Das Start-up Recompose will die Bestattungskultur revolutionieren. Das Prinzip: Menschen werden innerhalb weniger Wochen oberirdisch zu Erde. Was mit der fixen Idee einer Architekturstudentin begann, wird gerade zu einem Massenmarkt.
Jeff Mintle und seine Frau Sydney reisten gerne. Besonders oft zog es sie mit den beiden Kindern nach London. „Unser liebster Ort in der Welt“, sagt Sydney Mintle. Als ihr Mann starb, da hatten sie sich längst für eine besondere Form der Bestattung entschieden: die Reerdigung. Das Unternehmen Recompose in Seattle sorgte mit seiner Aufbewahrung in speziellen Kokons dafür, dass Jeff Mintle innerhalb von wenigen Wochen oberirdisch zu Erde wurde. Und diese Erde bekamen nicht nur Freunde und Verwandte für den heimischen Garten, als Zeichen ewiger Verbundenheit. Nein, die Familie Mintle nimmt seitdem in jedem Sommer etwas Erde in speziellen Behältern mit auf Reise – und gibt etwas davon an geliebte Orte. Die erste Reise führte sie in den Londoner Hyde Park. „Das machte die ersten Reisen ohne Jeff zu etwas Besonderem und gab eine greifbare Möglichkeit, Jeffs Liebe für diese Orte zu ehren“, sagt seine Frau Sydney.
Gesetze mussten geändert werden
Es gibt viele solcher Geschichten von Menschen, die seit 2020 durch die Hilfe des Unternehmens Recompose oberirdisch zu Erde wurden. Robert Michael Cantisano etwa aus North San Juan, den alle nur „Amigo“ nannten, ein Pionier der kalifornischen Bio-Landwirtschaft, einer der ersten Kunden von Recompose, dessen Erde natürlich auf seiner Farm landete. Der Bio-Bauer hätte sich ansonsten wohl verbrennen und die Asche ausstreuen lassen – wäre da nicht Katrina Spade gewesen. Die 47-Jährige mit dem markanten Kurzhaarschnitt ist die treibende Kraft hinter dem Prinzip der Natural Organic Reduction, wie sie die Kompostierung von Menschen nennt. Sie hat fast ein Jahrzehnt in Planung, Forschung und Fundraising gesteckt und in eine Kampagne, die Bestattungsgesetze im US-Bundesstaat Washington zu ändern. Ende 2020 hatte sie ihr Ziel erreicht: Ihr Unternehmen Recompose verwandelt Menschen in Erde. Seitdem setzt Spade mit ihrem Team auf Expansion – in immer mehr US-Bundesstaaten ist die Art der Bestattung mittlerweile erlaubt. Und auch in Deutschland ist es längst ein Thema.
Bestattungen sind ein Multimilliarden-Markt. Allein in Deutschland starben im Jahr 2024 knapp mehr als eine Million Menschen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes hat sich der Jahresumsatz der Bestatter in Deutschland seit 2009 um mehr als ein Drittel auf mehr als zwei Milliarden Euro erhöht, dazu kommen viele angeschlossene Branchen, darunter Steinmetze oder Floristen. Und der Markt wächst: Auch die Babyboomer sterben, nach Angaben des Statistischen Bundesamtes könnte bis 2050 die Zahl der Toten in Deutschland pro Jahr auf 1,1 Millionen Menschen steigen. In den USA liegt der Jahresumsatz der Bestatter bei rund 13 Milliarden Euro. Eine durchschnittliche Erdbestattung kostet in Deutschland nach Recherchen des ehrenamtlich geführten Informationsportal Todesfall-checkliste.de rund 13.000 Euro, die Verbraucherinitiative Aeternitas geht von etwa der Hälfte aus, Urnenbestattungen sind in der Regel günstiger und schon ab einem knapp vierstelligen Betrag zu haben. Fast 70 Prozent der Verstorbenen werden hierzulande in einem der rund 160 Krematorien verbrannt. Heute begleiteten die beiden großen