In seiner Dystopie „2075 – Wenn Schönheit zum Verbrechen wird“ entwirft der Historiker und Bestsellerautor Dr. Rainer Zitelmann eine Zukunft, in der Schönheit als ungerechtes Privileg gilt. Was wie Science-Fiction klingt, ist ein Kommentar über Neid, Gleichheit, Cancel Culture – und die gefährliche Sehnsucht nach Gerechtigkeit um jeden Preis.

Teilt man eine Gesellschaft anhand ihres Aussehens in drei Gruppen – durchschnittlich, unterdurchschnittlich und überdurchschnittlich – ein, verdient das schönste Drittel fünf Prozent mehr als der Durchschnitt. Das unattraktivere Drittel verdient fünf bis zehn Prozent weniger als der Durchschnitt. Das jedenfalls sagen Attraktivitätsforscher und Wirtschaftspsychologen.
MOVE gewinnt an Einfluss
Ist Schönheit also etwas Ungerechtes? Und wie kann man dieses Unrecht stoppen? Fragen, die sich eine Gruppe Menschen im Jahr 2075 stellt. Die dystopische Bewegung „Movement for Optical Justice“ – kurz MOVE – kämpft gegen das scheinbar skandalöse gesellschaftliche Ungleichgewicht der Schönheit. Wer besonders attraktiv ist, gilt als privilegiert. Und das muss, so die Logik der Bewegung, korrigiert werden. Mit allen Mitteln.
Die Welt, die der Historiker und Autor Rainer Zitelmann in seinem ersten fiktionalen Roman „2075 – Wenn Schönheit zum Verbrechen wird“ entwirft, ist radikal – und doch erschreckend nah an unserer Gegenwart, wie er selbst sagt: „Ich wollte ein Sachbuch über Schönheit Âschreiben“, sagt er im Interview, „aber dann habe ich gemerkt: Die Geschichte ist zu verrückt für ein Fachbuch. Also habe ich einen Roman daraus gemacht.“
Was als satirisch überspitzte Zukunftsvision beginnt, entwickelt schnell eine eigentümliche Sogwirkung. Die Bewegung MOVE gewinnt gesellschaftlichen Einfluss, fordert Sondersteuern für attraktive Menschen, macht sie beruflich haftbar für ihr Äußeres – und zwingt schließlich sogenannte PBs, „Privileged Beauties“, zu einer „Optical Optimization Therapy“, die ihre Schönheit chirurgisch nivelliert.
„Ich habe in meinem Leben oft sehr schöne Freundinnen gehabt“, erzählt Zitelmann. „Die haben mir Dinge erzählt, die mich nachdenklich gemacht haben: von Neid, von Unterschätzung, von Ablehnung – einfach nur, weil sie gut aussahen.“ Diese Erfahrungen flossen mit ein in das Buch, ebenso wie wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Attraktivitätsforschung, mit der er sich während seiner Recherchen eingehend befasste. „Der Satz ‚Schönheit liegt im Auge des Betrachters‘ ist ein Mythos“, sagt er. „Natürlich gibt es Geschmack, aber es gibt auch ziemlich klare, kulturell übergreifende Vorstellungen davon, was als schön gilt.“ Und wer diesem Bild entspricht, hat Vorteile – im Job, im Alltag, im Dating. Der Roman folgt Alexa, einer jungen Studentin, deren schöne Schwester Alica zur „Optimierung“ gezwungen werden soll. Gemeinsam mit dem Journalisten Riven stellt sich Alexa gegen die immer totalitärer werdende Bewegung. „Es fängt harmlos an“, erzählt der Autor, „wie bei vielen historischen Bewegungen. Höhere Steuern, Quoten, Ausgleichsmaßnahmen. Aber dann radikalisiert es sich.“
Parallelen zur „Woke-Kultur“
Als Historiker erkennt er in der fiktiven Bewegung Muster, die realen totalitären Strömungen ähneln: „Die Französische Revolution, der Kommunismus, der Nationalsozialismus – das sind alles Beispiele für eine kumulative Radikalisierung. Das beginnt oft mit einer Idee von Gerechtigkeit und endet mit Repression oder weitaus Schlimmerem.“
