Dinieren wie einst Kaiser Franz Joseph I. und seine Sisi, das geht auch mitten in Kreuzberg – bei einem Besuch im Restaurant „Jolesch“ und mit Spezialitäten des Alpenlandes, wie unsere Autorin festgestellt hat.
Jolesch? Der Name ruft Erinnerungen wach – nicht an ein Restaurant, sondern an eine Frau. Eine Figur, die aus den Seiten der Literatur in meine Vorstellung tritt: resolut, pointiert, klug und voller Wiener Schmäh. Die sagenumwobene Tante Jolesch, von Friedrich Torberg 1975 in seinem gleichnamigen Anekdotenband verewigt, war bekannt für ihre überragenden Krautfleckerl ebenso wie für Aphorismen von zeitloser Brillanz: „Was ein Mann schöner is wie ein Aff, is ein Luxus.“ Auf dem Sterbebett soll sie das Geheimnis ihrer Kochkunst preisgegeben haben: „Weil ich nie genug gemacht hab.“ Auf dem Weg zum Restaurant „Jolesch“ in Kreuzberg hoffe ich insgeheim, dass Tobias Janzen, der Chef de Cuisine, ein anderes Credo pflegt. Vorweg: Ja, das tut er!
Jede Menge Klassiker der Küche Österreichs
Die Webseite lockt mit „österreichischer Küche mit einem modernen Twist“ und „Behaglichkeit“. Zwei Versprechungen, die mich gleichermaßen reizen – das eine für den Gaumen, das andere für die Seele. Und tatsächlich: Kaum betrete ich das Restaurant in Kreuzberg, umfängt mich eine Atmosphäre, die einem wohltuenden Rückzugsort gleicht. Draußen pulsiert der Kiez, drinnen senkt sich ein samtiger Vorhang aus Petrolgrün, dunklem Holz und alten Kronleuchtern über die Sinne. Im Winter lodert sogar Feuer im Kamin; über dem Durchgang zum Speisesaal wacht der mächtig behörnte Schädel eines Rinds – eine Prise Wildheit im ansonsten kultivierten Ambiente. An der Stirnseite des großzügigen Gastraumes eine weitere: Ein wandfüllendes Gemälde erzählt von wilden Meeresfluten.
Sanftheit hingegen verbreiten das Bild eines Kalbes sowie ein kleines Porträt von Franz Joseph I.. Der alte Monarch – sowohl von seiner Gemahlin Sisi im realen Leben als auch von Sissi in der gleichnamigen Filmtrilogie mit Romy Schneider liebevoll „Franzl“ genannt –
blickt ernst, aber nicht ungnädig auf das Geschehen. Sein Lieblingsgericht? Tafelspitz. Und der steht auch auf der „Jolesch“-Speisekarte – serviert in zwei Gängen, wie es sich für einen Kaiser geziemt. Meine kulinarische Begegnung mit Franz Joseph I. wird allerdings erst später stattfinden.
Zehn Gerichte umfasst das Jubiläumsmenü, das das Restaurant „Jolesch“ anlässlich seines 30. Geburtstags im vergangenen Jahr auf seiner Karte hatte – ein Best-of, serviert als Sharing-Menü mit Aperitif für 69 Euro pro Person. Die Aufzählung klingt verheißungsvoll, enthält aber so manche Begriffe, die nur im deutsch-österreichischen Wörterbuch zu finden sind: Lángos, Buchteln, Kren, Topfen, Erdäpfel, Vogerlsalat, Zwetschken. Bei Aubergine, Blumenkohl und Rote Bete wurde hingegen auf Austriazismen – Melanzani, Karfiol und Rote Rübe – verzichtet. Klar ist: Renate Dengg und Max Setrak haben sich mit ihrem Konzept der österreichischen Genusskultur verpflichtet. Das Paar aus Salzburg hat mit dem „Jolesch“ eine kulinarische Institution geschaffen. Auf der Speisekarte: jede Menge Klassiker, zudem Saisonales. Auch an Vegetarier und Veganer ist gedacht. Dazu eine opulente Weinkarte, für die die Sommelière Renate Dengg verantwortlich zeichnet, sowie eine überraschend große Auswahl an Gin und Portwein. Dass das Duo auch mit der erst vor wenigen Wochen übernommenen