Er war jahrelang Neonazi und schaffte schließlich den Ausstieg. Christian Weißberger studierte Kulturwissenschaft und Philosophie und klärt heute unter anderem Schüler über Rechtsradikalismus auf. Im Interview spricht er über die Mentalität in der rechtsradikalen Szene, seinen Absprung und wie Deradikalisierung funktionieren kann.
Herr Weißgerber, ist das Leben heute langweiliger für Sie – so ganz ohne Rassenkampf?
Nein, wieso? Es gibt doch auch noch den Klassenkampf (lacht). Nein, ernsthaft – es gibt auch andere Möglichkeiten sich politisch zu engagieren. Gestern war ich zum Beispiel in Leipzig und habe vor 400 Studenten über „Strukturen von Identitären und Neuen Rechten“ aufgeklärt. Über das Milieu, welche Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit dort transportiert werden und anderes. Das mache ich inzwischen seit fast fünf Jahren.
Was ist für Sie Fanatismus?
Fanatismus kann sich in viele verschiedene Gewänder kleiden. Dabei steht immer die Frage im Raum, um welche Inhalte es geht. Auch Demokratie kann fanatisch betrieben we
rden.
Was genau meinen Sie damit?
Wenn wir über Radikalisierung und Fanatismus sprechen, ist mir wichtig festzustellen: Es sind nicht immer nur ‚die Anderen‘. Für mich ist zum Beispiel eine Frage, ob Marktradikalismus nicht auch eine Form von Fanatismus ist. Für viele Menschen ist klar: Nazis sind Fanatiker, Islamisten sind es, Zeugen Jehovas oder Radikal-Katholiken auch. Nur selbst ist man natürlich nicht fanatisch. Obwohl es ja auch Fußballfanatismus oder andere scheinbar harmlosere Formen gibt. Ich versuche immer darauf hinzuweisen, dass es nicht dieses einfache ‚Wir sind die Guten und ihr seid die Fanatiker‘ gibt.
Welche fanatische Mentalität herrscht in der rechtsradikalen Szene vor?
Ich würde nicht nur von Mentalität sprechen, weil man dann davon ausgeht, dass es ein rein geistiger Prozess ist. In der rechten Szene geht es auch stark um eine „Militarisierung des Körpers“. Durch Kampfsport zum Beispiel. „Wehrhafte Männlichkeit“ und Weiblichkeit gehören zum Habitus dazu. Radikalisierung ergreift die Körper genauso wie die Köpfe. Da kann man, wie im Leben sonst auch, Körper und Kopf nicht ohne Verluste trennen.
Aber in den Köpfen fängt es doch an?
Das würde ich so nicht sagen. Das beruht auf einer Vorstellung, dass es einen Unterschied zwischen Körper und Geist gibt. Für mich gibt es den nicht. Alles, was wir denken, ist auch körperlich bedingt. Die Faszinationspunkte für rechte Ideologien können sich auch stark aus einem körperlichen Habitus entwickeln. Das funktioniert auch ohne vorhergehende geistig-kognitive Einflüsse.
Welche Bedeutung hat diese Körperlichkeit genau?
Sich zu trainieren, zu tätowieren, das bedeutet auch, sich selbst ermächtigen. Bei mir war das sehr wichtig, weil ich im Alltag nicht die Möglichkeit hatte, selbstbestimmt zu leben. Bei mir war mein Vater der allmächtige Despot – auch über meine Schwester. Wir konnten überhaupt nicht selbst bestimmen, auch nicht über unsere Körper. Die erste Sache, die ich mit 18 habe machen lassen, waren Tätowierungen.
Kopf und Körper waren für Sie untrennbar?
Ja, man muss die Sache ganzheitlich sehen, Ideen und Körper sind untrennbar miteinander verbunden. Um das zu begreifen, brauchen wir eine Art von ganzheitlicher Theorie, die Körper und Köpfe miteinander verbindet.
Wofür wäre diese Theorie oder Definition wichtig?
Das wird zum Beispiel wichtig in der Beurteilung, wann eine Person tatsächlich deradikalisiert ist. Vermutlich nicht in dem Moment, wo wir ihr den Baseballschläger aus der Hand nehmen. Das reicht wahrscheinlich nicht. Es gibt Aussteiger-Organisationen, die aus meiner Sicht zu schnell verkünden, dass jemand ausgestiegen ist. Das kann zur Folge haben, dass noch nicht deradikalisierte Leute durch die Medien gezerrt werden.
Was sind die ersten Schritte bei einer Deradikalisierung?
Aus meiner Sicht muss man an die Axiome ran, die sogenannten unumstößlichen Wahrheiten. Einen Nazi müsste man zum Beispiel davon überzeugen, dass es keine Rassen gibt und keine Völker in ihrem völkischen, nationalistischen Sinne. Da wird die Sache dann häufig schwierig und, ganz im Ernst, bei vielen wird sich das wohl nie ändern lassen. Denn die Leute müssen anfangen, selbst an neue Überzeugungen zu glauben.
Was führte bei Ihnen zum Umdenken?
Bei mir persönlich war es die Axiome, Führerprinzip und autoritäre Strukturen, die zuerst einen Knacks bekamen. Ich habe damals eine Jugendorganisation gegründet. Da hat sich dann aber gezeigt, dass autoritäre Strukturen heutzutage nicht mehr so gut funktionieren unter den Jugendlichen. Denn trotz anerkanntem Führerprinzip, haben sich viele nicht an die Absprachen gehalten, am Ende habe ich oft alles alleine gemacht. Das hat mich schlichtweg verletzt und vor den Kopf gestoßen. Zu dieser Enttäuschung kamen dann noch viele andere hinzu. Mein Ausstieg ist mit einer starken Kränkung meines Selbstwertgefühls einhergegangen.
