Mit ihrer Geschichte will Hannah Hommel anderen Mut machen. Lange hatte man ihre Schmerzen nicht ernst genommen, nach vielen Jahren als Patientin geht es ihr heute den Umständen entsprechend gut. Viel Halt fanden Hannah und ihre Familie im Ronald McDonald Haus.
Als der Röntgenarzt die Aufnahme der Wirbelsäule sieht, schlägt er wortwörtlich die Hände über dem Kopf zusammen. An diese Szene erinnert sich Hannah Hommel, damals 15 Jahre alt, auch nach elf Jahren genau. Vom Röntgenraum aus sieht sie durch die Glasscheibe die Reaktion des Arztes beim Anblick ihrer Wirbel. Was sie in diesem Moment fühlt, ist paradox: Sie ist erleichtert, obwohl sie weiß, dass die Diagnose nicht gut sein kann. Aber nun hat sie es endlich schwarz auf weiß. Auf dem Bild war eindeutig zu sehen, was der jungen Frau seit Jahren kaum auszuhaltende Schmerzen bereitete und was zuvor von kaum jemandem ernst genommen worden war.
Bei unserem Treffen hat Hannah Hommel die Aufnahmen von damals dabei. Was darauf zu erkennen ist, nennt man umgangssprachlich Gleitwirbel. Das hört sich harmlos an, kann schlimmstenfalls aber zur Querschnittslähmung führen oder eben, wie in Hannah Hommels Fall, zudem dauerhafte, kaum auszuhaltende Schmerzen verursachen. Wer nicht selbst einmal ähnliche Schmerzen gefühlt hat, kann nur schwer nachvollziehen, unter welcher Last Betroffene leiden. Ein Grund, ihnen ihre Beschwerden abzusprechen, sollte das allerdings nicht sein. Bei Hannah Hommel war es so.
Wenn Hannah Hommel so dasitzt, sieht man ihr ihre Krankheit nicht an. Selbst wenn man davon weiß, sucht man auf den ersten und auch den zweiten Blick vergebens nach einem Hinweis darauf. Darüber hinwegtäuschen, dass Schmerzen und Narben – seelisch wie körperlich – immer noch da sind, kann es nicht.
Die Wirbelsäule besteht aus vielen einzelnen Wirbeln, die wie Bausteine übereinander liegen. Normalerweise sind die Wirbel durch Bandscheiben, Gelenke und Bänder stabil miteinander verbunden. Bei einem Gleitwirbel, auch Spondylolisthesis genannt, verschiebt sich einer dieser Wirbel nach vorne oder hinten. Er rutscht also aus seiner normalen Position heraus. Wie bei einem Turm aus Holzklötzen, bei dem sich ein Element verschiebt, wird so die ganze Konstruktion instabil.
Am häufigsten ist die Lendenwirbelsäule betroffen, so auch bei Hannah Hommel. Während bei Erwachsenen meist Abnutzung und Verschleiß ursächlich sind oder ein Unfall vorangegangen ist, tritt die Erkrankung bei jungen Menschen sehr selten auf.
Tatsächlich bemerken viele Betroffene zunächst nur unspezifische Rückenschmerzen. Schon als Kind klagte auch Hannah Hommel über diese Art von Schmerzen. Wo andere wild herumtollten, tat ihr alles weh. In der Jugend gingen die Schmerzen weiter. Trotz zahlreicher Arztbesuche wurde sie nie eingehend untersucht, ein bildgebendes Verfahren wurde nicht angeordnet. Erst wurden ihre Beschwerden als Wachstumsschmerzen abgetan, später war sie eben das Teenager-Mädchen, das gern übertreibt.
Gerade junge Frauen sind oft davon betroffen, dass konkrete Symptome von Ärzten nicht ernst genommen, Beschwerden verharmlost oder stereotypen Ursachen zugeschrieben werden. Das kann weitreichende Folgen für Gesundheit, Selbstbild und das Vertrauen in das Gesundheitssystem haben. Die gesundheitlichen Folgen traten bei Hannah Hommel irgendwann ein. Man riet ihr, mehr Sport zu treiben. Ein großer Irrtum, der alles nur noch schlimmer machte. Irgendwann traten Lähmungserscheinungen an ihren Beinen auf.
