Die Tour de France der Frauen nimmt eine Vorreiterrolle im Kampf um mehr Gleichberechtigung im Sport ein. Doch auch dieses Event ist noch längst nicht auf dem Niveau der Männerveranstaltung.
Den Grundstein für ihren historischen Triumph legte Millie Robinson während des Zweiten Weltkriegs. Sie arbeitete als Mitglied der Women’s Land Army auf einer der vielen Farmen der Isle of Man, die die britischen Soldaten und Menschen im Land ernähren sollten. Um zur Arbeit zu gelangen, musste Robinson weite Strecken mit dem Fahrrad absolvieren – und das möglichst schnell. Robinson fand Gefallen daran. Nach Kriegsende begann sie, Wettkämpfe im Radsport zu bestreiten. Außerdem arbeitete sie als Radmonteurin beim Hersteller Raleigh. Leidenschaftlich gern montierte sie an Rädern und versuchte, diese schneller zu machen. Auch deswegen war Robinson eine der besten Zeitfahrerinnen ihrer Generation. Das kam ihr zugute, als 1955 zum ersten Mal die Tour de France féminin abgehalten wurde. Robinson verteidigte beim Rennen gegen die Uhr auf der fünften und letzten Etappe ihren Vorsprung in der Gesamtwertung und kürte sich nach insgesamt 400 absolvierten Kilometern zur Premierensiegerin. Formal betrachtet ein historischer Moment – doch es fühlte sich zu jener Zeit nicht so an.
„Die Radsportszene wird weiblicher“
Die Öffentlichkeit nahm damals kaum Notiz vom weiblichen Pendant der schon damals sehr populären Tour de France der Männer. Die Idee des französischen Sportjournalisten und Rennveranstalters Jean Leulliot, der Frauen im Radsport ebenfalls eine große Bühne auf Frankreichs Straßen bieten wollte, war gut gemeint. Doch die Zeit für solche Aktionen war damals noch nicht reif. Es dauerte fast drei Jahrzehnte, bis die Tour de France der Frauen im Jahr 1984 ein Comeback feierte. Doch auch diesmal hielt sich der Wettbewerb nicht lange – nach fünf Jahren kam erneut das Aus. In den 90er-Jahren folgten zwei weitere Versuche der Wiederbelebung – vergeblich. Wirtschaftlich rechnete sich das Rennen für die Veranstalter einfach nicht. Die Idee einer Tour für Frauen verschwand aber nie, zumal die zunehmende Bedeutung der Gleichberechtigung in der Gesellschaft auch mehr und mehr den Sport erfasste. In der Petition „Le Tour Entier“, die rund 100.000 Menschen unterzeichnet hatten, stand zum Beispiel der Satz: „Nach einem Jahrhundert ist es endlich an der Zeit, auch Frauen zu erlauben, ihre Tour de France zu fahren.“ 2022 fand dann erstmals die Tour de France Femmes statt, die in diesem Jahr vom 26. Juli bis zum 3. August ihre vierte Auflage hat.
„Die Radsportszene wird nach und nach weiblicher. Ich persönlich bin stolz darauf, dass kleine Mädchen und Jugendliche im August am Straßenrand stehen werden, um die Stars der Tour hautnah zu erleben. Sie werden sich endlich mit den weiblichen Champions identifizieren können“, sagte Marion Rousse. Die ehemalige französische Radrennfahrerin ist seit der Premiere die Leiterin der Tour de France Femmes. Eines ist ihr besonders wichtig: Das Rennen dürfe „kein Anhängsel der Männer-Tour“ sein, sondern soll als eigenständiges Event gesehen werden. Zwar startet die Tour de France Femmes, wenn Tadej Pogačar und Co. ins Schlusswochenende gehen, doch das dürfte für die Aufmerksamkeit nur hilfreich sein. Danach gehört die komplette Bühne den Fahrerinnen. Die anfängliche Skepsis, ob eine Tour bei den Frauen überhaupt möglich ist, scheint einer Vorfreude auf den Wettkampf gewichen. „Die Qualität im Peloton ist weiter gewachsen, die Leistungsdichte hat zugenommen“, meint Rousse. Es herrscht mehr Interesse unter den Fans und Sponsoren. Schon jetzt ist die Tour de France Femmes das wichtigste Rennen im Frauenradsport – für viele sogar wichtiger als das olympische Radrennen.
