Der slowenische Tour-Dominator ist nicht am Start, der deutsche Shootingstar auch nicht – viel spricht bei der Spanien-Rundfahrt für Jonas Vingegaard. Der Däne will mit dem Roten Trikot die Saison retten.
Nach dem Trubel beim größten Radrennen der Welt, das er als neuer deutscher Radsport-Held beendet hatte, brauchte Florian Lipowitz viel Abstand und vor allem Ruhe. Für eine Woche flüchtete der 24-Jährige zu seinen Eltern in die schwäbische Idylle. Dort war Lipowitz nicht der umjubelte Tour-Dritte und Gewinner des Weißen Trikots für den besten Jungprofi, sondern einfach nur Florian. Der Abstecher in die Heimat war gut für die Seele – und für den Bauch. „Und daheim gibt’s eine Portion Linsen mit Spätzle. Typisch schwäbisch“, hatte Lipowitz voller Vorfreude schon während der Tour gesagt. Nach dem Heimatbesuch ging es mit Freundin Antonia und deren Eltern in den Kurzurlaub nach Südtirol. Zeit mit der Familie und den Liebsten zu verbringen, sei für ihn „die schönste Belohnung“, sagte Lipowitz. Er wolle „den Moment genießen“ und die Pause nutzen, um die Beine auszuruhen und den Kopf wieder klarzubekommen. Doch um vollauf zu begreifen, welche Großtat er während der dreiwöchigen „Großen Schleife“ durch Frankreich geleistet hat, wird die Pause vermutlich nicht reichen.
Erwartungen sind gestiegen
Und die große mentale Herausforderung wartet erst noch: Die Erwartungen an den Jungstar des Red-Bull-Rennstalls sind sprungartig gestiegen. Plötzlich werden vom Quereinsteiger die ganz großen Siege erwartet, zumindest aber erhofft. „Ich sage ganz klar: Ja, Florian kann die Tour gewinnen“, sagte Ex-Star Jan Ullrich der „Sport Bild“. Der Tour-Gewinner von 1997 schob aber auch ergänzend hinterher: „Aber das ist ein weiter, harter Weg.“ Nicht nur Lipowitz muss sich dafür stetig steigern, sondern auch sein Team qualitativ besser werden. Dass sich Red Bull/Bora-hansgrohe ab 2026 die Dienste von Doppel-Olympiasieger Remco Evenepoel gesichert hat, wertet Lipowitz als gutes Zeichen: „So ein Fahrer tut einem Team immer gut.“ Doch wird er mit dem Belgier als Doppelspitze auch funktionieren und sich mit ihm arrangieren? „Wenn er kommt“, hatte Lipowitz vor der offiziellen Bekanntgabe der Verpflichtung gesagt, „werden wir sehen, ob wir uns ergänzen und zusammen viel erreichen“. In den Sternen steht die Zukunft des Slowenen Primož Roglic, der als Red-Bull-Kapitän in die Tour gestartet war.
In der kommenden Saison wird also vieles neu und anders beim deutschen Team. Den Rest des laufenden Jahres wird Lipowitz eher konservativ angehen, geplant waren für ihn noch die Eintagesrennen in Kanada im September sowie die italienischen Herbstklassiker. Die Lombardei-Rundfahrt im Oktober kann er sich sehr gut als gelungenen Saisonabschluss vorstellen. „Das wäre noch mal ein Highlight für mich in dieser Saison, da möchte ich gut fahren“, sagte er. Auch ein Start zuvor bei der Straßenrad-WM vom 21. bis 28. September, die erstmals in einem afrikanischen Land ausgetragen wird, reizt den deutschen Profi. Dass er bei der dritten und letzten großen Rundfahrt des Jahres teilnimmt, galt aber als nahezu ausgeschlossen. Bei der Vuelta a España vom 23. August bis 14. September sollen andere Red-Bull-Fahrer für Furore sorgen, Lipowitz bekommt eine Pause. „Wir wollen ihm die nötige Erholung geben, damit er sich aufs nächste Jahr konzentrieren kann“, sagte Red-Bull-Teamchef Ralph Denk.
