Eine der sicher außergewöhnlichsten Veranstaltungen der Musikfestspiele Saar bietet das Puppentheater Zwickau. International besetzte Puppenspieler bringen eine Geschichte per VR-Brillen hautnah zu den Zuschauern.
Corona hat so manche kreative Lösung hervorgebracht, und während die meisten Theater sich an Streaming-Angeboten versuchten, hatte man im Puppentheater Zwickau eine revolutionäre Idee: Man setzt dem Zuschauer eine Virtual-Reality-Brille auf und wirft ihn, egal wo er ist, bei sich zu Hause etwa, mitten ins Geschehen. Mitten ins Puppentheatergeschehen.
Das Puppentheater Zwickau in Sachsen gibt es seit etwa 70 Jahren, seit 2007 ist die einstige Sparte des Zwickauer Theaters ein unabhängiges, von der Stadt Zwickau getragenes „Einspartenhaus“, also nur Puppentheater. Das bedeutet für die 15 Beschäftigten relativ große Freiheit, kurze Wege, schnelle Entscheidungen. Das Puppentheater Zwickau ist international besetzt, fünf Puppenspieler/Schauspielerinnen: ein Slowake, eine Ukrainerin, eine Polin, ein Schotte und eine Deutsche. Durch Studium oder Ausbildung sind sie breit aufgestellt, kommen vom Körper- und Maskentheater, von Puppenspiel und Pantomime.
Die Pandemie bedingte also Stillstand des öffentlichen Lebens sowie geschlossene Theater, was konnte man tun? Bei den Zwickauer Theaterleuten herrschte schnell Einigkeit – Streaming ist zu steril. Dramaturgin Dominique Suhr: „Das ist wie Eislecken durch die Glasscheibe, man sieht es, aber man schmeckt es nicht.“
Sie dachten nach und verwarfen manche Idee – „Immersion, immersives Spiel“ war mal so ein Gedanke. Gemeint ist damit, bei Computerspielen eine Wirklichkeitsillusion zu schaffen, aber „was wir können, ist Theater, ist Regie führen, ist die Dramaturgie einer abgeschlossenen Handlung zu verstehen, Computergaming ist nicht unsere Sache, wir planten schließlich ein ganz analoges Theaterstück für die VR-Brille.“ Was bringt das? Man konnte weg vom „Guckkasten“. Die Zuschauer blicken nicht auf die Bühne, sondern jeder Einzelne bekommt vermeintlich exklusiv ein 360-Grad-Erlebnis auf die Nase gesetzt. Die Puppen sind zum Greifen nah, der Zuschauer sitzt gewissermaßen mit den Goldgräbern im Boot, selbst auf einen kleinen Rundflug könnte man ihn mitnehmen. Das Bühnengeschehen ist eben nicht auf der Bühne, sondern mit einer 360-Grad-Simulation um einen herum.
„Eine Puppe ist viel ergreifender tot, wenn man sie hinlegt“
Die Dramaturgin Dominique Suhr schildert die Unmittelbarkeit des Erlebens: „Das Publikum, jeder Einzelne ist nicht in seiner Komfortzone im Zuschauerraum, neben ihm viele andere, sondern es fühlt sich so an, als müsste er mitspielen. Er sieht auch uns ganz nah. Wir sind hautnah.“
Hautnah ist bei Puppen so eine Sache, wenn die Mimik fehlt. Emotion wird mit Stimme und Puppenkörpersprache ausgedrückt. Bei den Zwickauern verstecken die Puppenspieler sich jedoch nicht, sondern sind, zeitgenössischem Puppentheater gemäß, auch zu sehen. Sie spiegeln mit ihrem Gesichtsausdruck sogar das Geschehen.
Wie kann man sich „360° virtual puppetry“ vorstellen? „Die Goldgräber“ aus der Ballade von Emanuel Geibel (1870) stapfen durch eine Wüstenlandschaft, die ein bisschen an Texas erinnert, komplett erdacht und mit Film und Computergrafik umgesetzt. Fehlen nur noch die Hauptpersonen: die Puppen.
Die Puppenspieler spielen in die, vereinfacht gesagt, 360-Grad-Kamera, der Filmdreh findet vor einem einfarbigen Hintergrund statt, schwarz, oft auch grün, weil grün nicht Bestandteil natürlicher Haut- und Haartöne ist, sodass bei der Bildbearbeitung, dem Verschwindenlassen des Hintergrunds, Haut und Haar nicht mit gelöscht werden. Die so „ausgeschnittenen“ Darsteller können vor einem beliebigen Hintergrund platziert werden. Entwickelt wurde das virtuelle Theater mit dem Softwareentwickler Vrendex und der Westsächsischen Hochschule Zwickau. Es war ein „Learning by Doing“, schildert Dominique Suhr, Neuland auch für Vrendex. Es hat ein Jahr gedauert, bis die erste Ballade aufführungsreif war.
Bei der Vorführung sitzen die Besucher auf Hockern, die VR-Brille wird aufgesetzt, das Soundsystem läuft. Zum Einleben dürfen die Betrachter erst einmal in einem virtuellen Theater verweilen. Es gibt Vorbehalte, manchmal sogar Furcht, vor allem aber viel Neugierde.
Jeder ist für sich, isoliert von den anderen, von außen lässt sich jedoch beobachten, wie sich alle gleichzeitig umdrehen, lachen, erschrecken, mitgehen. Am Schluss wird applaudiert. Wie im richtigen Theater.
Puppentheater wendet sich an Kinder und Erwachsene. „Kinder sind unglaublich schnell und intuitiv mit Puppen verbunden. Man bewegt die Puppe und Kinder lachen und kreischen.“ Teenager gehen auf Distanz, und Erwachsene haben in der Regel Freude daran, sich auf das Spiel einzulassen.
Was kann nun eine Puppe, was ein Schauspieler nicht kann? Dominique Suhr wählt als Beispiel den Tod auf der Bühne. Eine Puppe sei viel ergreifender tot, denn „wenn man eine Handpuppe oder Tischpuppe hinlegt, dann ist sie eindeutig tot, nicht wie ein Mensch, der sich hinlegt und dann heimlich leise weiter atmet.“ Ohne menschliche Hand verliert die Puppe ja auch tatsächlich jedes „Leben“.
„Puppen können ganz anders fliegen, geworfen werden“, sagt Suhr. Reizvoll sei auch das Spielen mit Metaebenen, „die Puppe in der Hand des Spielers könnte Sätze sagen, wie ‚Du manipulierst mich, lass mich doch mal los‘, und jeder weiß, ließe er sie los, würde sie einfach zu Boden fallen, es ist ein surreal-suggestives Spiel.“
Befreit vom eigenen Körper, eventuell verborgen hinter einer Maske bieten sich den Darstellern, die ja oft Schauspieler sind, ungeahnte Möglichkeiten. Stimmlich sicher eine Herausforderung, aber ob Motte, Giraffe, Riese oder singender Schrank – mit Puppen oder Masken geht alles. Das Puppentheater Zwickau hat eine echte Nische gefunden. Das Ensemble wird zu Film-, Theater- und Digitalevents eingeladen. Zu den Musikfestspielen nach Saarbrücken kommt aus Zwickau die Theaterpädagogin, alle anderen sind in der VR-Brille.
Es sei marketingtechnisch echt ein Problem, man könne es nicht beschreiben, man müsse es erlebt haben, sagt Dominique Suhr. Es sei „wie live“, fänden diejenigen, die dabei waren. „Normal“, meint Dominique Suhr, „wir spielen ja wirklich, da ist nichts animiert.“