Der Kaffeemarkt ist vom Klimawandel bedroht. Das Start-up Atomo hat die Kaffeebohne entschlüsselt: Mit Reverse Engineering haben die Macher ein Produkt entwickelt, das wie Kaffee schmeckt, weniger Ressourcen verbraucht, nachhaltiger ist.
Hunderttausendfaches metallisches Rasseln in der Trommel. Der Kaffeeröster beginnt zu arbeiten, ein tiefes, gleichmäßiges Brummen erfüllt den Raum. Langsam verändert sich der Duft in der Produktionshalle. Dann öffnet sich die Trommel, die braunen Klümpchen purzeln auf das Abkühlungsgitter, und ein dicker, intensiver Schwall von Röstaromen ergießt sich in die Luft. Es ist ein Versprechen für Genuss. Der Kaffeeröster steht in Seattle und gehört dem Start-up Atomo, das mindestens die Kaffeewelt verändern will: Mit einem Kaffee, der ohne Bohnen hergestellt wird.
Essens-Nachbauten ohne die eigentlichen, oft tierischen Produkte sind längst Realität: Hack aus Sonnenblumen, Schnitzel aus Soja, Milch aus Hafer. Auch Kaffeeersatz ist keine Neuheit. Muckefuck etwa ist für viele wohl eine Kindheitserinnerung. Das koffeinfreie Getränk wird aus Zutaten wie Roggen, Gerste, Zichorienwurzel oder Malz hergestellt, die geröstet, gemahlen und wie Kaffee aufgebrüht werden. Über den Geschmack lässt sich streiten – wie Kaffee, soviel ist sicher, schmeckt keines der so hergestellten Heißgetränke.
Kaffeepreise werden weiter steigen
Traditioneller Kaffee ist an Bohnen gebunden. Lange war Kaffee ein Luxusgut, das sich nur Wohlhabende leisten konnten. Im 17. Jahrhundert stammten die Bohnen zunächst aus dem Jemen. Später wurden Anbaugebiete in Kolonien wie Indonesien entwickelt. Doch während Produktionsmengen stiegen und -kosten sanken, blieb der Transport lange ein großer Kostenfaktor. In den eleganten Kaffeehäusern der damaligen Zeit – das erste soll Mitte des 17. Jahrhunderts in Venedig entstanden sein –, traf sich die gesellschaftliche und intellektuelle Elite. Erst im 19. Jahrhundert wurde Kaffee zum Massengetränk. Gründe dafür waren der Ausbau des globalen Schiffsverkehrs und die Ausweitung des Kaffeeanbaus in lateinamerikanischen Ländern wie Brasilien und Kolumbien.
Heute betreffen die Folgen des Klimawandels diese Länder in zunehmendem Maß – und das ist ein Problem auch für den Kaffee. Insbesondere die Sorte Arabica gedeiht nur unter bestimmten Bedingungen. Doch bis 2050 könnten die für die Kaffeepflanze passenden Anbauflächen um bis zu 60 Prozent abnehmen. Gleichzeitig steigt die weltweite Nachfrage nach dem koffeinhaltigen Getränk ständig. Die Kaffeepreise sind zuletzt stark gestiegen. Es ist keine gewagte Prognose: Sie werden weiter steigen – genau wie der Druck, neue Plantagen anzulegen und dafür Ökosysteme zu zerstören.
Andy Kleitsch will beide Probleme auf einmal lösen. Kleitsch ist kein ausgebildeter Kaffee-Experte. Er hatte lange für Amazon in Seattle gearbeitet und danach mehrere Start-ups gegründet, meist ging es um Software und digitale Bezahllösungen. Dann wollte er etwas Neues, Sinnvolles machen und fragte ein paar seiner Wissenschaftskumpels: Wenn ihr Zeit hättet für ein Projekt, das die Welt besser macht, was wäre das? „Die Ideen waren atemberaubend“, sagt Kleitsch. In die Endauswahl kamen: Feuer bekämpfende Löschroboter – und ein Kaffee-Ersatz, der vom Original nicht zu unterscheiden ist.