Pogacar benötigt eine Pause
Doch nicht nur Lipowitz verzichtet freiwillig auf die 80. Ausgabe der Spanien-Rundfahrt. Auch Tour-Dominator Tadej Pogacar gab bekannt, dass er – anders als ursprünglich geplant – beim Start in Turin nicht dabei sein wird. „Nach einer so anspruchsvollen Tour haben wir beschlossen, eine Pause einzulegen“, sagte der slowenische Radstar: „Die Vuelta ist natürlich ein Rennen, an dem ich sehr gerne teilnehmen würde. Ich habe fantastische Erinnerungen an 2019, aber jetzt sagt mir mein Körper, dass ich mich ausruhen muss.“ Vor sechs Jahren hatte Pogacar in seiner Premierensaison für das UAE-Team drei Etappen bei der Vuelta gewonnen und angedeutet, was für ein Ausnahme-Potenzial in ihm steckt. Bei seinem Debüt bei einer Grand Tour war er im Alter von 20 Jahren der jüngste Teilnehmer gewesen – und auf Anhieb einer der stärksten. Inzwischen beherrscht Pogacar den Profiradsport wie vor ihm nur ganz wenige, auch die diesjährige Tour de France war eine beeindruckende Machtdemonstration des Slowenen. Doch Beobachtern fiel auf, dass der Mann im Gelben Trikot diesmal weniger Esprit, Freude und Angriffslust ausstrahlte. Dazu passten die Aussagen, die er nach seinem vierten Tour-Triumph tätigte: „Ich habe die Kilometer bis Paris gezählt und konnte kaum erwarten, dass es vorbei ist.“ Er könne nun „endlich wieder ein paar andere schöne Sachen in meinem Leben machen“.
Klingt so jemand, der seine Dominanz-Ära noch lange ausbauen und weiteren Rekorden nachjagen will? Pogacars Verhalten und Aussagen gaben jedenfalls reichlich Anlass für Spekulationen. „Er ist mürrisch, fast depressiv. Das ist weder gut für ihn, noch für das Team oder die Tour. Er sendet eine Botschaft: ‚Es ist fast zu einfach, ich langweile mich‘“, meinte Ex-Profi Jérôme Pineau. Das war sogar der Fall, gab Sportdirektor Matxin Fernández in der spanischen Sportzeitung AS zu. „Er liebt den Wettstreit. Ab dem Moment, in dem wir auf die Angriffe der anderen warten mussten, amüsierte er sich nicht mehr“, sagte Fernández: „Angreifen liegt in seiner Art, aber mit einem Vorsprung auf den Zweiten, der vier Minuten beträgt, muss man auch an den Rest der Rundfahrt denken.“ Sein einzig ernsthafter Konkurrent Jonas Vingegaard ließ früh erkennen, dass er nicht die Beine hatte, um Pogacar diesmal ernsthaft herauszufordern und zu attackieren.
Ermüdet die Dominanz den Dominator etwa selbst? So wie Teile der Fans? Zumindest wird Pogacar immer häufiger nach dem Ende seiner Karriere gefragt, obwohl der 26-Jährige seine besten Radfahrerjahre vielleicht noch vor sich hat. „Ich glaube nicht, dass ich sofort aufhören werde, aber ich sehe auch nicht, dass ich allzu lange weitermache“, sagte er der französischen Sportzeitung „L’Équipe“. Die Olympischen Spiele 2028 in Los Angeles seien ein großes Ziel, „was mich zu einem Zeithorizont von drei Jahren bringt“. In dieser Saison hat Pogacar noch die WM in Afrika, die ihm mit dem schweren Bergkurs sehr liegen dürfte, im Blick. Und genau wie Lipowitz wird er die kanadischen Rennen in Québec und Montréal in Angriff nehmen. Bei der anstehenden Vuelta bekommen aus dem UAE-Team stattdessen der Portugiese João Almeida und der Spanier Juan Ayuso als Co-Kapitäne alle Freiheiten. Für Almeida ist es auch eine Belohnung für die großartigen Helferdienste für Pogacar bei der Tour. Nach einem Sturz hatte er aber frühzeitig aufgeben müssen.