Bei stärkerem Wirbelgleiten kann es schlimmstenfalls auch zu neurologischen Ausfällen wie Taubheitsgefühlen oder Muskelschwäche kommen. Bei Hannah Hommel waren sie das Alarmsignal, das nun tatsächlich nicht mehr zu leugnen war.
„Die Menschen dort waren die Engel“
Es stellte sich heraus, dass ihre Wirbelsäule am letzten Lendenwirbel komplett abgebrochen und so weit nach vorne in den Bauch abgerutscht war, dass die Schülerin kurz vor einer Querschnittslähmung stand. Sie erhält absolutes Bewegungsverbot und man rät ihr, sofort einen Spezialisten aufzusuchen. Der Luxemburger Fachmann, den die Familie daraufhin konsultiert, sagt dann aber ebenfalls: „Sie müssen dringend zu einem Spezialisten.” Und der sei er in diesem Fall nicht.
Die Zeit eilt, und die Familie muss schnell entscheiden, wie es weitergeht. So führt ihr Weg Hannah und ihre Eltern ans Universitätsklinikum Homburg. Behandelt wird Hannah dort nicht in der Kinderklinik, sondern in der Orthopädie für Erwachsene. Sie wird schnellstmöglich operiert und bleibt zunächst knapp drei Wochen. Ihre Eltern können im Ronald McDonald Haus wohnen, auch Hannah selbst kann nach einiger Zeit mit dem Rollstuhl dorthin gebracht werden, mit der Familie an einem Tisch sitzen und wieder den Geruch von frisch gekochtem Essen riechen, statt steriler Krankenhausluft. Über die Zeit im Elternhaus, das die Familie nur durch einen Zufall entdeckt hat, kann sie nur Gutes sagen: „Die Menschen dort waren wirklich die Engel, die uns in dieser schwierigen Zeit gesendet wurden. Ich und meine Eltern sind unendlich dankbar, dass es die Möglichkeit gab, dass sie so nah an meinem Krankenbett waren und auch, dass meine zwei Brüder am Wochenende bei mir sein konnten.“
Sie zeigt uns neue Röntgenbilder nach der Operation, dieses Mal sind darauf Schrauben zu erkennen. Der Wirbel wurde zurückgezogen und wieder an seinem ursprünglichen Platz befestigt. Dass das allerdings noch nicht das Ende ihres Leidenswegs war, wusste Hannah Hommel zu diesem Zeitpunkt nicht. „Eigentlich wäre es dabei geblieben, aber leider kam ja vieles anders“, sagt sie heute.
„Nicht den Lebensmut verlieren und kämpfen“
Sie erzählt ihre Geschichte nicht zum ersten Mal und auch nicht zum zweiten Mal, das merkt man bei unserem Treffen. Hannah Hommel ist erstaunlich gefasst, wenn sie von ihrer Verzweiflung berichtet, vom Flehen um Hilfe. „Ich war damals komplett mit meinem Lebensmut am Ende“, sagt sie. Nach der Operation, nach der eigentlich alles gut sein sollte, bekommt sie wieder Schmerzen und merkt, dass etwas nicht stimmt. Ihr Gefühl trügt sie nicht. Bei der Operation ist ein Keim in ihren Körper geraten, der um ein Haar eine tödliche Infektion ausgelöst hätte. „Das Problem war, dass diese Infektion neun Monate lang nicht entdeckt wurde, da weder in Luxemburg noch in Homburg die Ärzte mir geglaubt haben. Mir fehlen die Worte, um zu beschreiben, wie unfassbar schlimm diese Zeit war“, sagt sie heute.
Um ihre Wirbelsäule herum sammelt sich im Laufe dieser Zeit enorm viel Eiter an, der unter anderem die Knochen stark schädigt. Die Entzündung breitet sich immer weiter aus. Zu hören bekommt sie allerdings, die Schmerzen stünden im Zusammenhang mit der Heilung, da müsse sie eben durch. Erst nach über einem halben Jahr gerät sie in der Notaufnahme in Luxemburg an einen Arzt, der sie ernst nimmt. „Ein Endokrinologe hatte Dienst, der eigentlich überhaupt nichts mit der Wirbelsäule zu tun hatte. Er war der einzige Arzt, der sich wirklich mit Herz und Seele sofort an meinen Fall geklammert hat. Und dann ging die ganze Odyssee von vorne los.“ Bis klar war, dass die Ursache eine Infektion war, gingen wieder Wochen ins Land, für Hannah Hommel und ihre Familie eine dramatische Zeit.
