Die vergangene Saison verlief nahezu perfekt für Radsportstar Tadej Pogacar. Doch der Slowene will sich keineswegs darauf ausruhen. Die Frühjahrs-Klassiker geben erste Hinweise auf seine Form.
Nach einer Saison der Superlative zeigten sich einige Radsportfans von der Dominanz Tadej Pogacars ein wenig gelangweilt. Das bekam auch der Slowene selbst mit, als er die Kommentarspalten in sozialen Netzwerken überflog. „Man findet im Internet immer Leute, die sich negativ äußern“, sagte der 26-Jährige. In persönlichen Gesprächen habe ihm jedoch noch niemand vorgeworfen, dass seine Extraklasse dem Radsport schade. „Entlang der Strecke habe ich niemanden gesehen, der das sagt. Ich habe nur glückliche Fans gesehen.“ Selbst wenn ihn jemand bitten würde, für mehr Spannung weniger Rennen zu gewinnen – Pogacar würde ablehnen. Nicht umsonst wird er in Anlehnung an die belgische Radsportlegende Eddy Merckx auch „Kannibale“ genannt. Ein Spitzname, der ihm zwar gar nicht gefällt („ein böses Wort“), der aber 2024 treffend war: 25 Siege feierte Pogacar im Vorjahr – darunter bei der „Tour de France“ und dem „Giro d’Italia“, zwei der größten Rundfahrten. Auch der WM-Sieg in Zürich samt Regenbogen-Trikot bedeutete ihm viel. Und nun fragen sich Fans und Konkurrenten: Ist der „Kannibale“ endlich satt – oder bleibt der Hunger auf Erfolg ungebrochen?
„Ich bin in sehr guter Form“
Die bisherigen Resultate bei den Frühjahrsklassikern zeigen: Pogacar ist weiterhin auf jedem Terrain und bei allen Bedingungen absolute Weltklasse – aber nicht unbesiegbar. Zwar präsentiert er sich in bestechender Form, doch Klassiker-Spezialisten wie Mathieu van der Poel konnten ihn mit größtem Aufwand auch stoppen. Hinzu kamen Pech und kleinere taktische Fehler. Etwa beim Amstel Gold Race, dem Auftakt des Ardennen-Trios: 48 Kilometer vor dem Ziel attackierte Pogacar am Gulperberg und fuhr fast eine Minute Vorsprung heraus – doch das sei wohl „zu enthusiastisch“ gewesen, wie er später selbstkritisch einräumte. Olympiasieger Remco Evenepoel und der dänische Außenseiter Mattias Skjelmose nahmen die Verfolgung auf – im Zielsprint hatte Skjelmose die stärkeren Beine. „Heute war einfach jemand schneller als ich“, sagte Pogacar. „Für mich kam die Ziellinie fünf Meter zu spät.“
Schon eine Woche zuvor musste sich Pogacar mit Platz zwei zufriedengeben – und der schmerzte noch mehr. Erstmals war er in der „Hölle des Nordens“, beim legendären Kopfsteinpflasterrennen Paris – Roubaix, an den Start gegangen, um auch das vermutlich härteste der fünf Radsport-Monumente zu gewinnen. Ein gewagtes Unterfangen, denn kaum ein Rennen birgt ein so hohes Sturz- und Verletzungsrisiko.
Pogacars Sportdirektor Mauro Gianetti war daher kein Befürworter des Starts: „Ein Sturz dort könnte unsere Tour-de-France-Ziele gefährden. Tadej soll keine Risiken eingehen.“ Und tatsächlich stürzte Pogacar – nach einem eigenen Fahrfehler. „Ich habe gebremst und wollte es noch retten, aber es war zu spät“, sagte er. „Shit happens.“ Statt eines weiteren Meilensteins musste er seinem größten Rivalen van der Poel zum Sieg gratulieren. „Mathieu war heute der Stärkste“, erkannte Pogacar neidlos an. „Ich dachte, ich könnte ihn noch einholen. Nach dem Radwechsel bin ich aber explodiert.“ Es reichte nicht mehr. Van der Poel triumphierte zum dritten Mal bei Paris – Roubaix. Eurosport-Experte Jens Voigt lobte Pogacar dennoch: „Er hat sich sehr, sehr gut verkauft.“ Dass der Rundfahrtspezialist nicht gleich bei seinem Debüt gewann, habe auch an mangelnder Teamunterstützung gelegen. Voigt: „Solche speziellen Rennen gewinnt man nicht nur mit Klasse – da braucht man ein starkes Team. Das hat ein wenig gefehlt.“
Ein Rückschlag war das für Pogacar aber keineswegs. Nach Siegen bei der UAE Tour, Strade Bianche und der Flandern-Rundfahrt führte er vor den letzten Frühjahrsrennen Flèche Wallonne und Lüttich – Bastogne – Lüttich die Weltrangliste an. „Ich bin seit der UAE Tour in sehr guter Form“, sagte Pogacar zufrieden. „Ich bin wirklich dankbar dafür, wie die Saison bislang lief – auch weil alles schön zusammenpasste.“ Dafür sorge auch das starke Teamgefüge bei UAE, an das sich der Ausnahmefahrer langfristig bis 2030 gebunden hat. „Ich fühle mich in diesem Team einfach sehr wohl“, sagte er – und seine Teamkollegen fühlen sich mit ihrem formstarken Kapitän ebenso wohl.
