Drei Jahrzehnte Daten aus der Antarktis – gesammelt für bessere Vorhersagen zum Eisschild-Verlust. Geodät Dr. Mirko Scheinert von der TU Dresden initiierte das Projekt „Giant-Regain“ mit, das Modellierern weltweit offensteht. Unsere Autorin fragte nach.

Herr Scheinert, das Potenzial von Beobachtungen mittels Global Navigation Satellite System (GNSS) war in den vergangenen drei Jahrzehnten noch nicht voll für geodynamische Studien in der Antarktis ausgeschöpft worden. Nun haben Sie zusammen mit Matt King von der University of Tasmania in Hobart, Australien, und weiteren Wissenschaftlern ein Projekt zu einem vorläufigen Abschluss gebracht, in dessen Ergebnis ein bislang einmaliger Datensatz vorliegt. Welche gigantische Aufgabe soll Giant-Regain mit Blick auf den Anstieg des Meeresspiegels und den Klimawandel bewältigen?
Der große Rahmen des Projekts besteht darin, auf einer zuverlässigen Datengrundlage die Veränderung der Eismassen sowie die damit zusammenhängende, langsame Verformung der Erdkruste modellieren zu können. Denn Eismassenverlust verursacht Deformationen der Erde, wodurch sich auch Massen im Erdinneren umverteilen. Damit lässt sich indirekt verfolgen, wie sich Gletscher zurückziehen oder vorstoßen.
Wie können wir uns das vorstellen?
Der Antarktische Eisschild verliert Masse vor allem dadurch, dass Eis ins Meer fließt, und es damit zu einem Anstieg des Meeresspiegels kommt. Aktuelle Untersuchungen sprechen von 0,4 Millimetern pro Jahr, also ungefähr elf Prozent des gesamten Meeresspiegelanstiegs. Das ist auch nur ein global mittlerer, also ein für den ganzen Weltozean geltender Wert. Wir schauen, wie das regional aussieht. Giant-Regain führt die an 286 Messstationen über drei Jahrzehnte gesammelten Daten erstmals in einer Auswertung zusammen.
Was haben Sie beim Erfassen der Daten in einer Zeitreihe von Punktkoordinaten festgestellt?
Die Veränderungen variieren. Durch die Erderwärmung fällt in manchen Gegenden mehr Schnee, der zu Firn und schließlich Eis verdichtet, solange die Durchschnittstemperatur in der Antarktis unter null Grad Celsius bleibt. Das führt dazu, dass es in Teilen der Ostantarktis sogar Massenzuwächse gibt, während in der Westantarktis große Verluste dokumentiert sind. Insgesamt verzeichnen die Daten eine negative Massenbilanz beziehungsweise einen Massenverlust für die gesamte Antarktis.
Woran muss sich die Wissenschaft messen lassen?
Die Herausforderung besteht darin, diese Veränderungen zu dokumentieren und Projektionen für die Zukunft zu erstellen, wie es in 50 oder 100 Jahren aussehen könnte. Oder noch später. Das ist das große Thema, für dessen Beantwortung wir regionale Daten brauchen, die über längere Zeiträume gemessen werden. Die gesammelten Daten fließen in Modelle ein, die helfen sollen, genauere Klimaprognosen, abhängig von unterschiedlichen Klimaszenarien, zu erstellen. Hauptrollen spielen dabei folgende Fragen: Wie sieht der Treibhausgasausstoß aus? Wie dadurch die Erwärmung? Und wie viel Wärme geht in den Ozean?
Was haben die Menschen davon?
Um für zukunftweisende Entscheidungen im Klimawandel eine verlässliche Gesamtschau zu erhalten, ist es wichtig, dass auch kleinteilige und regionale Prozesse in die Berichte des Weltklimarats IPCC einfließen. Wir sehen einen Meeresspiegelanstieg, und der wird auch weitergehen. Wenn ich Grönland und Antarktika vergleiche, also die beiden Gebiete, wo wir die großen, kontinentalen Eisschilde haben, weiß man bei Grönland sicher, dass das Eis in mehreren 10.000 Jahren komplett verschwunden sein wird.
Und der Antarktische Eisschild?
Über dieses Puzzleteilchen wissen wir noch nicht genug, daher gibt es jetzt Giant-Regain und hoffentlich weitere Forschung.
Wie können Wissenschaftler die Eismassenänderungen messen?