Während andere Jugendliche ausgehen, erwachsen werden, sich ausprobieren, kämpft Hannah Hommel im Krankenhaus durch die unkontrollierte Entzündung um ihr Leben. Sie sei „aus dieser jugendlichen Welt in eine komplett andere Welt katapultiert worden“, sagt sie heute. Für den Endokrinologen, der sich damals um sie kümmerte, hat sie emotionale Worte: „Der Arzt hat zu meinen Eltern gesagt, er würde mich jetzt nicht entlassen, denn er würde den Gedanken nicht ertragen, die Nachricht zu bekommen, dass ich mir wegen der Schmerzen das Leben genommen habe“, sagt sie. „Damals war der Endokrinologe in diesem unendlich schwarzen Ozean die Rettungsboje, die mir ein wenig Lebensmut gebracht hat.“
Als klar ist, dass eine Infektion für die Schmerzen verantwortlich ist, überschlagen sich die Ereignisse. Auf neuen Röntgenbildern ist zu sehen, dass die vereiterte Wirbelsäule an der operierten Stelle erneut zusammengebrochen ist und die Implantate bis in den Bauchraum gerutscht sind. Nach fast drei Monaten im Krankenhaus in Luxemburg wird Hannah Hommel wieder nach Homburg gebracht und unter dramatischen Umständen notoperiert. „Vom Transport bis zur Notoperation waren es drei Tage. Mein Vater sagt bis heute, das waren die schlimmsten Tage in seinem Leben“, erzählt Hannah Hommel. Das hat nicht nur mit der Erkrankung an sich zu tun, sondern auch mit dem Umgang der Ärzte mit der Familie. Es kommt zu Auseinandersetzungen, Hilflosigkeit und Wut. Nach der Operation steht der behandelnde Arzt, der sie vorher noch angeschrien hatte, weinend an ihrem Bett.
Die Familie entscheidet sich, für eine weitere Behandlung nach Basel zu gehen. Hier wird Hannah erneut operiert. Sie blättert bei unserem Treffen weiter durch die Mappe mit Aufnahmen ihrer Wirbelsäule, auf denen immer wieder Schrauben, Stäbe, künstliche Bandscheiben zu sehen sind. Wie schon in Homburg kommt die Familie auch in Basel wieder im Ronald McDonald Haus unter und genießt ein wenig Normalität in einer Situation, die alles andere als normal ist.
Das Jahr 2025 sei, mehr als zehn Jahre nach der ersten Diagnose und etliche Jahre nach Beginn ihrer Symptome, das erste Jahr, in dem ihr Leben als Patientin etwas in den Hintergrund gerückt sei, sagt Hannah Hommel, die heute 26 Jahre alt ist. Sie hat den Führerschein gemacht und arbeitet als Ernährungsberaterin. Sie hat Mut geschöpft, dass sie endlich das Leben führen kann, das sie bisher verpasst hat. Dank eines Neurostimulators an der Wirbelsäule, eines Implantats, das elektrische Impulse an das Rückenmark abgibt und den Schmerzreiz im Idealfall ausbremst, konnte sie die starken Schmerzmittel absetzen.
Im Sommer diesen Jahres war Hannah Hommel beim Jubiläumsfest des Ronald McDonald Hauses in Homburg zu Gast und hat ihre Geschichte erzählt. An den Ort zurückzukehren, der für sie schöne und gleichzeitig schlimme Erinnerungen mitbringt, sei eine bewusste Entscheidung gewesen, sagt sie. „Was ich über die Jahre immer wieder mitbekommen habe, ist, dass viele Menschen sich leider in einer ähnlichen Situation befinden“, sagt Hannah Hommel darüber, als Patientin in einer scheinbar ausweglosen Situation zu stecken. „Vielleicht haben diese Menschen nicht dieselbe Diagnose, aber man kann jemandem trotzdem enorm viel Kraft schenken. Ich weiß selbst nur zu gut, dass die Welt der Krankenhäuser, der Operationen und der Ärzte eine eigene, oft einsame Welt ist, in der man nur mit wenigen diese Trauer, diese Angst, diese Wut teilen kann. Ich will zeigen, dass es wichtig ist, dass man den Lebensmut nicht verliert und trotz alledem weiterkämpft.“