Generalprobe für die Sanierung am Stück war die Riedbahn zwischen Frankfurt am Main und Mannheim. 70 Kilometer in sechs Monaten. Nun geht es weiter mit Totalsperrung und Sanierung der Strecke Berlin–Hamburg. Die Auswirkungen für die Pendler sind beträchtlich.
Es ist das bislang größte Sanierungsvorhaben in einem Stück in der Geschichte der Bahn: Innerhalb von einem Dreivierteljahr sollen mit mindestens 2,2 Milliarden Euro knapp 280 Bahnkilometer generalsaniert werden. Insgesamt sollen 165 Kilometer Gleise inklusive Unterbau komplett erneuert, dazu fast 250 Weichen ersetzt beziehungsweise neu eingebaut werden. So sollen zusätzliche Ausweichgleise für Zugüberholungen entstehen. Zudem sollen sechs Stellwerke ebenfalls komplett neu gebaut und weitere 19 von Grund auf erneuert werden. Allein für die Dimensionen der reinen Streckensanierung hätte die Bahn bis vor zwei Jahren mindestens drei Jahre und nicht wie jetzt gerade einmal neun Monate geplant. Die Arbeiten am Gleiskörper sollen bereits bis zum Jahresende erledigt sein, um dann mit den Oberleitungen sowie der Leit- und Sicherungstechnik fortzufahren. Dazu werden obendrein 28 Bahnhöfe zwischen Berlin und Hamburg durch umfangreiche Bauarbeiten modernisiert.
30.000 Reisende in über 500 Zügen
Direkt betroffen von der Generalsanierung: mindestens 30.000 Reisende, die täglich in über 500 Zügen auf der Strecke unterwegs sind. Wobei es da, wenn man so will, Klassenunterschiede gibt. Die Fernverkehrsverbindungen zwischen Berlin und Hamburg, also IC und ICE-Züge, verkehren umgeleitet weiter zwischen den beiden Metropolregionen. Allerdings hat sich die Fahrzeit um mindestens 45 Minuten verlängert, da jetzt über Stendal und Salzwedel ausgewichen wird. Pferdefuß: Der Ausweichverkehr läuft über eine ebenfalls völlig überlastete Trasse, sodass die Fahrzeiten anstelle der bisherigen durchschnittlichen 103 auch schon mal an die 200 Minuten heranreichen können.
Besonders hart trifft es auf der 1846 eröffneten Strecke, die Deutschlands erste Schienenfernverbindung überhaupt war und heute die meistbefahrene ist, die Pendler. Und das gleich in fünf Bundesländern: Der zweispurige Schienenstrang durchschneidet Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Hamburg. So fahren zum Beispiel zwischen Hamburg und der Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin, nur noch Busse. Damit sind in ganz Westmecklenburg ebenfalls Tausende Pendler betroffen, die aber, laut Fahrgastverband „Pro Bahn“, in der Gesamtaufrechnung der Generalsanierung überhaupt nicht auftauchen, weil sie von dem Projekt ja nur indirekt betroffen sind.
Ähnlich geht es den Fahrgästen in den Kreisstädten Stendal in Sachsen-Anhalt und dem niedersächsischen Uelzen. Dort wird zwar nicht gebaut, aber die Regionalzüge können trotzdem nicht fahren, da auf ihren Gleisen nun die Fernzüge Berlin-Hamburg umgeleitet werden. Für mehr Verkehr ist kein Platz, da auch Teile des Güterverkehrs jetzt darüber laufen.
Beinahe genau in der Mitte der Sanierungsstrecke, direkt an der Elbe, liegt das brandenburgische Wittenberge. Sozusagen wiederauferstanden aus den Verwerfungen durch das Ende der DDR und nun Boom-Town in der Prignitz zwischen den Metropolen an Elbe und Spree. Nachdem sich nach der Wende die Einwohnerzahl von Wittenberge mehr als halbiert hatte, leben heute wieder gut 17.000 Menschen dort. Großer Standortvorteil: Hamburg und Berlin sind mit dem ICE in gut anderthalb Stunden zu erreichen. Aus beiden Städten haben sich dort also nicht nur zahlreiche Familien, sondern ganze Start-ups niedergelassen, weil die Mieten bezahlbar sind und genug Platz da ist. Doch nun braucht man von Wittenberge bis Ende April kommenden Jahres mindestens drei Stunden mit dem Bus nach Hamburg oder Berlin – eher mehr. Täglich pendeln hat da keinen Sinn mehr. Ein Ärztehaus stand kurz vor der Schließung, weil ein guter Teil des medizinischen Personals aus Berlin oder Hamburg kommt. Nun hat man einen Notfallplan in Zusammenarbeit mit der Stadt erarbeitet: Das Personal kommt nun nicht mehr nur für einen Tag, sondern für zwei oder drei, bleibt damit über Nacht und die Kosten dafür übernimmt Wittenberge.
