Ballhäuser waren seit dem Berlin der Kaiserzeit Orte der Berliner Lebensfreude. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind wenige übriggeblieben. Von einem erzählt ein Buch: Clärchens Ballhaus.

So manche Liebe, die hier in diesem Gebäude entflammt ist, sagt Marion Kiesow, sei zum ganz großen Lebensglück geworden. „Bei manchen ging die Liebe aber auch nur bis zur Saaltür“, schiebt sie nach einer kurzen Pause nach. Ihre Liebe ist geblieben – die Liebe zu diesem Ort selbst: Clärchens Ballhaus. Kurz nach der Jahrtausendwende hat sich Marion Kiesow in diese Location verliebt. Da hatte Clärchens Ballhaus schon eine fast hundertjährige Geschichte.
Viele Geschichten, nicht alle sind wahr
„Ich freue mich, dass das Haus noch steht, und fühle mich ihm verpflichtet“, erklärt sie den Aufwand, den sie seit 2005 betrieben hat, um die Geschichte von Clärchens Ballhaus in Berlins Mitte zu recherchieren und zu erzählen. Marion Kiesow war in Archiven und Bibliotheken und hat 180 Menschen interviewt – ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Fotografen, Journalisten und Ballhaus-Gäste. Die Erwähnung des Namens habe ihr „Herzen und Türen geöffnet“. „Viele Menschen verbinden nur Positives mit dem Ballhaus, es scheint der Inbegriff, ja geradezu die Verkörperung des Berliner Vergnügens zu sein“, schreibt sie. „Manchmal mehr geseufzt als gesprochen“ habe sie den Satz gehört: „Ach ja, Clärchen – da hat meine Mutter schon getanzt.“
Die Recherchen haben sie zu vielen interessanten Menschen geführt, erzählt Marion Kiesow. „Ich bin dabei auf viele Legenden und Geschichten gestoßen. Nicht alle haben sich bewahrheitet“, sagt sie. Das, was wahr ist, und das, was man sich erzählt, hat sie zusammen mit vielen Fotos auf 430 Seiten zwischen zwei Buchdeckel gebracht. „Berlin tanzt in Clärchens Ballhaus“ heißt das Werk, das der BeBra-Verlag auf den Markt gebracht hat.
Clärchens Ballhaus in der Auguststraße hat, seit es im September 1913 eröffnet wurde, immer wieder sein Gesicht verändert. Es hat zwei Kriege überstanden, teilweise stark beschädigt. Wehrmachtsoffiziere haben hier ein Büro eingerichtet und „Kriegsplanungen gemacht“, wie Marion Kiesow erzählt. Nach dem Krieg wurden die zurückgelassenen Landkarten zu Zetteln verarbeitet, die man im neu eröffneten Ballhaus für Notizen verwendet hat. Wobei es lange dauerte, bis das Lokal, das im Osten Berlins liegt, wieder instandgesetzt war. Teile des Ballhauses wurden lange nicht genutzt. Der Spiegelsaal wurde bis 2005 nur als Lager genutzt, erzählt Marion Kiesow. Heute, unter der Leitung von Claudia Steinbauer, ist der ehemalige Ballsaal ein Restaurant, getanzt wird im oberen Stock. „Es ist genau umgekehrt wie früher. Jetzt tanzt man den Leuten überm Kopf“, sagt Marion Kiesow.
„Zwischen 2005 und 2019 wurde hier jeden Tag getanzt“, sagt die Autorin. Dann wurde das Haus verkauft – mal wieder. Aber irgendwie ging es weiter – so wie es immer irgendwie weiterging. Nach zwei Weltkriegen, in der DDR, wo Clärchens Ballhaus weiter privat betrieben wurde, nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung in einem Berlin ohne Grenze.
Wobei Clärchens Ballhaus schon zu DDR-Zeiten für Menschen aus dem Westen eine beliebte Adresse war – für Männer vor allem. „Die, die aus dem Westen kamen, konnten mit wenig Westmark hier viel machen“, erklärt Marion Kiesow. Wenn sie an drei Sonntagen im Monat Menschen durch das Gebäude führt und von früher erzählt, kommt sie immer auch auf „die Söhne des Südens“. So habe man türkische Männer aus West-Berlin genannt, die ins Ballhaus kamen. Weil es klare Regeln zum Aufenthalt in der DDR und zum Devisenumtausch gab, haben diese Männer Ost-Berlin zum Ende eines Tages verlassen müssen.
