Bis vor wenigen Wochen schien die Nationalmannschaft für Torhüter Finn Dahmen ein utopischer Traum. Nun hat der Augsburger gleich zwei Chancen auf die WM im kommenden Sommer.

Dass der Fußball ein Tagesgeschäft ist und Stars manchmal schneller geboren werden und verglühen als im Trash-TV, ist längst bekannt. Dass jedoch jemand in so kurzer Zeit so durchstartet wie Finn Dahmen, ist eine Seltenheit. Denn Dahmen ist Torhüter des FC Augsburg. Der spielt zwar seit 2011 ununterbrochen in der Fußball-Bundesliga und traf im Europapokal auch schon mal auf den FC Liverpool mit Jürgen Klopp – wird aber dennoch meist unter Wert eingeschätzt. Zudem war Dahmen dort bis vor Kurzem nur die Nummer zwei. Und mit 27 Jahren scheint das zunächst kein gutes Zeichen zu sein – vielleicht nicht gut genug für die Nummer eins? Doch dann schafft es Dahmen fast wöchentlich in die Schlagzeilen, wird ins „Aktuelle Sportstudio“ eingeladen. Und plötzlich darf er nicht nur von der Nationalmannschaft träumen, sondern gleich von zweien – zwei der größten und traditionsreichsten der Welt. Und davon, mit einer von beiden an der WM 2026 teilzunehmen.
Doch der Reihe nach: Dahmen wird 1998 in Wiesbaden geboren. Sein Vater ist Deutscher, seine Mutter Engländerin – deswegen trägt er den Namen Finn Gilbert. Mit acht Jahren tritt er Eintracht Frankfurt bei, zwei Jahre später wechselt er zum FSV Mainz 05, wo er die gesamte Jugendabteilung durchläuft. Mit 19 wird er Stammtorhüter der Zweiten Mannschaft in der Regionalliga Südwest und sorgt 2019 mit einem spektakulären Hacken-Ausgleichstor gegen den VfB Stuttgart II erstmals für überregionale Aufmerksamkeit. Bei den Profis saß er da schon auf der Bank – doch im Mainzer Tor standen mit Ex-Nationaltorhüter René Adler, Robin Zentner und Florian Müller starke Konkurrenten. Als Adler seine Karriere beendet und Müller nach Stuttgart wechselt, rückt Dahmen zwar auf – doch an Zentner, der heute selbst in den Fokus der Nationalmannschaft gerückt ist, ist kaum ein Vorbeikommen.
Beeindruckende Entwicklung
Erst im März 2021 kommt er zu seinem Bundesliga-Debüt – ausgerechnet beim FC Bayern in München. Mainz führt zur Pause mit 2:0, in der zweiten Halbzeit kassiert Dahmen fünf Treffer. Der „Kicker“ gibt ihm trotzdem die Note 2,5. Obwohl er 2021 U21-Europameister wird, kommt er in sechs Jahren beim Mainzer Profi-Kader nur auf 13 Bundesliga-Einsätze – entweder, weil Zentner verletzt ist oder weil er in den vergangenen beiden Saisonspielen als Belohnung ran darf. 2023 entscheidet sich Dahmen – damals 25 – für eine Luftveränderung. „Mainz hat sich in den letzten Jahren mehrfach für Robin entschieden“, sagt er der „Bild“. „Ich möchte mich einfach als Nummer eins durchsetzen. Es wird ein großer Schritt – ich bin immerhin seit der E-Jugend in Mainz. Aber ich freue mich auch darauf und fühle mich bereit.“ Er verlässt seinen Ausbildungsverein, um beim FC Augsburg die Nummer eins zu werden.
Das klappt zunächst. In den ersten 31 Spielen der Vorsaison steht er im Tor der bayerischen Schwaben. Er erarbeitet sich den Ruf eines veritablen Elfmeter-Killers – hält gleich vier –, stellt aber auch einen Negativrekord auf: In seinen ersten 37 Spielen bleibt er nie ohne Gegentor. Die bisherige „Bestmarke“ lag bei 34. Angesichts dessen, was später geschehen sollte, wirkt das heute fast absurd. „Ich habe versucht, dieser Serie nicht zu viel Aufmerksamkeit zu schenken“, sagt er später im Sportstudio. „Aber ich war schon froh, als sie vorbei war. Und ich bin sehr froh, dass ich nun das ein oder andere Zu-Null-Spiel nachhole.“
Kurz vor dem Saisonende 2024 verletzt sich Dahmen. Augsburg verpflichtet in der Sommerpause den kroatischen Nationaltorhüter Nediljko Labrović für 2,5 Millionen Euro und gibt ihm einen Fünfjahresvertrag – so einen holt man nicht für die Bank. Dort sitzt stattdessen wieder Finn Dahmen. Nach einem 1:5 bei Aufsteiger Holstein Kiel und 32 Gegentoren in 15 Spielen entscheidet sich Trainer Jess Thorup in der Winterpause für einen Wechsel im Tor. Dahmen ist wieder die Nummer eins.
