Wenn die Atlantikstrände an der Algarve verwaisen und milde Temperaturen herrschen, bricht die Wandersaison in der Region Portugals an. Gäste, die zu Fuß unterwegs sind, können neue Fernstrecken und Wanderfestivals entdecken.
Sonnenbank Europas – so nennt sich die im Süden Portugals befindliche Algarve. Zu Recht, nirgendwo zwischen Spitzbergen, Sizilien und Sevilla werden mehr Sonnenstunden gezählt. Selbst im Oktober und November herrschen mit durchschnittlich 17 bis 20 Grad noch sehr milde Temperaturen. Weitere Argumente für den Martinssommer („o verão de São Martinho“) am Atlantik: „Das Meer ist noch warm, aber die Touristenmassen sind weg, überall kehrt eine angenehme Ruhe ein“, schwärmt Eva Herre. „Und sollte doch schon der erste Regen kommen, ist es beeindruckend, wie schnell sich das frische Grün ausbreitet.“ Die gebürtige Augsburgerin weiß, wovon sie spricht, verbringt doch die 70-Jährige bereits mehr als die Hälfte ihres Lebens an der Algarve. Konkret: in Barão de São João bei Lagos, wo sie in ihrem Mal-Atelier Kurse für Freizeitkünstler anbietet.
Festival verbindet Kunst und Wandern
Der Ort hat bei Wanderbegeisterten einen guten Ruf, vor allem wegen des seit 2018 jeweils am ersten Novemberwochenende ausgetragenen „Walk & Art Fest“. „Das Festival ist für mich ein starker Moment der Begegnung: zwischen Kunst und Natur, Ausländern und Einheimischen“, sagt Eva Herre und verweist auf mehr als 80 kostenfreie Angebote. Geführte Wanderungen, Mountainbike-Touren, Vogelbeobachtung und Tai-Chi-Sessions gehören ebenso zum Programm wie Workshops und eine öffentliche Ausstellung lokaler Künstlerinnen und Künstler. Dieses Jahr beteiligen sich wieder mehr als ein Dutzend Mitwirkende an der Open-Air-Galerie. Zudem sind ein Konzert im Kulturzentrum, ein Nachtspaziergang und Workshops zu Wandmalerei (Murals), Eisenblaudruck und Steinbemalung geplant.
Eva Herre beobachtet seit einigen Jahren, dass immer mehr Urlaubsgäste zum Wandern an die Algarve kommen. Insbesondere im Herbst. Das liegt nicht zuletzt an den wunderschönen Wanderwegen. So führt die 2012 eröffnete Rota Vicentina von Lagos über das Cabo de São Vicente bis nach Santiago de Cacém in der Nachbarregion Alentejo. Wobei es sich genau genommen um ein (Rad-)Wegenetz handelt. Neben zwei Dutzend kleinerer Rundwege stechen zwei Hauptrouten heraus: der Caminho Histórico durchs Hinterland sowie der Trilho dos Pescadores, der sich über Sand und schroffe Klippen nah am Ufer entlangschlängelt. Eher kunstvoll-bizarr gibt sich die Felskulisse am Sete Vales Suspensos bei Lagoa. Auch wenn der „Weg der sieben Hängetäler“ nur sechs Kilometer misst, braucht man für ihn wegen der atemberaubenden Blicke auf Felsbögen und Brandungspfeiler gern mehrere Stunden.
Delfine und Wale sind zu sehen
Rund zehn bis zwölf Tage sollte man für die insgesamt rund 300 Kilometer lange Via Algarviana veranschlagen, zumindest wer den uralten Pilgerweg von Alcoutim an der Grenze zu Spanien bis Sagres komplett meistern will. Eine gute Idee, geht es doch nicht nur quer durch die Algarve, sondern auch durch sämtliche Landschaftskulissen. Mal ist es das hügelige Hinterland der Serra de Monchique, mal fruchtbare Täler mit klaren Flüssen, mal Olivenhaine und Korkeichenwälder, mal Akazienmeere. Auf jeden Fall gibt es viel Natur und kleine Dörfer, in denen man nächtigen, essen oder eine Etappe starten kann. Im Übrigen findet auch hier ein Wander- und Kunstfestival statt, das „Festival Caminhadas“.
Es ist kleiner als in Barão de São João und etwas später, nämlich Ende November, doch das Konzept ist ähnlich. Im Fokus stehen dort jedoch Wandertouren rund um die Ernte der rot, gelb und orange leuchtenden Früchte der Erdbeerbäume. Aus ihnen wird Marmelade hergestellt und ein hochprozentiger Schnaps, der Medronho. Der späte Herbst ist dafür Hoch-Zeit. Das gilt an der Küste auch für Delfin- und Walbeobachtungen. Warum? Mehr Tiere, weniger Boote, weniger Menschen. Auch in den insbesondere bei Surfern und Expats beliebten Cafés und Bars von Sagres finden sich wieder freie Plätze, noch ein Pluspunkt für den Spätherbst. Viele haben Open-Air-Terrassen und ermöglichen so attraktive Ausblicke auf die in maurischem Stil mit farbigen Fensterrahmen und prächtigen Rauchfängen ausgestatteten Häuser sowie das nahe Fortaleza. Das erinnert mit seiner 43 Meter Durchmesser großen Windrose an den großen Heinrich den Seefahrer, der von Sagres aus Mitte des 15. Jahrhunderts die Erkundung der afrikanischen Küste vorantrieb. Auch im Blick: die rauen Felsen, denen die Felsalgarve ihren Namen verdankt und die unterhalb des 2.000-Einwohner-Ortes bis zu 50 Meter steil aus dem Atlantik emporragen.
Karge Ebene bricht abrupt ab
Am unweit entfernten Cabo São Vicente, dem Endpunkt der Via Algarviana, sind sie noch höher. Bis zu 70 Meter bricht hier die karge Ebene von Sagres mit ihren Gehöften, Steinruinen und Hinkelsteinen, Relikte der Megalith-Kultur, abrupt ab. Schwer vorstellbar, dass manche Angler, die von hier oben ihre Rute in die tosende Gischt auswerfen, tatsächlich Brassen, Makrelen und Tintenfische an den Haken bekommen. Gut vorstellbar hingegen, dass die romantische Szenerie schon zu etlichen Liebesbeschwörungen geführt hat. Ein Stelldichein am südwestlichsten Ende Europas, nur die untergehende Sonne im weiten Meer im Blick (und den nahen rot-weißen Leuchtturm mit seinem 80 Kilometer weit strahlenden Lichtkegel): Das hat was!