Das sei dann so gelaufen, erzählt Marion Kiesow: „Die sind dann mit dem Taxi kurz vor Mitternacht zum Bahnhof Friedrichstraße und dort aus der DDR ausgereist. Kurz nach Mitternacht sind sie dann wieder eingereist und zurück ins Ballhaus. Danach blieben sie bei ihren Liebschaften über Nacht.“ In der Zeit, in denen „die Söhne des Südens“ aus- und wieder eingereist sind, „war es im Ballhaus überschaubar“, sagt die Autorin.
Witwenbälle und die „Söhne des Südens“
Diese Geschichte ist nur eine von vielen, die Marion Kiesow bei ihren Führungen und in ihrem Buch erzählt. Sie erzählt von den „Witwenbällen“ nach dem Ersten Weltkrieg und von der Zeit davor, als der Kaiser seinen Soldaten verboten habe, Tango zu tanzen. „Als der Tango nach Berlin kam, hatte man Angst, dass die Sitten zerfallen“, erklärt sie. „Wie wurde getanzt? Was wurde gegessen und getrunken? Wie wurde geflirtet?“ – darum geht es in ihrem Buch.
Als es 1913 losging, stand über der Tür „Bühlers Ballhaus“. Das war der Name des Mannes, den Clärchen geheiratet hat, er war gut 50, sie 25 Jahre alt, erklärt die Autorin. Aber egal, wie sich das Ballhaus offiziell nannte: „Man ging zu Clärchen.“ Was den einen oder die andere verwundern dürfte: „Clärchen selbst hatte nichts am Tanzen“, hat Marion Kiesow herausgefunden. Und ihr Ballhaus war nicht das einzige in Berlin. Bis zu 900 soll es im kaiserlichen Berlin gegeben haben.

„Für einen Abend im Ballhaus brauchte niemand eine Einladung wie noch zuvor für Haus- und Hofbälle. Durch die tanzwütigen 1920er-Jahre und bis in die 1940er-Jahre hinein waren sie beliebte Treffpunkte, meist eine Mischung aus Tanz- und Esslokal“, schreibt Marion Kiesow. Den Zweiten Weltkrieg haben die allermeisten Ballhäuser nicht überstanden. Viele von ihnen waren stark beschädigt und wurden abgerissen. „Übrig gebliebene intakte Ballhäuser nahmen sich in den 1960er- und 1970er-Jahren aus wie Dinosaurier des Kulturbetriebs, niemand wusste so recht etwas anzufangen mit diesen kolossalen Sälen. Getanzt wurde inzwischen in Diskotheken, die funktional und ohne Prunk neu gebaut wurden oder für die manch alter Saal schon mal seinen Stuck lassen musste“, beschreibt die Autorin die neue Ära.
Ein „Bewusstsein für Gründerzeitarchitektur und Tanzkultur“ habe sich erst in den letzten Jahren wieder entwickelt. Das habe immerhin dazu geführt, dass um den Bestand des ein oder anderen Ballhauses gekämpft wurde – „doch meist ohne Erfolg“, wie Marion Kiesow festgestellt hat. Es gibt noch einige Ballhäuser in Berlin. In einigen von ihnen wird wirklich noch getanzt, andere werden generell für kulturelle Veranstaltungen genutzt. Umso wichtiger sei es, dass ein Kleinod wie Clärchens Ballhaus erhalten bleibe.
Denn: „Betritt man das Ballhaus, so ist man sofort in einer anderen Welt. Hier scheinen Regeln, die draußen gelten, aufgehoben. Hier sitzen Menschen zusammen, die sich sonst in der Stadt wohl kaum begegnet wären, und amüsieren sich zu Musik, die sie sonst nicht unbedingt hören.“ Und auch das sei für sie das Faszinierende an Clärchens Ballhaus, sagt Marion Kiesow: „Es bleibt hier alles anders.“