Selbst für Experten waren die famosen Auftritte von Florian Lipowitz schon bei dessen Tour-Premiere etwas überraschend. Viel spricht dafür, dass der Ex-Biathlet noch lange nicht am Ende seiner Entwicklung ist.
Diese „schöne Geschichte“, wie Ralph Denk seine erste Begegnung mit Florian Lipowitz bezeichnet, wird in diesen Tagen öfter erzählt. Denn sie ist nicht nur ungewöhnlich, sondern sagt auch viel über den neuen deutschen Radsportstar aus. „Das Telefon klingelt, meine Assistentin stellt durch: ‚Da ist einer dran, der will Radprofi werden und ist jetzt Biathlet.‘ Ich dachte mir: ‚Ja, stell mal durch, ich hör mir das an.‘ Das war ein inspirierendes Gespräch“, sagte der Teamchef des Radrennstalls Red Bull/Bora-hansgrohe. So inspirierend, dass er den damaligen Schüler eines Ski-Gymnasiums zum Mittagessen einlud. Und an diesem Wintertag beeindruckte ihn Lipowitz noch mehr. „Er kam im Januar in Radklamotten, und als ich ihn fragte, wo er herkomme, meinte er: ‚Von der Schule.‘ Ich wusste, dass seine Schule über 100 Kilometer entfernt war. Da sagte ich: ‚Respekt.‘“
Denk ahnte schon damals, dass der junge Mann sein Ziel unbeirrt verfolgen werde. „Das war für mich ein erster Indikator“, sagte er und erklärte: „Wollen ist das eine, Talent das andere. Aber wenn der Wille da ist, dann ist schon viel Gutes vorhanden.“ Was Denk damals noch nicht wusste: Bei Lipowitz kommt beides zusammen.
„Ein bisschen wie im Märchen“
Erst seit fünf Jahren fährt der 24-Jährige aus Laichingen auf der Schwäbischen Alb Radrennen. Zuvor war er Biathlet und als deutscher Junioren-Meister sogar einer der Hoffnungsträger bei den Skijägern. Doch schwere Verletzungen machten ihm zu schaffen, in den Rekonvaleszenzphasen war Fahrradfahren oft die einzige Trainingsmöglichkeit. Lipowitz gefiel es, lang und kräftig in die Pedale zu treten. Dabei bewies er Talent und Ausdauervermögen – und landete schließlich bei Bora-hansgrohe. Denk gab ihm zunächst einen Vertrag beim Farmteam, in dem Lipowitz erste kleinere Profirennen absolvierte. „Dann kam er wieder zu uns zurück“, sagte Denk, „und der Weg ging weiter“. Und zwar steil nach oben, bis an die Weltspitze. 2023 gewann er die Gesamtwertung der Czech Tour, im April 2024 wurde er bei der Tour de Romandie Dritter. 2025 erklomm Lipowitz die nächste Stufe auf der Karriereleiter: Vierter der Baskenland-Rundfahrt, Dritter beim Critérium du Dauphiné – und dann kam die Tour de France, bei der sich Lipowitz „schon ein bisschen wie im Märchen“ fühlte.