„Ich sehe ihn jeden Tag“, berichtete der deutsche UAE-Profi Nils Politt beeindruckt von Pogacars Trainingspensum: „Wer das im Training mal versucht, ist schon schnell am Limit. Aber er hat einfach Spaß am Radfahren – und immer diese zehn, 15 Prozent mehr.“ Teamchef Gianetti lobt seinen Star: „Er ist ein Champion – nicht nur in den Beinen, sondern auch im Kopf. Er arbeitet hart und ist reifer denn je.“ Der überwältigende Erfolg des Vorjahres hat bei Pogacar offenbar keine Motivationsprobleme ausgelöst. „Als ich ihn mal fragte, wie sein Urlaub läuft, sagte er mir, dass er ein bisschen Rad fährt“, berichtete Gianetti. Eine weitere Anekdote beschreibt Pogacars Eifer treffend: „Drei Tage nach der Tour rief er den Ernährungsberater an, um seinen Plan bis zur WM zu besprechen.“ Pogacar beschäftigt sich intensiv mit Ernährung, Technik, Trainingsmethodik, Schlaf und anderen wissenschaftlichen Themen – stets auf der Suche nach Optimierungsmöglichkeiten. Inzwischen kommt auch Künstliche Intelligenz zum Einsatz: Gemeinsam mit Partnern entwickelte das UAE-Team eine eigene Datenplattform, in die Informationen aus diversen Trackern eingespeist werden. „Das sind nicht nur Leistungsdaten, sondern auch Parameter zu Schlaf und subjektivem Wohlbefinden“, erklärte UAE-Trainer Jeroen Swart. Die KI, intern „Anna“ genannt, liefert laut Swart „wirklich interessante Erkenntnisse“. Sogar Rennstrategien lassen sich simulieren – theoretisch kann „Anna“ analysieren, wie ein bestimmtes Rennen gewonnen werden könnte.
So weit möchte Pogacar jedoch nicht gehen. „Ich denke, es sind nur kleine Details – aber in allen Bereichen“, sagte er. Die Summe macht den Unterschied. „Was sich im vergangenen Jahr besonders bemerkbar gemacht hat, war die Arbeit an der körperlichen Stabilität – nicht nur an den Beinen, sondern am ganzen Oberkörper“, erläuterte Swart. Das ermögliche Pogacar eine noch aerodynamischere Haltung und explosivere Solofahrten. Auch das neue, optimierte Rennrad von Hersteller Colnago soll ihm dabei helfen. In Sachen Material hatte Pogacar zuletzt im Vergleich zu anderen Stars wie Jonas Vingegaard leichte Nachteile. Doch für ihn sind Verbesserungen selbstverständlich: „An vielen kleinen Dingen kann man arbeiten. Wir Menschen wollen uns stetig verbessern – und im Sport ist das nicht anders.“ Mit seinen 26 Jahren will er keinesfalls auf dem derzeitigen Stand verharren – so gut er auch ist.
Evenepoel gibt sich kämpferisch
„Ich halte mich noch nicht für alt. Es gibt immer Raum für Verbesserungen“, sagte er. Außerdem sammle man mit jedem Rennen wertvolle Erfahrung – im Radsport fast so wichtig wie Schnellkraft oder ein großes Lungenvolumen. „Man versucht, bis zum Karriereende besser zu werden“, sagte er. Und wenn das eines Tages nicht mehr gelinge? „Vielleicht ist es dann Zeit, die Karriere zu beenden – wenn es nicht mehr aufwärts geht, sondern abwärts.“
Doch so weit ist es längst nicht. Nach den Klassikern wolle sich Pogacar „resetten“ und in die zweite Saisonhälfte starten. Denn dann geht es um die ganz großen Titel. Auf einen Start beim „Giro d’Italia“ (9. Mai bis 1. Juni) verzichtet der Vorjahressieger diesmal. Der Fokus liegt klar auf der Tour de France (5. bis 27. Juli). Dort wollen ihm die großen Rivalen Evenepoel und vor allem Jonas Vingegaard – im Vorjahr nach einem schweren Sturz gehandicapt – das Leben schwerer machen. „Ich kann mich noch verbessern und die Lücke zu Tadej verkleinern“, sagte Evenepoel: „Das gibt mir Zuversicht, weiter hart in den Bergen zu arbeiten und Gewicht zu verlieren.“ Vingegaard, Tour-Sieger von 2022 und 2023, startete stark ins Jahr. Seit seinem Sturz bei Paris – Nizza wurde sein Rennkalender jedoch gekürzt, Informationen über seinen Zustand drangen kaum nach außen. Die erlittene Gehirnerschütterung dürfte ein Rückschlag im Aufbau gewesen sein. Ob es wie geplant beim „Critérium du Dauphiné“ im Juni zum ersten großen Duell mit Pogacar kommt, ist fraglich. Möglicherweise treffen die Rivalen erst beim Grand Départ in Lille aufeinander. Vingegaard plant zudem einen Start bei der „Vuelta“ – ob auch Pogacar Ende August dabei sein wird, ist offen.