Der Zustand der Antarktis spielt eine entscheidende Rolle fürs Weltklima. Angelika Humbert, Professorin am renommierten Alfred-Wegener-Institut (AWI), erforscht das Eis schon lange. Ihre Hoffnung: Noch lassen sich die Gletscher retten.
Frau Professor Humbert, Sie waren im Laufe Ihrer Karriere schon oft in der Arktis und in der Antarktis unterwegs. Wie laufen solche Forschungsmissionen ab?
Wenn man die Veränderung eines Gletschers untersuchen will, sind vier bis fünf Jahre Planung normal. Schließlich wird man an einem Ort ausgesetzt, an dem es absolut nichts gibt. Sie müssen alles einfliegen, ob Verpflegung, Zelt oder sonstige Ausrüstung. Und natürlich den Sprit für die Flugzeuge.

Von welchen Mengen an Ausrüstung reden wir?
Bei meiner extremsten Flugkampagne mussten wir erst einmal 30.000 Liter an Sprit per Schiff zur Neumayer-Station (Polarforschungsstation des Alfred-Wegener-Instituts in der Antarktis; Anm. d. Red.) transportieren. Von dort wurden die Materialien dann 2.000 Kilometer weiter zum Camp transportiert. Bei anderen Typen von Expeditionen werden die Wissenschaftler mit einer „Twin Otter“ (kleines Flugzeug mit zwei Propellern; Anm. d. Red.) ins Camp geflogen. Je nach Dauer der Kampagne kommt da gut und gerne eine Tonne an Material zusammen. Sie werden mit einer gigantischen Menge an Kisten ausgesetzt. Und dann geht es los: Funk aufbauen, Toilettenzelt aufschlagen, auspacken. Die nächsten 43 Tage leben Sie zu dritt in einem Zelt.
Wie laufen die Tage ab, nachdem Sie an Ihrem Zielort angekommen sind?
Die Tage gehen schnell rum. Sie sind die ganze Zeit damit beschäftigt, Messungen zu machen, Daten zu sichern, die Batterien zu laden und zwischendurch das Essen zuzubereiten. Tagsüber gehen wir raus und untersuchen mit unseren Radargeräten, wie sich die Gletscher verändern. Zurück im Zelt, hören wir die Wettervorhersage für den nächsten Tag ab und nutzen unseren Campingkocher, um Schnee zu schmelzen. Das ist ein wichtiger Teil des Tages, denn Sie brauchen Wasser zum Überleben.
Welche Wetterbedingungen erwarten Sie vor Ort?
Wir hatten immer Glück, denn es war weder besonders kalt noch besonders windig. Minus 15 Grad waren das Maximum. Was mir mehr zugesetzt hat als die Temperatur, sind die Tage mit „White out“, denn da verliert man die Orientierung. Bei wolkenverhangenem Himmel sieht dann alles gleich aus, man merkt nicht, wo der Boden endet und der Himmel anfängt. Das Einzige, was dann Abwechslung bietet, ist unser knallorangefarbenes Zelt. Aber es gibt natürlich auch wunderschöne Tage mit glitzerndem Schnee oder feinem Eisnebel. So unwirtlich, wie man sich das vielleicht vorstellt, ist die Antarktis gar nicht.

Wie stark ist die Antarktis vom Klimawandel betroffen und welche Folgen hat das?
Manchmal fragen mich Freunde: „Warum befasst du dich eigentlich mit Gletschern? Die sind doch in 20 Jahren sowieso alle weg.“ Das stimmt nicht. Die großen Eisschilde sind sicher in 20 Jahren nicht weg, aber sie erfahren starke Veränderungen. Die Eismasse schmilzt an den Unterseiten der Schelfeise, wodurch diese dünner werden können. Auch wenn das nur ein paar Meter pro Jahr sind, gibt es ein Problem: Die Rückhaltekraft der schwimmenden Eismassen wird geringer und die Gletscher im Inland können sich beschleunigen. Aber auch an der Oberfläche der Eismassen gibt es Veränderungen, besonders in Grönland, wo es im Sommer auf den Gletschern stark schmilzt.
Mit welchen Folgen?
Schnee reflektiert die Sonne viel stärker als Wasser. Eine nasse Oberfläche führt also dazu, dass der Gletscher mehr Wärme aufnimmt – eine direkte Wechselwirkung mit dem Weltklima. Je weniger Ozeanfläche mit Schelfeis bedeckt ist, desto mehr Wärme nimmt der Ozean auf. Dadurch beschleunigt sich der Klimawandel immer weiter.
Am AWI setzen Sie Computermodelle ein, um das Abschmelzen der Eispanzer zu simulieren. Was verraten diese Prognosen?
In unseren Simulationen verwenden wir unterschiedliche Szenarien, je nachdem, wie viele Treibhaus-Emissionen ausgestoßen werden. Wir berechnen dann, wie die Eisschilde sich dadurch verändern. Wenn sich die globale Erwärmung weiter verstärkt, gehen wir von einer Zunahme an Schneefall in der Antarktis aus – das ist eigentlich etwas Gutes, weil dadurch die Masse größer wird. Gleichzeitig beschleunigen sich aber die Gletscher, weil der wärmere Ozean die Schelfeise ausdünnt. Der hinzukommende Schnee wird laut unseren Simulationen nicht ausreichen, um den Verlust der Eismasse abzupuffern.