Mehr Interesse unter Fans und Sponsoren
Wie sehr sich die Zeiten verändert haben, kann Rousse an ihrer eigenen Vergangenheit ablesen. Als die Frau des früheren Rad-Weltmeisters Julian Alaphilippe zu aktiven Zeiten von 2010 bis 2015 in die Pedale trat, waren Frauen auf Rennrädern fast schon Exotinnen. Ein Gehalt bezog die Französin in ihrem Team nicht, sie musste neben ihrer Leidenschaft arbeiten gehen, um über die Runden zu kommen. Auf Dauer hielt die frühere französische Meisterin diese Doppelbelastung nicht durch und beendete relativ früh ihre Sportkarriere – „weil ich Geld verdienen musste“. Inzwischen hat sich das Profitum auch im Frauenradsport durchgesetzt, weil die Teams durch die gestiegene Aufmerksamkeit über ein deutlich größeres Budget verfügen. Man sei zwar „noch nicht am Ziel“, meinte Rousse, „aber wir haben uns auf den Weg gemacht“.
Ein Weg, der auch in anderen Sportarten teilweise noch sehr mühsam bestritten werden muss. Im Skispringen warten die Athletinnen nach wie vor vergeblich auf die Premiere einer Vierschanzentournee, die bei den Männern seit 1953 jährlich abgehalten wird und zu den Sporthighlights im Winter zählt. Doch es bewegt sich etwas. Der Deutsche Fußball-Bund hob die mögliche Titelprämie für die Europameisterschaft der Frauen um 100 Prozent auf 120.000 Euro pro Spielerin an. Das ist nur möglich, weil das Interesse am Frauenfußball deutlich gestiegen ist. Die Einschaltquoten bei den EM-Spielen in der Schweiz waren beispielsweise deutlich höher als bei der parallel abgehaltenen Club-WM der Männer in den USA. Auch Olympia ist weiblicher geworden: Die Anzahl der Teilnehmenden war erstmals in der Geschichte von Olympischen Spielen paritätisch – sprich: Es gab eine 50:50-Aufteilung zwischen Männern und Frauen.
Die Tour de France Femmes will ihre Vorreiterrolle für mehr Gleichberechtigung im Sport fortsetzen. Die diesjährige Ausgabe ist mit 1.165 Kilometern von der Bretagne bis in die Alpen die bislang längste. Insgesamt gibt es neun Etappen und damit eine mehr als im Vorjahr. Das Event wird um zwei Tage verlängert. Doch mit dem Männer-Wettbewerb, bei dem in drei Wochen insgesamt 3.338 Kilometer auf 21 Etappen verteilt überwunden werden müssen, ist es noch immer nicht vergleichbar. Das ist auch gut so, findet die deutsche Starterin Liane Lippert. „Der Rennkalender ist voll genug und die meisten Fahrerinnen fahren alle drei Grand Tours – die Vuelta, den Giro und die Tour de France. Deswegen wäre es einfach zu viel, wenn die Tour noch länger gehen würde“, sagte sie.
