ist.“ Aber er hätte sich für Jura eingeschrieben. So „kenne ich das normale Studentenleben natürlich nicht, wenn du dich am Donnerstag auf d’ Nacht mit deinen Kumpels verhockst und du trotzdem bis vier bleibst und am nächsten Tag in die Uni gehst.“
Zeit hätte er künftig. Doch in die Uni wird er nicht zurückgehen. Es bleibt sehr spannend, was Müller künftig machen wird. Wie gesagt, ein Wechsel innerhalb der Bundesliga scheint ausgeschlossen. Einer im Ausland wirkt auf den ersten Blick auch nicht wahrscheinlich, alleine schon mit Blick auf das Gestüt.
Und eine direkte Funktionärs-Karriere? Ist sicher möglich, beim FC Bayern sollen ihm grundsätzlich alle Türen offenstehen. Doch ist Müller so diplomatisch? Grundsätzlich scheint alles vorstellbar: Müller als Trainer, als Sportdirektor, als TV-Experte. Doch bei allem müsste er sich auch irgendwie anpassen. Und kann nicht so unbeschwert er selbst sein wie auf dem Spielfeld. Wo er ein Instinkt-Fußballer im besten Sinne war. Was er einmal selbst sehr schön ausdrückte: „Wer mich kennt, der weiß, dass ich mehr meinem Instinkt folge als Anweisungen von Trainern.“

Und in Bezug auf eine langfristige Zukunft beim FC Bayern bleibt spannend zu sehen, ob die unglücklichen Umstände des Abschieds für nachhaltige Verstimmung sorgen. Bayern-Sportvorstand Max Eberl hatte im Januar angedeutet, dass eine Vertragsverlängerung nur Formsache sei. „Er braucht ja nicht großartig zu verhandeln. Wenn er sagt, er hat Lust weiterzumachen, dann werden wir uns tief in die Augen schauen, schauen uns den Kader an, und dann wird es weitergehen“, hatte Eberl gesagt. Das werde „das kürzeste Gespräch“. Im März musste er Müller dann mitteilen, dass er keinen neuen Vertrag erhalten wird. Drei Tage habe er davor schlecht geschlafen, sagte Eberl im Sport1-„Doppelpass“. Aber er habe sich ja selbst in die Lage hineinmanövriert: „Da war ich vielleicht auch nicht so schlau, das zu sagen. Aber in dem Moment war ich auch nicht schlau, weil ich einfach auch emotional war. Weil auch ich mir eine Bundesliga, einen FC Bayern ohne Thomas Müller gar nicht vorstellen konnte zu diesem Zeitpunkt.“
Zwei Monate später habe er ihn dann mit der harten Entscheidung konfrontieren müssen: „Ich wollte ihn nicht fragen, ,was möchtest du machen?’ und er sagt mir dann: ‚Ich mache weiter.‘ Und ich sage ihm dann: ‚Aber sorry.‘“, erklärte Eberl. „Deswegen haben wir eine Entscheidung mitgeteilt.“ Müller verriet derweil in einem offenen Brief an die Fans, dass er sich trotz der zuletzt geringen Spielzeit eine Rolle wie aktuell auch in der nächsten Saison hätte „gut vorstellen können. Der Verein hat sich jedoch bewusst dafür entschieden, mit mir keinen neuen Vertrag für die nächste Saison zu verhandeln. Auch wenn dies nicht meinen persönlichen Wünschen entsprach.“ Als Profi aber respektiere er diesen Schritt. Zudem habe Müller sicher auch „keinen Folklorevertrag“ gewollt“, sagte Eberl.
Plötzlicher Meinungsumschwung
Doch wie kam es zu dem Meinungsumschwung? Für Rekordnationalspieler und Sky-Experte Lothar Matthäus war Ehrenpräsident Uli Hoeneß die entscheidende Person. „Eberl wurde in der Causa Müller von ihm zurückgepfiffen“, sagte Matthäus. Hoeneß hatte ausgerechnet bei der Premiere der Amazon-Doku über Müller erklärt, ein dauerhafter Bankplatz sei für diesen doch „unwürdig“. Und zuletzt mehrfach angedeutet, dass das berühmte Festgeldkonto nicht mehr so prall sei und auch mal behauptet, der FC Bayern habe „keinen Geldscheißer“. Nun hatte Eberl die Verträge mit Joshua Kimmich, Jamal Musiala und Alphonso Davies schon für üppige Gehälter verlängert. Spieler, die Geld einbringen sollen, kriegt man aber nicht los. Vielleicht muss man trotz beachtlicher Rückrunde sogar Leroy Sané ablösefrei ziehen lassen. Doch der ein oder andere Großverdiener muss von der Gehaltsliste. Dann muss es wohl ein Ersatzspieler sein, auch wenn er Müller heißt und eine Legende ist. Zumal in Musiala und Michael Olise die beiden besten Bayern-Spieler zurzeit auf seinen Lieblings-Positionen spielen. Es habe nichts mit dem Finanziellen zu tun gehabt, und auch das Sportliche sei nicht „das alles Entscheidende“, hatte Eberl versichert. Aber was denn dann?

Dennoch: Die Diskussion ist nicht beendet, sie wird die Bayern bis zum Saisonende begleiten. Das erkannt man schon beim 1:2 im Viertelfinal-Hinspiel der Champions League gegen Inter Mailand, als Müller trotz Musialas Ausfall auf der Bank saß, von den Fans vehement gefordert wurde und den Ausgleich erzielte.
Das Aus scheint dennoch beschlossen, auch wenn die Münchener im Vorjahr nach der Abschieds-Ankündigung noch mal bei Trainer Thomas Tuchel anfragten. Aber Thomas Müller wird viel hinterlassen. Und er wird sicher auch irgendwann zurückkehren. Zum FC Bayern und in die Bundesliga.