Rotisserie Weingrün in Berlin-Mitte erfolgreich sein wird, steht für mich außer Frage. Im „Jolesch“ beginnt der Genussreigen mit Fingerfood und bringt die erste Erkenntnis: Lángos ist ein knuspriges, goldbraun gebackenes Fladenbrot, das hier mit Kren (Meerrettich) und 18 Monate gereiftem Vulcano-Schinken, frisch von der Aufschnittmaschine im Gastraum geschnitten, belegt wird. Die Kombination erinnert an eine Brotzeit mit Opernball-Diplom. Der Käferbohnensalat – begleitet von Rettich, Granny-Smith-Apfel und Kürbiskerndressing – bringt Frische und Leichtigkeit. Hier grüßt die Steiermark! Selbstverständlich sind auch andere Bundesländer des Alpenlandes in diesem Menü vertreten. Zum Beispiel Tirol, von wo der Speck stammt, der den zarten Römersalat aufpeppt. Dieser kommt in Begleitung von lauwarmem Blumenkohl und einer sensorischen Offenbarung: Buchteln. Frisch gebackene Hefeklöße – so flaumig, so zart, so aromatisch! Brioche trifft salzige Butter. Innere Behaglichkeit macht sich breit. Und die hält im weiteren Verlauf an: Die Tiroler Schlutzkrapfen entpuppen sich als mit Topfen (Quark) und Kräutern gefüllte Teigtaschen – Bauernkost de luxe.
Von Bauernkost de luxe bis wahrhaft Kaiserliches
Die österreichische Hauptstadt setzt sich mit Saftgulasch und Schnitzel geschmackvoll in Szene. Kenner wissen: Das „echte“ Wiener Schnitzel besteht aus Kalbfleisch und wird von einer zarten Panade wolkenartig umhüllt – so wie im „Jolesch“. Erdäpfel-Vogerlsalat (Kartoffel-Feldsalat), cremiger Gurkensalat und –
sozusagen als Ketchup-Alternative – Wildpreiselbeeren. Die Trilogie wird von einem Zweigelt aus dem Burgenland begleitet. Die österreichische Rotweinsorte, gekreuzt aus St. Laurent und Blaufränkisch, umspielt die deftig-aromatischen Speisen mit erstaunlicher Eleganz.
Meine Gedanken schweifen zu Friedrich Torberg. Der Wiener, der als Jude in den 1930er-Jahren von den Nationalsozialisten verfolgt wurde, floh in die USA und kehrte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in sein geliebtes Wien zurück. Seine letzte Ruhestätte ist auf dem dortigen Zentralfriedhof. Sein Wunsch für die Grabsteininschrift – „Essen war seine Lieblingsspeise“ – wurde leider nicht erfüllt. Ich bin fest davon überzeugt, dass es ihm im „Jolesch“ gefallen hätte.
Zeit für die beiden Desserts: Das zarte Orangensoufflé, verfeinert mit Safran aus Oberösterreich, gleitet federleicht über den Gaumen. Kaiserin Elisabeth, bekanntlich sehr auf ihre schlanke Taille bedacht, hätte sich bestimmt ein Löffelchen davon gegönnt – zumindest bevor es mit warmer Valrhona-Schokoladensauce zur süßen Sünde wird. Komplett verweigert hat sich Sisi angeblich dem zerrissenen Pfannkuchen, einer Kreation des Hofküchen-Pâtissiers. „Na geb’ er mir halt den Schmarren her, den unser Leopold da wieder z’sammenkocht hat“, soll der Kaiser daraufhin gesagt und sich so sehr an der Mehlspeise erfreut haben, dass sie nach ihm benannt wurde. Es ist eine von vielen Legenden, die sich um den Kaiserschmarren ranken. Im „Jolesch“ gibt es „Bad Ischler Kaiserschmarren mit Zwetschkenröster“ – eine Reminiszenz an die kaiserliche Sommerresidenz. Der mollig-weiche Teig, der zarte Knusper des Karamells und die feine Säure der mit Zimt verfeinerten Zwetschken (Pflaumen) – danke, Franzl! Doch Halt, nein, ich tafele nicht im höfischen Kreis, sondern in Berlin-Kreuzberg. Also: Danke an Tobias Janzen und sein Küchenteam!