christlichen Kirchen nur noch etwa die Hälfte aller Bestattungen, vor 20 Jahren waren es noch 71,5 Prozent. Dazu passt auch die seit Jahren steigende Nachfrage nach erdnahen Bestattungen, etwa in sogenannten Friedwäldern. Das ökologische Bewusstsein nimmt auch in Deutschland zu, ebenso der Wunsch nach einer Bestattung ohne jahrelanges Kümmern. Viel Raum also für eine Nische, in die Unternehmen wie Recompose passen könnten. Mit einem Basispreis für eine Recompose-Bestattung von rund 4.500 Euro liefert das Unternehmen nicht gerade einen Kampfpreis, ist aber durchaus bezahlbar für die Klientel: eher gebildete, überdurchschnittlich verdienende Großstädter. Bei der National Funeral Directors Association NFDA, dem Dachverband der US-Bestatter, glaubt man an das Potenzial von Recompose und anderen „grünen Bestattungen“. „Trends bei Bestattungen beginnen in der Regel an der Westküste und breiten sich von dort aus“, sagt ein Sprecher. In Westküsten-Staaten wie Washington hatte die Feuerbestattung die Erdbestattung als erstes in der Beliebtheit überholt.
Katrina Spade hatte die Geschäftsidee nach der Geburt ihrer Tochter. Der Beginn des Lebens brachte sie dazu, über das Ende nachzudenken. Sie recherchierte und war schockiert über die gängigen Bestattungen und ihre Folgen. Feuerbestattungen verbrauchten ihr zu viel Energie und verursachten zu viele Emissionen, Erdbestattungen benötigten zu viele Rohstoffe und den in der Stadt kostbaren Platz. Einen würdevollen Weg, wieder mit der Natur eins zu werden und ihr nicht zu schaden, fand sie nicht – und machte sich auf die Suche.
Spade ist auf einer Farm in Neuengland aufgewachsen und erinnerte sich daran, dass man dort Tiere kompostierte, statt sie zu verbrennen. Die damalige Architekturstudentin schrieb 2013 ihre Masterarbeit, Titel: „Of Dirt and Decomposition: Proposing a Place for the Urban Dead.“ - Kompostierung war also ihr „Vorschlag für einen Ort für die städtischen Toten“. Der Grundstein für Recompose war gelegt.
In Deutschland ist die Reerdigung – also die sogenannte Humankompostierung – derzeit nur in Schleswig-Holstein im Rahmen eines Pilotprojekts legal. Mit dabei: das Unternehmen „Meine Erde“. Das Unternehmen pachtet dafür freie Friedhofskapellen. Bei der Reerdigung wird der verstorbenen Körper in einem sargähnlichen Behältnis in Heu und Stroh gebettet. In diesem für 40 Tage fest verschlossenen Kokon findet die Transformation statt, Mikroorganismen machen aus dem Körper und den Pflanzen organische Erde. Diese darf gemäß geltender Friedhofspflicht nur auf Friedhöfen in Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg beigesetzt werden. Pablo Metz, Co-Gründer, von „Meine Erde“: „Wir wollen Menschen sowie unserer Erde etwas Positives anbieten und diesen Wandel aktiv gestalten.“ Im März 2022 gab es die erste Reerdigung in Mölln, die Erde wurde später auf dem Parkfriedhof Ohlsdorf in Hamburg ausgebracht. Die Einführung dieser Methode ist auch Lobbyarbeit – auch Metz und seine Mitstreiter müssen den Weg gehen, den Katrina Spade von Seattle aus beschritten hat. Der Weg ist weit und steinig, aber es gibt erste Erfolge. Anfang 2024 änderte Schleswig-Holstein sein Bestattungsgesetz und erlaubt seitdem die Erprobung neuer Bestattungsarten. In Berlin, ein Markt, auf dem „Meine Erde“ gerne bald aktiv werden würde, verfolgt man nach Angaben der Verwaltung die Testphase in Schleswig-Holstein.