Mit Jarret Stopforth traf er sich im Sommer 2018 in einer der unzähligen Starbucks-Filialen Seattles, wo der Kaffee-Gigant 1971 gegründet wurde. Wissenschaftler Stopforth sagte: „Ich will einen Kaffee ohne Bohnen kreieren.“ Kleitsch hatte sein Projekt gefunden.
Zusammen gründeten sie Atomo und machten sich zunächst in Stopforths zum Labor umgebauter Garage daran, Kaffee und dessen chemische Verbindungen zu identifizieren und nachzuahmen. Das Prinzip hier: Reverse Engineering. Das heißt, Kleitsch und Stopforth identifizierten alle Elemente, die Kaffee ausmachen – Textur, Aromen, Wirkung, Farbe – und bauten diese mithilfe anderer natürlicher Stoffe nach. Eine schwierige Aufgabe, schließlich ist die Zusammensetzung der mehr als 1.000 Verbindungen im Kaffee äußerst komplex. Bislang konnten beim Kaffee mehr als 800 Aromastoffe ausgemacht werden. Fette und Öle sind wichtige Aromaträger, etwa 80 unterschiedliche Lipide enthalten die Zellen der Kaffeebohnen. Aber auch die Säuren sind wichtig für den Geschmack, darunter die Chlorogensäure.
Der Durchbruch kam durch Zufall
„In der Garage dachten wir, wir könnten uns einfach auf die schwarze Flüssigkeit konzentrieren“, sagt Andy Kleitsch heute. Und so waren die ersten Produkte auch in Dosen abgefüllte Brews; der Prototyp war einem milden Kaffee aus der La Casona Region in Costa nachempfunden. Doch die Gründer merkten: Während des Röstens durchläuft die Bohne eine Reihe von thermischen Reaktionen, die sie vollständig umwandeln und Schichten von Komplexität und geschmacklicher Tiefe bilden. Außerdem ist der flüssige Kaffee nur ein kleiner Teil des Kaffeemarkts. „Kaffee ist das Ritual der Zubereitung, das Erlebnis, das Geruchsaroma, der Geschmack und der Koffein-Kick, den man erwartet“, sagt Kleitsch. Er merkte: Es braucht Kaffeepulver, das in allen erdenklichen Varianten zubereitet werden kann.
Der Durchbruch kam per Zufall. Das Team war dabei, Filterkaffee herzustellen. Sie rösteten die Zutaten und mahlten sie. Dabei entstand nicht nur der mittelgrobe, den sie mit heißem Wasser aufgossen, sondern auch zu grober und zu feiner Kaffeesatz. „Eines Tages nahm unser Praktikant etwas von dem besonders feinen Kaffeepulver und gab ihn in die Espressomaschine. Wir hatten nicht erwartet, dass es funktioniert. Aber dann hat es uns völlig umgehauen“, erzählt Andy Kleitsch. Für ihn war das ein Mount-Everest-Moment, wie er sagt. „Da war uns klar: Mit unserem Kaffee können wir alles machen.“
Sie drehten das Unternehmen also komplett auf links, statt flüssigen Kaffee in Dosen zu produzieren, wollten sie nun Pulver herstellen, das mit klassischem Kaffeepulver konkurrieren kann. Dafür installierten sie 2023 für zehn Millionen Dollar zwei Beanless-Kaffeeröstereien in Seattle. „Unsere Anlage sieht ein bisschen aus wie eine Crackerfabrik, eine Bierbrauerei und eine Kaffeerösterei in einem“, sagt Kleitsch. Alle Teile sind klassische Anlagen aus der Nahrungsmittelindustrie, mit der Option zu expandieren, das ist dem Unternehmer wichtig. Die Anlage in Seattle kann heute vier Millionen Pfund Atomo herstellen; aktuell gibt es vier Varianten, darunter ein Espresso. Mitgründer Jarret Stopforth ist vor zwei Jahren ausgestiegen. Heute ist Andy Kleitsch das Gesicht von Atomo. Und Kleitsch will weiter expandieren. Atomo hat schon einige Investoren überzeugen können – so hat das Unternehmen rund 52 Millionen Dollar in Finanzierungsrunden eingesammelt, um die Produktionsstätten und die Expansion zu bezahlen. Ende 2023 hat der japanische Getränkeriese Suntory Holdings eine millionenschwere Investition in Atomo bekanntgegeben.