Der Quereinsteiger bewies schon bei seiner Tour-Premiere, was ihm Experten vielleicht für die Zukunft zugetraut hatten: das Ausnahmetalent eines Fahrers für die Gesamtwertung. Lipowitz war nach zwei anstrengenden und ereignisreichen Wochen auf dem besten Weg, als erster Deutscher seit Andreas Klöden 2006 einen Podestplatz beim wichtigsten Radrennen der Welt zu belegen. Er stand als Gesamtdritter auf dem Podest der „Großen Schleife“ in Paris, einzig die beiden Topstars Tadej Pogačar und Jonas Vingegaard lagen im Kampf ums Gelbe Trikot vor ihm. Das Weiße Trikot des besten Jungprofis, das er bei seinem spektakulären Auftritt auf der 14. Etappe erobert hatte, hatte er da schon längst in der Tasche. „Ich denke, Frankreich ist ein gutes Pflaster für mich“, sagte Lipowitz nach seiner umjubelten Ankunft im Skigebiet Luchon-Superbagnères, als ihm das begehrte Jersey übergestreift wurde: „Ein Traum ist wahr geworden mit dem Weißen Trikot. Ich bin mehr als glücklich.“
Diese Wertung hatte als letzter deutscher Fahrer Jan Ullrich zwischen 1996 und 1998 dreimal in Folge gewonnen. Ullrich hält Lipowitz für ein „Riesentalent“ und fieberte am Fernseher begeistert mit. „Ich habe immer feuchte Hände, halte die deutsche Fahne hoch und drücke Florian Lipowitz die Daumen“, sagte der Tour-Sieger von 1997. Er verstehe die positive Aufregung der Fans, „mir geht es genauso“. In der Tat löste Lipowitz mit seinen phänomenalen Auftritten in der Heimat eine kleine Radsport-Euphorie aus, die zwar längst nicht an die zu Ullrichs Zeiten heranreicht. Aber die dennoch spürbar ist. „Mittlerweile schauen in meinem Ort relativ viele die Tour an. Ich denke, da freuen sich alle mit mir“, sagte der gebürtige Schwabe während der dreiwöchigen Rundfahrt. Ganz spurlos ging der Trubel um seine Person nicht an ihm vorbei. „Vielleicht macht man sich auch ein bisschen mehr Druck“, gestand er. Auch die allgemeine Aufregung bei der Tour sei für ihn mentaler Stress gewesen: „Das überfordert einen schon am Anfang.“ Doch Lipowitz steckte all das weg – was auch seine größten Konkurrenten mächtig beeindruckte.
„Ein richtig cooler Kerl“
„Er ist sehr stark und ein toller Fahrer“, sagte Tour-Dominator Pogačar über den jungen Deutschen, der ihm in den kommenden Jahren womöglich noch gefährlicher werden könnte. „Er hat noch Raum für Verbesserungen. Ich denke, wir werden noch viel von ihm in den nächsten Tagen und Jahren sehen“, meinte Pogačar. Menschlich komme er sehr gut mit seinem neuen Rivalen aus, verriet der Slowene: „Lipo ist ein großartiger Typ. Wir waren jetzt drei Tage im selben Hotel. Ich habe ein bisschen mit ihm gequatscht – gestern im Aufzug. Er scheint ein richtig cooler Kerl zu sein.“ Ähnliches berichten auch andere Fahrer und enge Wegbegleiter. Lipowitz zeigt sich trotz des Hypes um seine Person bodenständig – und vor allem lernwillig. „Ich rede eigentlich jeden Tag mit ihm hier. Ich gebe ihm da schon ein paar Ratschläge oder Tipps“, sagte Emanuel Buchmann. Der 32-Jährige vom Cofidis-Team war 2019 in einer ähnlichen Situation, als er Tour-Vierter wurde und die Last des gesamten deutschen Rennradsports auf seinen Schultern zu spüren schien.
Der Umgang mit dem Druck und die Leistungen auf dem Rad seien „beeindruckend“ gewesen, meinte auch Primož Roglič. Der 35-Jährige war als Kapitän des Teams Red-Bull/Bora-hansgrohe in die Tour gegangen, musste aber anerkennen, dass der deutlich jüngere Lipowitz zunächst die besseren Beine hatte. Auf der ersten Hochgebirgsetappe in den Pyrenäen hängte er Roglič ab. „Ich habe meine Chance genutzt und noch mal attackiert und dann bis zum Ziel Vollgas“, sagte Lipowitz kurz nach seiner Ankunft. Teamchef Denk sprach hinterher von einem „starken Signal“, der Sportliche Leiter Rolf Aldag meinte über die Doppelspitze: „Die Erfahrung von Primož und das junge Wilde von Lipo – das ist ein Luxus.“
Kommt auch noch Evenepoel?