Es gibt drei grundsätzliche Methoden: die Input-Output-Methode, die Satellitenaltimetrie und die Satellitengravimetrie.
Bei der ersten Methode schaut man, was an Niederschlag, also Schnee, dazukommt (Input), der schließlich zu Eis verdichtet wird. Wenn Eis über den Kontinentalrand in das Meer fließt, geht es verloren, und wir stellen Abnahme fest (Output). Ab dieser sogenannten Aufsetzlinie wird das Gletschereis von Meerwasser unterflossen und so zu schwimmendem Schelfeis. An dessen Kante brechen ständig Eisberge ab.
Bei der Satellitenaltimetrie bestimmen wir mithilfe von satellitenbasierten Radar- oder Lasermessungen die Höhe der Eisoberfläche. Mit wiederholten Messungen können von der veränderten Höhe der Eisoberfläche veränderte Volumina abgeleitet werden, wozu wir Annahmen über die Dichte treffen müssen.
Bei der Satellitengravimetrie messen wir auf Grundlage des Newtonschen Gravitationsgesetzes das Gravitationsfeld beziehungsweise abgeleitete Größen, um die Massenänderungen direkt zu bestimmen. Dafür befindet sich derzeit die Satellitenmission Grace-Fo im All.

Was bedeuten die festgestellten Massenänderungen?
In der Antarktis kommt es durch den Eismassenverlust zusätzlich zu einer Deformation der Erdoberfläche und damit auch zu Massenumverlagerungen im Erdinnern. Ähnliche Prozesse sehen wir auch in Skandinavien, wo das Verschwinden des Eisschilds nach der letzten Eiszeit immer noch zu einer Landhebung von einem Zentimeter jährlich führt. In der Antarktis bewirkt der vorhandene Eisschild, der in einigen Gegenden sogar vorstößt, in anderen Regionen aber stark zurückgeht, ähnliche Hebungen oder Absenkungen. Besonders stark fällt diese in der Westantarktis aus, wo die Hebungsraten bis zu viermal so hoch sind wie in Skandinavien. Diesen Prozess nennt man insgesamt glazial-isostatischen Ausgleich, abgekürzt „GIA“.
Wie beeinflusst der glazial-isostatische Ausgleich Messungen in der Antarktis?
Der „GIA“-Prozess beeinflusst die Messungen der Satellitengravimetrie erheblich, da der damit verbundene Masseneffekt in derselben Größenordnung liegt wie die Massenänderung des Eisschildes selbst. Daher muss der „GIA“-Prozess genau berücksichtigt werden.
Wenn wir das messtechnisch nicht im Griff haben und die Prozesse nicht gut genug verstehen, können wir keine genauen Vorhersagen über den Massenverlust und damit den Meeresspiegelanstieg treffen.
Was hat das mit uns zu tun?
Durch die Eismassenänderungen werden regionale Unterschiede im Meeresspiegelanstieg beobachtet, nicht nur in der Antarktis, sondern weltweit. In Antarktika kommt die unterschiedlich ausgeprägte Landhebung dazu. Das muss genauer untersucht werden. Denn der Anstieg des Meeresspiegels hat weitreichende globale und regionale Auswirkungen. Er betrifft vor allem die Küstenregionen mit den dicht besiedelten Ballungszentren. Zusammen mit Extremwetterereignissen, die durch den Klimawandel verstärkt auftreten, nehmen Überschwemmungen zu, was zum Verlust von Siedlungs- und Landwirtschaftsflächen und zur Schädigung von Ökosystemen führen kann.
Welche Rolle spielt dabei die Landhebung?
Die Landhebung, insbesondere in der Westantarktis, könnte in manchen Gegenden stabilisierende Effekte auf den Eisschild haben. Der Eismassenverlust führt regional zu einem Absinken des Meeresspiegels, da die Gravitationswirkung der Eismassen verlorengeht. Zusätzlich führt die Hebung der Erde möglicherweise zu einer Stabilisierung der Aufsetzzone. Dies zeigt, dass die Prozesse in der Antarktis komplex und nicht-linear sind.
Wie können wir darüber mehr erfahren?
Indem wir als Wissenschaftler und Forscherinnen die Eismassenänderung, den „GIA“-Effekt und die Meeresspiegeländerung in der Modellierung zusammenbringen, um damit Prognosen zu erstellen, und die Schlussfolgerungen der Öffentlichkeit vorstellen. Deshalb gehen wir mit Messgeräten direkt in die Antarktis, um vor Ort die Bewegungen der Erdkruste zu messen. Ich selbst war in 25 Jahren achtmal bei Expeditionen in die Antarktis dabei.