Mehr als 90 Prozent einer Packung Atomo stammt aus recycelten Inhaltsstoffen, die normalerweise weggeworfen werden, darunter Dattelkerne aus dem kalifornischen Coachella-Valley und nicht nutzbare Reste von anderen Produkten aus der Landwirtschaft, etwa von Karotten. Dazu kommen frische Zutaten wie Bananen, schwarze Aronia-Beeren und Erbsen. Das Koffein kommt aus Abfallprodukten der Teeherstellung. Kleitsch betont, dass die Rezeptur sehr variabel sei. Wird eine Zutat knapp, könne man schnell auf andere ausweichen – bei gleichbleibendem Geschmack.
Markt groß genug für Konkurrenz
Auch andere Unternehmen verwenden vergleichbare landwirtschaftliche Produkte oder Reste, um moderne Kaffee-Alternativen zu kreieren. Das Start-up Northern Wonder aus den Niederlanden entwickelt Kaffee-Ersatz aus fermentierten Kichererbsen und Feigen. Das Start-up Prefer aus Singapur verwendet altes Brot, Sojapulpe und verbrauchte Gerstenkörner von lokalen Brauereien. Mit lebensmittelgeeigneten Mikroben werden die Zutaten zunächst fermentiert, geröstet und gemahlen. Finnische Forscher vom VTT Technical Research Center haben Kaffeezellen in einem Bioreaktor gezüchtet, das daraus entstehende Pulver lässt sich mit Wasser mischen. Auch Cellular Agriculture und das Start-up California Cultured erforschen, wie man Kaffeebohnen im Labor züchten kann und daraus Kaffee machen kann. Für Kleitsch keine beunruhigenden Nachrichten. „Der Markt ist riesig, sodass es viel Platz für alternative Lösungen gibt“, sagt er.
Die große Chance für alternative Angebote liegt darin, dass das Kaffeegeschäft zwar unglaublich groß ist, aber der Markt weniger produziert, als verkauft werden könnte; die großen Unternehmen konkurrieren ständig um Rohkaffee. Darüber hinaus müssen sie jede Charge verkosten, um festzustellen, ob sie überhaupt von guter Qualität ist und entsprechend mischen – damit der Lieblingskaffee der Kunden immer gleich schmeckt. Atomos Versprechen: Geschmack, Qualität und Preis bleiben immer gleich – mit einem Produkt, das 365 Tage im Jahr lieferbar ist, egal wie das Wetter in Costa Rica, Indonesien oder Äthiopien ist.
Aber um etwas Gutes für unseren Planeten zu tun, müsse man es in großem Maßstab tun, so Kleitsch. In der Kaffeewelt bedeute das: Man muss mit den führenden Kaffeeproduzenten zusammenarbeiten. „Wenn wir es alleine schaffen wollten, bräuchten wir vielleicht 50 Jahre – und diese Zeit hat der Planet nicht“, sagt Kleitsch. Kleitsch ging also zur Kaffeeindustrie und sagte: ‚Hey, das ist bohnenloser Kaffee. Er ist nachhaltiger als herkömmlicher Kaffee, warum probiert ihr ihn nicht aus?‘ Kleitsch bemerkte in den Gesprächen schnell, dass seine Gegenüber den bohnenlosen Kaffee als Konkurrenz sahen. Die Kaffeeindustrie hatte immer Probleme mit Kaffee: Befall der Kaffeepflanzen, Dürren, Qualitätsschwankungen sind nur eine kleine Auswahl – aber sie konnten sich ein Leben ohne die Bohne nicht vorstellen. „Und dann trinken sie Atomo – und ich kann buchstäblich ihren Gehirnen bei der Arbeit zusehen“, sagt Kleitsch und lacht.