Doch Lipowitz kümmerte die vor allem in den Medien viel diskutierte Kapitänsfrage im deutschen Team herzlich wenig. „Wir sind ein Team und Primož hat gezeigt, dass er in einer super Verfassung ist“, sagte Lipowitz. Er versteht sich sehr gut mit Roglič, zumal der frühere Skispringer genau wie er ein Quereinsteiger im Profiradsport ist. „Wir kommen ganz gut miteinander aus. Ich meine, wir sind beide vom Wintersport. Das verbindet vielleicht auch ein bisschen“, sagte Lipowitz: „Ich kann noch so viel lernen, vor allem von einem Fahrer wie Primož.“ Klar ist aber auch, dass der diesjährige Erfolg von Lipowitz und die gleichzeitig nach unten zeigende Formkurve von Roglič über kurz oder lang zu einem Machtwechsel im Team führen wird. Oder kommt alles ganz anders? Hartnäckig halten sich die Gerüchte, dass Doppel-Olympiasieger Remco Evenepoel in der kommenden Saison bei Red Bull anheuern wird.
„Für Florian wäre das natürlich keine einfache Situation. Gerade erst hat er sich am starken Kapitän Roglič hochgearbeitet, und dann wird einer geholt, der in der Rangordnung vielleicht über ihm steht“, sagte Ex-Profi Jens Voigt: „Aber Konkurrenz belebt das Geschäft, und Remco als Olympiasieger würde jede Mannschaft besser und stärker machen.“ Der Belgier musste bei der Tour am legendären Col du Tourmalet entkräftet aussteigen. In den Bergen bewies Lipowitz die eindeutig besseren Beine als der zuvor stärker eingeschätzte Evenepoel. Dass sich Lipowitz oder Evenepoel in der nächsten Saison mit einer Rolle als Nummer zwei zufriedengeben würden, erscheint fraglich. Eine Doppelspitze mit den beiden starken Rundfahrern wäre dagegen möglich. „Außerdem ist Florian noch jung, der muss nicht alle drei großen Landesrundfahrten machen“, meinte Voigt: „Vielleicht probiert er nächstes Jahr auch erst einmal, die Vuelta oder den Giro zu gewinnen.“
Ist der Tour-Sieg für Lipowitz also ein zu großes Ziel? „In der Summe der Fähigkeiten kann er dann tatsächlich irgendwann mal den ganz großen Wurf landen“, sagte Voigt: „Aber das ist Zukunftsmusik.“ Lipowitz solle „einfach so weitermachen wie bisher“, dann komme der körperliche Fortschritt in seinem Alter von alleine. „Er hat in der Vorbereitung ja offensichtlich nicht allzu viel falsch gemacht. Sei es Training, Ernährung, Höhentraining, Materialauswahl, Zeit im Windtunnel, um das Zeitfahren zu verbessern.“ Aber eines werde er auch für das größte Ziel nicht opfern, versicherte Lipowitz: seine Glaubwürdigkeit.
„Ich kann nur für mich selber sagen, dass ich alles regelkonform mache. Ich will auch beruhigt ins Bett gehen können“, sagte er angesprochen auf die Doping-Vergangenheit in seinem Sport: „Ich kann nur sagen, dass ich sauber bin und mich damit nicht allzu arg konfrontieren will.“ Die vielen Dopingskandale vor allem zwischen 1998 und 2009 haben das Vertrauen vieler Sportfans in die Sauberkeit der Radfahrer erschüttert. Einige Profis hätten damals „den falschen Weg“ gewählt, meinte Lipowitz: „Aber ich denke, die Zeit ist vorbei und da braucht man jetzt auch nicht groß noch auf irgendjemanden schauen.“ Er verwies auch auf die enormen Anstrengungen des Radsports, das Dopingproblem zu bekämpfen. „Ich glaube, in keinem anderen Sport wird so viel kontrolliert“, sagte er. Hinzu komme das Adams-System der Welt-Anti-Doping-Agentur WADA, bei dem die Sportler wochenlang im Voraus ihren genauen Aufenthaltsort angeben müssen, damit Kontrolleure auch immer für unangekündigte Tests erreichen können. „Die könnten mir auch einen GPS-Tracker geben. Das wäre mir wahrscheinlich am liebsten“, scherzte Lipowitz.