Auf Ihrer Homepage heißt es: „Die Eismassen Grönlands und der Antarktis verändern sich in der Realität schneller und stärker als in unseren Computersimulationen – ein kaltes, nasses Multi-Skalen-Problem.“ Was ist damit gemeint?
Die Antarktis ist riesig. Um wirklich alle Prozesse und Mechanismen abbilden zu können, muss man viel Rechenzeit einplanen. Neue Supercomputer, mit denen wir in hohen Auflösungen rechnen können, bringen uns deutlich weiter, als es in der Vergangenheit der Fall war. Trotzdem stellen wir immer wieder fest, dass unsere Zeit-Skalen zu optimistisch geschätzt waren.
Das heißt, der Antarktis geht es noch schlechter als gedacht?
Die Veränderungen der Schelfeise sind erheblich. Selbst wenn man nur bis in die 1990er-Jahre zurückschaut, sieht man, dass die Veränderungen deutlich schneller passieren als vorher angenommen. In unseren Simulationen bricht das Schelf-eis zum Beispiel nicht von einem Moment auf den anderen auseinander – in der Realität aber sehr wohl.
Auch beim Entstehen von Eisbergen und der Schmelzrate gibt es Unsicherheiten. Trotz aller Forschung haben wir das System noch nicht 100-prozentig verstanden.
Auf der Pariser Klimakonferenz von 2015 hat sich die Welt verpflichtet, die globale Durchschnittstemperatur nicht höher als 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter steigen zu lassen. Was passiert mit der Antarktis, wenn dieses Ziel nicht eingehalten wird?
Da gibt es viele Fragezeichen. Sie wird sicher nicht plötzlich komplett eisfrei werden, aber es würde noch deutlich mehr Schelfeis kaputtgehen als ohnehin schon. Die große Unbekannte ist die Westantarktis: Bleiben die Gletscher dort einigermaßen stabil oder kommt es zu einem ganz schnellen Rückzug? Wenn das passiert, würde das mit einem raschen Anstieg des weltweiten Meeresspiegels einhergehen – mit allen bekannten Folgen.

In der Klimaforschung ist oft von sogenannten Kipppunkten die Rede. Wäre das einer?
Genau. Es geht darum, dass eine Veränderung die nächste Veränderung anstößt, unterstützt durch natürliche Faktoren.
Wie verändern sich die Meeresströmungen in der Antarktis durch den Klimawandel?
Normalerweise würde ein großer Teil des warmen Wassers strömungsbedingt gar nicht bis unter das Schelfeis gelangen. Wenn sich aber die Strömungen ändern – und das passiert durch den Klimawandel –, werden die Gletscher sehr viel schneller ausgedünnt. Danach sieht es im Moment aus. Sensoren der Ozeanographen können diese Warmwasserströmungen genau messen.
Was müsste politisch passieren, um die Antarktis zu retten?
Es ist ganz einfach und allgemein bekannt: Der CO2-Ausstoß muss runter. Die Gletscher interessiert letztendlich nur die Temperatur. Wenn sich die Atmosphäre und die Ozeane abkühlen, werden die Eismassen wieder dicker und die Gletscher können wieder wachsen. Eine Umkehr ist also durchaus möglich.
Vor einigen Jahren machte der Glaziologe Johannes Feldmann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung von sich reden, als er vorschlug, die Antarktis durch Kunstschnee zu retten. Was halten Sie von solchen Ideen?
Physikalisch mag das funktionieren, aber in der Realität stelle ich es mir sehr schwer umsetzbar vor. Bei unseren Kampagnen haben wir schon viele logistische Probleme und auch Schwierigkeiten mit der Technik in der extremen Kälte. So was hinzukriegen ist eher schwierig.

In der Wissenschaft geht die Sorge um, dass die Klimaforschung weniger Beachtung findet, seit die Trump-Regierung die Gelder dafür massiv kürzt. Spüren Sie davon etwas?
Persönlich spüre ich bei meiner Arbeit noch nichts, aber in unserem Forschungsbereich leben alle davon, dass unterschiedliche Nationen ihre Daten teilen. Aus den USA gibt es schon Ankündigungen, dass in Zukunft weniger Daten kommen könnten. Zum Glück haben wir in Europa mit den Copernicus-Satelliten ein eigenes Erdbeobachtungssystem. Aber klar: Je mehr Material, desto besser die Vorhersagen. Jeder Datensatz, der fehlt, ist einer zu viel.
Sehen Sie auch Entwicklungen, die Ihnen Hoffnung geben?
International gibt es viele Bemühungen, wissenschaftliche Erkenntnisse zusammenzubringen. Wir arbeiten eng zusammen, das Internationale Polarjahr 2032/33 (staatenübergreifendes Projekt zur Erforschung von Arktis und Antarktis; Anm. d. Red.) wird diesen Netzwerken noch mal Schub verleihen. Auch die Messtechnik wird immer besser, wodurch genauere Prognosen möglich sind. Am Ross-Schelfeis wurde von einem internationalen Team zum ersten Mal in einen Kanal an der Unterseite des Eises gebohrt. So etwas begeistert mich, denn es verbessert unser Verständnis. Da sind noch viele Durchbrüche zu erwarten.
Und beim Klimaschutz?
Da sehe ich ehrlich gesagt nicht so viele Dinge, die mir Hoffnung machen. Das einzig Positive ist, dass man den Trend aufhalten kann, wenn man nur will. Und ich sehe, dass Menschen sich ändern können. Nach meinen Vorträgen merke ich immer wieder, dass diese Bereitschaft da ist – viel mehr als noch vor zehn oder 20 Jahren.