Die Zusammenarbeit mit großen Kaffeeunternehmen kann zwar kompliziert sein, berichtet der Gründer. In den USA hat Atomo jedoch mit der Bluestone Lane Kaffeemarke schon 50/50-Mischungen auf den Markt gebracht, also eine Hälfte regulärer Arabica-Kaffee, die andere Hälfte molekular nachgebauter – ein Weg auch gegen anfängliche Skepsis. Und für Kleitsch eben ein halb volles Glas, besser ein wenig Veränderung als gar keine. Er sieht sich als Technologiepartner. Bei Computern heißt es „Intel Inside“, hier eben „Atomo inside“. Atomo könne die Anlagen liefern oder auch den Kaffee, die Kapazitäten sind da und schnell skalierbar. „Wenn Tchibo morgen anrufen würde, würden wir gerne ins Gespräch kommen“, sagt der Gründer.
Kleitsch will das Kaffee-Business grundlegend ändern. Der Software-Nerd ist zum Kaffee-Nerd geworden, der sich tief ins Thema eingearbeitet und in den vergangenen Jahren auch wichtige Anbaugebiete von klassischem Kaffee besucht hat. „Das gesamte Kaffeesystem ist auf billigem Kaffee aufgebaut, und die Kaffeebauern, die der Industrie ausgeliefert sind, sind die Leidtragenden“, sagt er.
„Bohnenlose Bohne“ ist geplant
Kleitsch hat das Unternehmen gegründet, um die Welt besser zu machen, wie er sagt. Was pathetisch klingt, fußt auf ganz konkreten Problemen. Studien zeigen, dass über die Hälfte des Kaffees in den nächsten 30 Jahren aufgrund des Klimawandels in höher gelegene Regionen wandern müsste, was nur mit weiteren Abholzungen möglich wäre. Würde in Zukunft weniger Kaffee angebaut – und weniger Flächen für zukünftigen Kaffeeumbau umgewandelt – wäre der Umwelt ein Stück weit geholfen. Für die Bauern, die noch unter schlechten Bedingungen arbeiten und in Zukunft gegebenenfalls auch diese schlechte Arbeit verlieren, kann Kleitsch natürlich keine Alternative aus dem Boden stampfen. Es müsse ein Prozess sein, damit die Bauern Wege für ein auskömmliches Leben finden – ein Prozess, den Atomo nicht lenken kann – aber mit einem spannenden Angebot und einem Spotlight auf die Branche kann es vielleicht für etwas Nachdenken sorgen. Atomo hat seine Emissionen von einer US-NGO prüfen lassen. Demnach verursacht das Produkt 83 Prozent weniger CO2 als herkömmlicher Kaffee und verbraucht 70 Prozent weniger Ackerland.
Von den mehreren bohnenlosen Start-ups ist Atomo weltweit am weitesten mit seinem Ansatz, verkauft seine Produkte aktuell in über 60 Cafés in den USA und online. Als Nächstes soll Japan der Beginn der Expansion nach Asien sein, das Unternehmen arbeitet mit einem Barista-Champion in Tokio zusammen. „Das Interesse an der asiatischen Region ist generell sehr groß, und wir haben dort größere Pläne in Arbeit. Wir wollen skalieren. Und wir stehen erst am Anfang“, sagt Kleitsch. In London kann man den Kaffee schon kaufen, andere europäische Länder sollen folgen. Dann will sich das Food-Tech-Unternehmen auch an den vielleicht kritischsten Markt für Food-Innovationen wagen: Italien. Kleitsch hat sein Unternehmen zu Beginn ganz bewusst nach dem italienischen Namen für „Atom“ benannt, das Land der gelebten Kaffeebegeisterung ist so etwas wie der Endgegner. Schon einige Male war Kleitsch dort, hat sich mit sehr großen Kaffeeunternehmen in Italien getroffen und das Produkt vorgestellt. „Sagen wir es mal so: Die großen Kaffeeunternehmen in Italien kennen uns“, sagt er, und lacht.
Bislang kommen die Inhaltsstoffe in kleinen Kügelchen in die Rösterei. Als nächstes will Andy Kleitsch mit seinem Team die bohnenlose Bohne kreieren, also etwas, das aussieht wie eine Kaffeebohne und sich beim Bearbeiten auch so verhält. Sie könnten dann in großen Kaffeemühlen der Kaffeebars frisch gemahlen werden, Hobby-Baristas könnten die Zubereitung zu Hause richtig zelebrieren. „Es ist ein weiterer Mount Everest, den wir besteigen müssen“, sagt Andy Kleitsch.