„2075“ ist damit mehr als ein reiner Zukunftsroman. Er ist durchaus auch Kritik an aktuellen gesellschaftlichen Debatten. „Natürlich gibt es Parallelen zur Woke-Kultur“, sagt Zitelmann offen. „Die Vorstellung, dass bestimmte Gruppen unverdiente Privilegien genießen – ob als Mann, als Weißer, als Heterosexueller – ist typisch für diese Ideologie. In meinem Buch geht es um schöne Frauen.“ Schönheit, so Zitelmann werde bereits heute politisiert. „Ein Beispiel ist die ‚Body Positivity‘-Bewegung“, sagt er. Es ginge dabei nicht mehr nur darum, sich selbst in seinem Körper schön zu finden, sondern mittlerweile sei man bereits der Böse, wenn man jemand anderen aufgrund körperlicher Merkmale eben nicht attraktiv fände. Von einer Gleichheitsdiktatur, wie in seinem Roman beschrieben, sei Deutschland noch meilenweit entfernt. Dennoch beobachtet er eine beunruhigende Tendenz: „Freiheitsrechte werden schrittweise eingeschränkt. Es macht mir Sorge, wenn Leute Angst haben müssen, wegen eines Tweets Besuch von der Polizei zu bekommen. Gleichzeitig nimmt auch die wirtschaftliche Freiheit ab – siehe das Verbrenner-Aus“, so Zitelmann.

Dass der Neid ein zentraler Treiber für gesellschaftliche Radikalisierung ist, zeigt er nicht nur in „2075“. Schon in seinem Sachbuch „Die Gesellschaft und ihre Reichen“ analysierte er die Mechanismen, mit denen Minderheiten stigmatisiert werden – damals ging es um Wohlstand, jetzt um Ästhetik. „Ich habe eine Umfrage in 13 Ländern durchführen lassen. Das Ergebnis: Nur die Franzosen sind noch neidischer als die Deutschen“, sagt er. „In Polen oder Vietnam ist das ganz anders – dort wird Reichtum eher bewundert als bekämpft.“
„2075“ funktioniert deshalb nicht nur als Dystopie, sondern auch als Kommentar zur Gegenwart. „Es ist im Grunde ein Sachbuch aus der Zukunft“, meint der Autor. „Ich bin seit 40 Jahren Historiker – das hilft mir beim Schreiben. Denn Geschichte wiederholt sich.“
Was ein gutes Buch für ihn ausmacht? „Es muss bleiben. Ich will keine Eintagsfliegen schreiben, die nach einem Jahr verramscht werden. Meine Dissertation über Hitler wurde vor fast 40 Jahren veröffentlicht – sie wird heute noch gelesen.“ Auch sein Motivationsbuch „Setze dir größere Ziele“ erscheint inzwischen in der zehnten Auflage. Bestseller zu Âschreiben sei schön, sagt er, aber „bleibende Bücher“ zu schaffen – das sei das eigentliche Ziel.
Zum Schreiben kam er dabei schon früh: Mit acht Jahren bastelte er ein kleines Heft mit Karikaturen und politischen Slogans – und schickte es an Willy Brandt. „Der hat mir tatsächlich geantwortet! Ich hab’ den Brief immer noch.“ Mit elf gründete er eine Raumfahrt-Zeitung, mit 13 eine maoistische Schülerzeitung. „Ich hatte schon immer Lust, Dinge aufzuschreiben.“
Ob er weitere Romane plant? „Wenn ich eine gute Idee habe, bestimmt. Aber mein nächstes Buch wird wieder ein Sachbuch – über Kapitalismus und Raumfahrt.“ So bleibt „2075“ vorerst ein literarischer Solitär – und ein bemerkenswertes Experiment. Ein Roman, der auf unterhaltsame Weise Denkprozesse anstößt. Und der eine unbequeme Frage stellt: Was passiert, wenn Gleichheit über Freiheit gestellt wird?