Damit sind wir beim Kern unseres Projekts Giant-Regain. Die Abkürzung steht für die englische Projektbezeichnung „Geodynamics In ANTarctica based on REprocessing GNSS dAta Initiative“. Giant-Regain wird durch das Scientific Committee on Antarctic Research (SCAR) und deren Expertengruppe Geodätische Infrastruktur in Antarktika (EG Giant) unterstützt. Diese internationale Zusammenarbeit hat beim aufwendigen Sammeln der Messdaten sehr geholfen. Die Stationen zeichnen die Signale von Global Navigation Satellite Systems (GNSS) mithilfe von speziellen Antennen und Empfängern auf, die später analysiert wurden.
Die GNSS-Antennen wurden dabei direkt auf Fels aufgebaut, zum Beispiel in eisfreien Oasen oder auf inselartig aus dem Eis herausragenden Felsspitzen, sogenannten Nunatakkern. Mit dem GNSS-Verfahren können wir die Bewegung der Erdkruste unmittelbar messen. Da geht es vor allem um die vertikale Komponente. Im Ergebnis der Auswertung wird die „GIA-Rate“, die Landhebung, erhalten. GNSS ist ein Oberbegriff für alle satellitenbasierten Navigationssysteme wie GPS oder das europäische Galileo. Wir Geodäten nutzen dabei spezielle Messverfahren und Analysen.
Klingt kompliziert.
Das war eine gigantische, logistische Aktion. Für die Stromversorgung der Messgeräte, beispielsweise, haben wir spezielle Batterien sowie Solarpanel installiert, manchmal auch Windgeneratoren.
Wie wichtig ist es, mit Giant-Regain eine sichere Datengrundlage für die Klimawandelforschung zu haben?

Wir konnten das erste Mal für die Antarktis alle verfügbaren GNSS-Messungen nutzen und in einem einzigen Datensatz sammeln. Vier Analysezentren – TU Dresden, University of Tasmania (Australien), Ohio State University (USA) und Newcastle University (Großbritannien) – haben die Daten zuerst unabhängig voneinander mit verschiedener Software, aber nach einheitlichen Regeln ausgewertet, bevor eine gemeinsame, kombinierte Lösung abgeleitet wurde. Als wichtigstes Produkt der Studie stehen für 286 Stationen Zeitreihen von Punktkoordinaten mit den Nord-, Ost- und Vertikalkomponenten zur Verfügung, die bei Pangaea, dem deutschen Repositorium für georeferenzierte Daten der Erdsystemforschung, frei heruntergeladen werden können. Der Datensatz der Studie ist frei zugänglich und eine gute Basis für weitergehende Untersuchungen, wie es nun tatsächlich mit Landhebungen in der Antarktis aussieht.
Eine sichere Datengrundlage ist entscheidend, um besser verstehen zu können, wie sich die verschiedenen Faktoren auf den Meeresspiegelanstieg und den Klimawandel auswirken. Die gesammelten Daten aus drei Jahrzehnten helfen, die Modellierungen für den „GIA“-Effekt zu verbessern und genauere Projektionen für die zukünftigen Meeresspiegelveränderungen zu erstellen.
Sammeln Sie weiter in der Antarktis Daten und stellen die Ergebnisse in Studien oder auch in Schulen vor?
Ja, die Forschungen gehen weiter. Ebenfalls stellen wir diese in Schulen sowie der interessierten Öffentlichkeit vor. Die Problematik des Klimawandels hat sich nicht erledigt, auch wenn derzeit andere Themen in den Vordergrund rücken. Ein kontinuierliches Monitoring ist notwendig, um aktuelle Daten zu erhalten und somit die Veränderungen zu erfassen. Das erfordert natürlich auch finanzielle Mittel. Aber da wir unsere Auswertungen, Datenprodukte und Prognosen teilen und mitteilen, können wir den Verpflichtungen gegenüber den Organisationen, die unsere Forschung finanzieren, sowie gegenüber der Fachwelt und der Öffentlichkeit gerecht werden. So liefern wir sehr wertvolle Informationen, um den Klimawandel und seine Auswirkungen auf die globale Meeresspiegeländerung besser zu verstehen.