Er startet im Januar mit einem 0:1 gegen Stuttgart. Der FCA hat drei Punkte Vorsprung auf den Relegationsplatz und elf Zähler Rückstand auf die Europapokalplätze. Dann geschieht das Unglaubliche: Von den folgenden 14 Spielen verliert Augsburg nur das gegen den FC Bayern. Plötzlich ist der Relegationsplatz 21 Punkte entfernt, die Europacup-Qualifikation nur noch vier Zähler – und das liegt nicht zuletzt an Dahmen. Der einst nie ohne Gegentor blieb, scheint plötzlich unbezwingbar. Mit sechs Spielen in Folge zu null stellt er einen Vereinsrekord auf. Mit 685 Minuten ohne Gegentor landet er auf Platz sechs der ewigen Bundesliga-Bestenliste.
Vor ihm nur Timo Hildebrand und je zweimal Oliver Kahn sowie Manuel Neuer – ausschließlich Nationalkeeper großer Clubs. Wäre das 1:1 des Hoffenheimers Andrej Kramarić, das die Serie beendete, nicht aus einem irregulären Elfmeter entstanden, hätte Dahmen mit 746 Minuten sogar Rang vier erreicht. „Das ist schon schade“, sagt er gelassen, „aber es ist eine sehr coole Statistik.“ Eine weitere: Mit einem Notenschnitt von 2,64 ist er laut „Kicker“ der drittbeste Bundesliga-Spieler der Saison – nach Florian Wirtz und Omar Marmoush.
Plötzlich beim DFB dabei
Im März erhält Dahmen dann plötzlich einen Anruf von Andreas Kronenberg, dem Torwarttrainer der Nationalmannschaft – mit dem Hinweis, „nicht zu weit wegzufahren“. Das DFB-Team spielt im Nations-League-Viertelfinale gegen Italien. Bundestrainer Julian Nagelsmann und Kronenberg entscheiden sich zwar für das Trio Oliver Baumann, Alexander Nübel und Stefan Ortega – doch Dahmen ist als Nummer vier auf Abruf nominiert. „Wenn ich überlege, dass ich vor sechs Monaten noch verletzt war, vor viereinhalb Monaten auf der Bank saß – und jetzt wird über so etwas diskutiert. Das macht mich natürlich sehr stolz“, sagt er als Studiogast bei Blickpunkt Sport im BR.

Doch Dahmen punktet nicht nur sportlich. Zum einen mit seiner fußballerischen Qualität – mit dem Ball am Fuß sei er „auf einem Niveau mit den Spielern“, sagt Ex-Kollege Jonathan „Jonny“ Burkardt – „wenn nicht besser“. Zum anderen mit seiner Persönlichkeit. Im Team und Verein ist er beliebt, gilt als anpassungsfähig und loyal. Einer wie er, der jahrelang klaglos die Nummer zwei war und trotzdem Leistung brachte, ist auch für ein Turnierkader als Nummer drei wertvoll. Dahmen sei „Everybody’s Darling oder Schwiegersohn Nummer eins“, erklärt FCA-Geschäftsführer Michael Ströll. Trainer Thorup nennt ihn „Schwiegermutters Traum“, betont aber: „Er ist sehr, sehr nett, ruhig, angenehm – und er hat viele Ambitionen, der beste Torhüter zu werden.“
Augsburg hat offenbar eine neue Bank im Tor. Labrović, der bei der EM in Deutschland im kroatischen Kader stand, hat kaum noch Argumente. Doch für den DFB könnte es bald zu spät sein. Denn womöglich ist Thomas Tuchel schneller – der ist inzwischen englischer Nationaltrainer. Und für England dürfte Dahmen aufgrund seiner Mutter ebenfalls spielberechtigt sein. Weswegen wir unserer Geschichte im Stil eines Hollywoodfilms einen zweisprachigen Titel gegeben haben.
„Zu 50 Prozent“ sei er englisch, sagt Dahmen diplomatisch: „Ich bin zweisprachig aufgewachsen, wofür ich sehr dankbar bin. Ich habe noch Familie in England und viele Eigenschaften von meiner Mama. Ich fühle mich beiden Nationen verbunden.“ Auf die Frage, ob er sich vorstellen könne, auch für England zu spielen, antwortet er wie gewünscht auf Englisch: „Yes, why not? If someone gives me a call, I’ll think about it.“ Das habe er bislang allerdings nicht getan. „Denn ich habe nicht damit gerechnet, dass ich so früh überhaupt auf dem Radar eines Nationalteams bin.“ Doch im hektischen Tagesgeschäft Fußball kann es bekanntermaßen manchmal sehr schnell gehen.