Der parteilose Bürgermeister Oliver Hermann trägt die Generalsanierung der Strecke mit Fassung: „Augen zu und durch“, sagt er. Ähnlich wie seine Amtsleiterkollegen in den anderen betroffenen Städten und Kreisen hat Bürgermeister Hermann nur eine Bitte: „Keine Bauverzögerungen!“ Was bei dem gigantischen Umfang der Bauarbeiten tatsächlich aber niemand ausschließen kann. Stichwort Wetter.
„An allen Ecken und Enden gesparrt“
Bei der Bahn hat man für die Kritik an der Totalsperrung vollstes Verständnis, aber aus Sicht von Bahnchef Richard Lutz ist es für alle Beteiligten der beste und effizienteste Weg, „ansonsten hätten wir über Jahre zwischen Berlin und Hamburg ständig Streckensperrungen“, sagt er im FORUM-Gespräch. Im wahrsten Sinne des Wortes: Streckensanierung mit der Brechstange. „Über 30 Jahre wurde bei der Bahn an allen Ecken und Enden gespart. Der Bahnvorstand hat in all den Jahren immer wieder davor gewarnt, doch wir waren bis vor wenigen Jahren offenbar nicht interessant genug“, moniert er. Nun sei plötzlich viel Geld da, so Richard Lutz, und darum soll jetzt alles ganz schnell gehen, „nur das funktioniert nun mal nicht von heute auf morgen“, gibt sich Lutz gegenüber seinen Kritikern selbstbewusst.
Die Riedbahn und die Strecke Berlin–Hamburg sind nur der Beginn zum Aufbau einer wieder vollumfänglich funktionierenden Bahninfrastruktur. Am Ende soll mal ein deutschlandweiter ICE-Ein-Stunden-Takt stehen. Insgesamt müssen vorher allerdings noch weitere 39 Bahnkorridore von Grund auf neu gemacht werden. Und das bis 2031, so die Planung vor zwei Jahren. Doch Lutz musste nun im Sommer den Zeitplan wieder kassieren. Jetzt soll bis 2035, also vier Jahre später, die Bahn in ihrem Fernbahn-Grundstock komplett erneuert sein. Offiziell heißt es, die Bauindustrie käme mit ihren Kapazitäten gar nicht so schnell hinterher. Bahnbau ist Spezialbau, schon allein wegen der Gerätschaft für die Strecken, die unter anderem gleisfähig sein muss.
Geld ist auf jeden Fall, dank des Sondervermögens Infrastruktur, genug da. Bis 2029 stehen laut Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder (CDU) 100 Milliarden Euro für die Bahn bereit. Zehn Milliarden davon sollen nur in die Digitalisierung der Bahn gesteckt werden, Dreh- und Angelpunkt für eine wesentlich effizientere Ausnutzung der Haupttrassen. Zentral dafür steht das Zugbeeinflussungssystem ETCS (European Train Control System). Die für jeden Bahnfahrer sichtbaren Signalmasten oder ebenerdigen Kästen neben den Gleisen sollen verschwinden. Statt mit Signalen befahrene Strecken bei Rot über Kilometer der Länge nach zu blockieren, sollen zukünftig die Züge miteinander in Verbindung stehen und sich so gegenseitig auf dem nötigen Abstand halten. Das heißt: Auf einem heutigen Abschnitt könnten dann zwei oder drei Züge hintereinander gleichzeitig fahren. Bislang kann das nur einer.
Doch weder auf der neuen Riedbahn noch jetzt zwischen Berlin und Hamburg wurde beziehungsweise wird ETCS betriebsbereit eingebaut, sondern nur vorinstalliert. Der Aufwand wäre in der kurzen Zeit zu groß und kompliziert gewesen, heißt es von der Bahn. Die Digital-Nachrüstung soll dann in einigen Jahren im laufenden Betrieb nachgeholt werden. Grundvoraussetzung für die volle Digitalisierung des Zugbetriebs auf den Haupttrassen ist eben erstmal die grundsätzliche Sanierung der Schienenstränge. Dafür wird es in den kommenden Jahren noch zu vielen Streckensperrungen kommen. Darauf, wenn schon nicht auf die Züge, können wir uns auf jeden Fall verlassen.