Vingegaard dürfte auf einen Start von Pogacar gehofft haben. Die erneute Niederlage bei der Tour nagt am Stolz des ehrgeizigen Dänen, vor allem der große Rückstand beim Einzelzeitfahren war ein heftiger Schlag. „Vingegaard zertrümmert!“, titelte die dänische Zeitung „Ekstrabladet“. Dass es am Ende trotzdem zum zweiten Platz auf dem Podium noch vor Lipowitz gereicht hat, tröstete Vingegaard nur wenig. Der Tour-Sieger von 2022 und 2023 wollte unbedingt seinen sportlichen Erzrivalen Pogacar schlagen – doch der erwies sich erneut als eine Klasse besser. Der Rückstand von 4:24 Minuten war fast noch schmerzhafter als der verpasste Sieg. Bei der Vuelta ist Pogacar aber nicht am Start, Vingegaard somit klarer Favorit. Und nichts anderes als das Maillot Rojo, das Rote Trikot für den besten Rundfahrer der diesjährigen Ausgabe, will Vingegaard spätestens auf der Schlussetappe nach Madrid tragen und verteidigen. Nach einer Woche Pause freue er sich „schon darauf, wenn die Vuelta beginnt“, sagte der 28-Jährige.
Vingegaards Stolz hart getroffen
Für seinen insgesamt dritten Triumph bei einer Grand Tour passen alle Voraussetzungen – nicht nur, weil Pogacar und Lipowitz abwesend sind. Auch bietet Vingegaards Team Visma die wohl stärkste Mannschaft im Feld auf. Wie schon bei der Tour de France kann sich Vingegaard auf die Dienste seiner Edelhelfer Sepp Kuss und Matteo Jorgenson verlassen. Der Amerikaner Kuss hatte die Vuelta vor zwei Jahren selbst gewonnen, doch diesmal dürfte er nur für seinen Kapitän fahren. Aber zu viele Topfahrer in einem Team können auch ein Problem sein. Auch bei der Tour de France agierte Visma mit den vielen Stars, zu denen auch Klassiker-Spezialist Wout van Aert und Etappenjäger Simon Yates gehören, nicht immer taktisch klug. „Wenn ich mir Vismas Taktik ansehe, ist das, als würde ein Hund seinen eigenen Schwanz jagen“, sagte Ex-Profi Brian Holm: „Sie wirken oft planlos.“
Das wäre bei der 80. Ausgabe der Vuelta fatal, denn dort gilt das Mannschaftszeitfahren über 20 Kilometer auf der fünften Etappe als ein Schlüssel zum Erfolg. Zudem gibt es ein Einzelzeitfahren auf der 18. Etappe in Valladolid, bei dem es gleich zu Beginn mit einem knackigen Anstieg ordentlich zur Sache geht. Allerdings waren Vingegaards Leistungen im Kampf gegen die Uhr zuletzt wechselhaft. Zudem ist nicht klar, wie er die höchst anspruchsvollen drei Wochen bei der Tour de France verkraftet hat – körperlich wie mental. Ein Selbstläufer wird es keineswegs, ins Rote Trikot zu fahren und es bis zur Schlussetappe in Madrid erfolgreich zu verteidigen. Der enorme Erfolgsdruck spricht ebenfalls gegen den Dänen. Er müsste sich bei einer weiteren Niederlage noch stärker hinterfragen, die Verantwortlichen des sehr teuren Visma-Teams würden noch stärker in Erklärungsnot geraten. Bei einem Sieg könnte Vingegaard die Saison aber noch als kleinen Erfolg verbuchen – aber auch nur dann. Er startet zum dritten Mal beim traditionsreichen Rennen, bei dem er bislang die Plätze 46 (2019) und 2 (2023) belegt hatte.