Leichnam wird in Pulver verwandelt
Die Suche nach alternativen Bestattungsmethoden ist nicht neu. Die schwedische Biologin Susanne Wiigh-Mäsak hat schon vor 30 Jahren eine Technik gefunden, bei der Verstorbene schneller zu Humus umgewandelt werden als bei einer Erdbestattung. Bei der Promession genannten Methode wird der Leichnam bei minus 190 Grad Celsius gefriergetrocknet und dann durch Rütteln in grobes Pulver verwandelt. Das Pulver wird in einem kompostierbaren Sarg beigesetzt und ist nach spätestens 18 Monaten Humus. Das Verfahren ist in dutzenden Ländern patentiert, steht sogar im niedersächsischen Bestattungsgesetz. Der Bau einer ersten Anlage in Schweden scheiterte an der Finanzierung. Die Entwicklerin Susanne Wiigh-Mäsak ist vor einigen Jahren gestorben.
Katrina Spade wollte in kürzerer Zeit und mit weniger Energieaufwand ans Ziel: zu echter Erde. Bei ihrer Suche traf sie auf Lynne Carpenter-Boggs, Professorin für Bodenkunde an der Washington State University. Die forschte längst zur Kompostierung von Tieren – und war begeistert von der Idee. Sechs Menschen spendeten ihren Körper nach dem Tod für ein Pilotprojekt. Das zeigte: Die Humankompostierung funktioniert.
Bei dem Prozess werden die Toten auf ein Bett aus Holzspänen, Luzerne und Stroh gelegt. Sensoren messen alle zehn Minuten die Temperatur. „Dies ist ein sehr kontrollierter Prozess, der vollständig von Mikroben angetrieben wird“, sagte Gründerin Spade. Recompose muss sicherstellen, dass das Material für mindestens 72 Stunden eine Mindesttemperatur von 55 Grad Celsius erreicht, damit Krankheitserreger wie Salmonellen sicher beseitigt werden. Die US-Umweltschutzagentur EPA führt regelmäßige Untersuchungen des am Ende des Prozesses verbliebenen Materials auf solche Erreger und auf Schwermetalle wie Arsen, Blei und Quecksilber durch. Nach einiger Zeit in einer Ruhekammer, in der weiteres Kohlendioxid austreten kann, bleibt von den Verstorbenen und dem anderen organischen Material etwa ein Kubikmeter Erde. Fremdstoffe wie Prothesen werden aussortiert und, wenn möglich, recycelt. Die Kompostierung erzeugt viel Wärme. Gründerin Spade: „Stellen Sie sich vor, Sie nutzen diese Wärme, um Energie zu erzeugen und die Trauernden an einem kalten Tag zu trösten. Die Revolution der Bestattungsbranche hat begonnen.“ Seit Mai 2020 ist die Methode im Bundesstaat Washington durch das Gesetz SB 5001 erlaubt. Die Nachfrage bei Recompose war schon zu Beginn enorm: Hunderte Menschen hatten schon vor der Eröffnung angefangen, Geld auf ein Treuhandkonto einzuzahlen. Seitdem wächst das Unternehmen.
Beinahe wäre der Start gescheitert
In der Bestattungsszene wird Recompose aufmerksam verfolgt, bedient es doch die wachsende Nachfrage nach einer naturnahen letzten Ruhe. In den USA setzen weitere Unternehmen auf oberirdische Kompostierung. Katrina Spade, die ihr Verfahren zum Patent angemeldet hat, sieht mögliches Kopieren gelassen: Die Welt brauche mehr ökologische Bestattungen. Um wirklich etwas zu erreichen, müsse es neben Recompose noch andere Akteure geben. Dank der Pionierarbeit von Spade ist das Verfahren heute in 13 US-Bundesstaaten gesetzlich erlaubt – doch nicht überall wird es umgesetzt. In Kalifornien etwa tritt das Gesetz erst 2027 offiziell in Kraft.