Einen Dreifachstart bei den wichtigsten Rundfahrten wagen nicht mal die besten männlichen Rennprofis wie Pogačar oder Jonas Vingegaard. Um sich diesbezüglich bei den Männern anzugleichen, müssten auch die Bedingungen angepasst werden. Sprich: Der Frauenradsport müsste sich strukturell verbessern, noch professioneller werden. „Um wochenlange Rennen zu fahren, brauchen wir größere Teams. Die Männer haben viel mehr Fahrer pro Team, bis zu 30. Wir sind nur 14“, erklärte Lippert. „Wenn die Teams bei uns wachsen und es mehr Fahrerinnen gibt, dann können wir uns die Rennen besser aufteilen.“ Für mehr Professionalität braucht es mehr Geld von den Sponsoren und TV-Sendern. In dieser Hinsicht gibt es leichte Fortschritte. Im Vorjahr zeigte die ARD erstmals Live-Bilder der Rennen im Hauptprogramm, auch bei der vierten Ausgabe der Tour de France Femmes wird es so sein. „Die Reichweite bei der Tour ist viel größer, ich bekomme viel mehr Feedback, und es schaut wirklich jeder, der mich kennt“, sagte Lippert, die für das spanische Team Movistar an den Start gehen wird.
Mit der größeren Aufmerksamkeit steigt aber auch der Druck – und damit auch die Anspannung, verriet die 27-Jährige aus Friedrichshafen: „Besonders in den Tagen davor merkt man, dass es das wichtigste und größte Rennen im Rennkalender ist.“ Die Radsportfans werden auch einige Schlüsselstellen aus den Männer-Rennen wiedererkennen – die Königinnenetappe zum Beispiel führt auf der vorletzten Etappe auf den Col de la Madeleine. Hier wartet auf die Athletinnen ein brutaler Schlussanstieg von 18,6 Kilometern mit einer durchschnittlichen Steigung von 8,1 Prozent. Im Ziel auf einer Höhe von über 2.000 Metern dürfte eine Vorentscheidung über das Gelbe Trikot fallen. Im Vorjahr war das Highlight der Anstieg bei der Schlussetappe im Skiort Alpe d’Huez mit den legendären Serpentinen. Man wolle zeigen, „dass die Frauen fähig sind wie die Männer, die mythischen Anstiege zu meistern“, sagte Renndirektorin Rousse.
Insgesamt sieht das Streckenprofil zwei Hochgebirgsetappen, zwei mittelschwere Bergetappen, drei hügelige Abschnitte und zwei Flachetappen vor. Ein Einzelzeitfahren gibt es diesmal nicht. Insgesamt nehmen 154 Fahrerinnen aus 22 Teams die prestigeträchtige Rundfahrt in Angriff. Als Favoritinnen gelten vor allem Titelverteidigerin Kasia Niewiadoma-Phinney (Canyon–SRAM), Elisa Longo Borghini (UAE Team ADQ), Demi Vollering (FDJ–SUEZ) und Weltmeisterin Lotte Kopecky (SD Worx–Protime). Nach jeder Etappe werden wie bei den Männern die Trikots in den Farben Gelb (Gesamtwertung), Grün (Sprintwertung) und Weiß (Nachwuchswertung) sowie das gepunktete Trikot (Bergwertung) vergeben.
Lippert schielt auf einen Etappensieg
Liane Lippert kommt für das Gelbe Trikot nicht infrage – sie wird sich als Etappenjägerin versuchen. Die 27-Jährige hat dies beim gerade erst beendeten Giro d’Italia sehr erfolgreich getan. Vor allem ihr zweiter Tagessieg auf der achten und letzten Etappe von Forlì nach Imola, als sie vor der zweimaligen Weltmeisterin Anna van der Breggen als Erste die Ziellinie überquerte, war beeindruckend. Doch sie weiß: Nichts geht über einen Tour-Sieg. Am 24. Juli 2023 war ihr das geglückt – als erste deutsche Radfahrerin überhaupt gewann sie eine Etappe bei der Tour de France Femmes. Das Gefühl damals sei „unbeschreiblich“ gewesen, sagte die mehrfache Deutsche Meisterin – „auf jeden Fall der größte Erfolg meiner Karriere und einer der schönsten Momente allgemein in meinem Leben. Es ist einfach ein unbeschreibliches Gefühl, wenn man so hart und so lange für etwas arbeitet und es dann endlich klappt.“