Fehlte Ihnen auch die persönliche Freiheit in der autoritären Bewegung?
Ganz im Gegenteil. Eigentlich habe ich mich nie freier gefühlt als zu der Zeit. Die Auffassung, man muss den Leuten nur zeigen, dass Freiheit, Eigentum und Recht etwas Gutes sind, und sie werden aussteigen, halte ich persönlich für liberalen Fanatismus. Damit überzeugt man die wenigsten der strikten Neonazis. Die sind dort frei und können sich nehmen, was sie wollen. Die Tat an sich hat bei ihnen ja ohnehin den höchsten Stellenwert. Verrückterweise ist es oft eher der Fanatismus selbst, der zum Ausstieg führt. Wenn man fanatischer ist als seine Kameraden und ständig mit seinen Ideen aneckt.
Ihnen war die Bewegung also nicht „effizient“ genug?
Exakt. Ich wollte ja die Welt verändern und war überzeugt davon, dass ich das kann. Dazu hätte ich noch ein paar Leute gebraucht, aber die hatten halt keinen Bock und wollten lieber Bier trinken.
In den letzten Jahren scheint die rechte Bewegung allerdings „effizienter“ geworden zu sein. Mit Hilfe der AfD gibt sie sich ein bürgerliches Erscheinungsbild. Sind dadurch auch die Inhalte bürgerlicher geworden?
Nein, denn Dogmen und Axiome werden nur rhetorisch verändert. Die Überzeugungen dahinter bleiben meistens strukturell die gleichen. Es geht immer noch um eine Bevölkerung, die einen angestammten Boden hat, einen geografischen Bezug und um Abstammung. Das ist nur eine anders verpackte „Blut und Boden“-Politik. Da findet so etwas wie eine Label-Kosmetik statt. Anstatt von Rasse sprechen sie von Volk oder Ethnien, von Kultur und Tradition. Götz Kubitschek ist da ein Vorreiter. Das ist der Versuch einer rhetorischen Modernisierung nationalistischer Politik. Auch Thilo Sarrazin macht das übrigens in seinen Büchern.
Ist diese rhetorische Umdeutung der Schritt, der die rechte Bewegung weiter in die Mitte der Gesellschaft trägt?
Ja, auf jeden Fall. Das ist allerdings schon seit den 70er-Jahren das erklärte Ziel der rechten Bewegung. Interessant ist, dass viele es immer noch nicht verstanden haben. Leute wie Björn Höcke sind ganz offensichtlich Nazis. Von allem, was sie erzählen, von allem, wie sie handeln, von allem, wie sie Politik machen.
Bei den anderen muss man manchmal etwas genauer hinschauen. Durch Thilo Sarrazin und auch Heinz Buschkowsky zum Beispiel werden solche Sachen wieder sagbar, etwa in Talkshows. „Deutschland schafft sich ab“ ist so ein Slogan, in dem „Deutschsein“ als besonders schützenswert herausgestellt wird.
Zurück zu Ihrer Geschichte als Aussteiger. Haben Sie Ratschläge für andere Aussteigewillige?
Da gibt es keine allgemeine Formel. Dafür sind die Situationen, aus denen die Leute stammen, oft zu unterschiedlich. Manche kommen aus einer Skinhead-Verbindung, andere waren bei völkisch orientierten Gruppen. Was die Aussteiger oft selber schon wissen, ist, dass sie Schutz brauchen, wenn sie den Ausstieg durchziehen wollen. Da sollten sie sich an eine der verschiedenen Aussteiger-Organisationen wenden, die es gibt. Neben EXIT-Deutschland und dem Verfassungsschutz gibt es noch zahlreiche andere. Es gibt mobile Beratungsstellen, es gibt aber auch Antifa-Gruppen, die helfen und Schutz bieten können. Als Aussteiger musst du etwas finden, womit du dich wohlfühlst.
Was muss zum äußeren Schutz noch dazu kommen?
Es gibt natürlich den inneren Prozess, den jeder Aussteiger mit sich selbst führen muss. Dazu gehört vor allem auch die Demilitarisierung des Körpers, der bei den meisten Betroffenen ja während ihrer aktiven Zeit zu einer Waffe geworden ist. Neo-Nazis, Neue Rechte und Identitäre sehen sich selbst als politische Soldaten. Dabei steht oft zu allererst die Einsicht, dass ich mein Leben lang rechtsradikal und nicht selten auch gewalttätig war. Das ist gar nicht so lustig. Das muss man erst mal ertragen, das kann nicht selten zu Depressionen führen. Neben dem Schutz von außen braucht es natürlich auch psychologische Betreuung, ganz klar.
Doch noch etwas ist aus meiner Sicht wichtig: Es braucht für Aussteiger perspektivisch auch andere Ideen, wie sie sich engagieren und einbringen können.
Warum ist das so wichtig?
Radikalisierung bedeutet häufig eine Form von Verwurzelung. Wenn man jemanden deradikalisiert, kann die Person danach wie ein entwurzelter Baum sein. Und wenn man ihr dann keine positiven Ideen und Ideale gibt, bleibt sie sich selbst überlassen. Dabei wollen gerade diese Leute häufig etwas tun, sich einbringen. Sie wollen die Gesellschaft zum Positiven verändern. Wir können ihnen Wege zeigen, wie sie dies ohne Hass und Fremdenfeindlichkeit tun können.