Beinahe wäre Recompose aber kurz vor dem Start noch gescheitert. Bei einer Finanzierungsrunde Anfang 2020 hat Spade schon einen großen Teil der anvisierten 6,75 Millionen Dollar eingesammelt. Alles schien bereit für den 1.700 Quadratmeter großen, modernen Sakralbaus im Hafenviertel SODO in Seattle, mit Bäumen, die für Zeremonien verschoben werden können, und Platz für die wiederverwertbaren Stahlkokons, alles geplant vom renommierten Architekturbüro Olson Kundig aus Seattle, Eröffnung Anfang 2021. Dann kam das Coronavirus, Investoren zogen sich zurück, gleichzeitig drohten sich die Baukosten zu verdoppeln. Das Projekt stand vor dem Ende.
Doch Spade fand die Lagerhalle im Vorort für den Übergang. Der Beginn der Revolution, wie Katrina Spade ihr Projekt unbescheiden nennt, verlief still. Am 20. Dezember 2020 wurden die ersten Verstorbenen in die Metallgefäße gelegt. Schon nach wenigen Tagen waren die zehn Gefäße in der Lagerhalle gefüllt. Mittlerweile ist das Unternehmen tatsächlich ins Industrieviertel SODO südlich der Innenstadt von Seattle gezogen. Heute stehen 33 Kokons in einer lichtdurchfluteten Halle, die Interessierte auch besichtigen können.
Einer der Hauptgründe von Spades Suche nach einer Alternative: die Ökobilanz. Recompose gibt an, dass bei seiner Methode pro Verstorbenen zwischen 0,84 und 1,4 Tonnen Kohlendioxid gegenüber konventioneller Bestattung eingespart würde. Außerdem sei der Boden weitgehend frei von Schadstoffen. Gründerin Spade: „Das Material, das wir den Familien zurückgeben, ähnelt dem Mutterboden, den sie in ihrer örtlichen Gärtnerei kaufen würden.“
Schnellerer Verfall als in der Natur
Bis ein Mensch in der Natur zu Erde wird, kann es dauern. Die meisten Friedhöfe haben Ruhezeiten von 25 bis 30 Jahren – danach sollte der komplette Körper verwest sein. Wenn in der Natur ein Lebewesen stirbt, wird der Körper erst durch größere Lebewesen zerkleinert, also durch Säugetiere, Fliegen, und Würmer. Danach haben dann Pilze und andere Mikroorganismen viel Platz, um die endgültigen Zerkleinerungs- und Umsetzungsarbeiten zu erledigen. Die Zersetzung verläuft im Recompose-Prozess ungewöhnlich schnell. Ganz ohne menschlichen Eingriff geschieht dieser aber nicht. Neben der Steuerung von Sauerstoffgehalt, Temperatur und Luftfeuchtigkeit im Behältnis durchmischen die Mitarbeiter von Recompose die sterblichen Überreste und das andere organische Material mehrmals während des Prozesses. Eventuell verbliebene Knochenfragmente und Zähne werden dabei aufgebrochen, die Zersetzung beschleunigt.
Ein Problem für Recompose: Nicht jeder Kunde hat eine eigene Farm. Zwar nehmen viele Angehörige etwas Erde mit, die sind dann an einem Lieblingspark hinterlassen oder unter einem Baum im Garten ausbringen. Doch die meisten können nicht den ganzen Kubikmeter Erde mitnehmen, der bei der Reerdigung entsteht. Katrina Spade und ihr Team arbeiten deshalb mit mehreren Organisationen zusammen. Eine ist Bells Mountain, hier kümmert man sich um rund 700 Hektar Land im Süden Washingtons, die als Schutzgebiet eingetragen sind. Der Boden war durch jahrzehntelange Monokulturen und den Einsatz von Herbiziden zerstört worden. Die Erde der Recompose-Kunden soll also helfen, die Bodenqualität und die Artenvielfalt zu verbessern. Es ist ein schöner Ort hier, eine halbe Stunde von der hippen Stadt Portland entfernt. Auch Gründerin Spade will hier ihre letzte Ruhe finden, mit Blick auf den Vulkan Mount St. Helens.