Wirft man einen Blick auf 2.000 Jahre Weltgeschichte, so fällt auf, dass die Religion offenbar der wesentliche Nährboden für Fanatiker oder entsprechende Bewegungen war. Vor allem die christliche Kirche hat sich rückblickend nicht mit Ruhm bekleckert.
Es ist schon auffällig, dass die Religion - häufig in Verbindung mit weltlicher Gewalt - in den letzten 2.000 Jahren ein besonders guter Nährboden für fanatische Bewegungen oder Einzelpersonen war.
Zum Beispiel die Zeloten (Eiferer), entstanden um Christi Geburt, eine paramilitärische jüdische Widerstandsbewegung gegen die römische Besatzung: Die strenggläubigen Zeloten sahen als Ursache allen Unglücks ihres Volkes die selbst verschuldete Gottlosigkeit an und erwarteten die baldige Ankunft des Messias. Während der Belagerung Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. metzelten sie innerhalb der Stadtmauern zunächst alle traditionellen Eliten nieder, um sich erst danach der feindlichen Übermacht entgegenzustellen. Um sich beim aussichtslosen Gefecht in Masada anno 73 n. Chr. einer Gefangennahme durch die römischen Legionen zu entziehen, sollen die letzten Zeloten gemeinsam Suizid begangen haben.
Kreuzzüge hinterließen Verwüstung und Tod
Ab dem 4. Jahrhundert machten zunächst vor allem in der Ostkirche die asketischen Säulenheiligen von sich reden, die sich wie der bekannteste Vertreter Symeon Stylites (389-459) bis zu 37 Jahre lang auf einem erhöhten Podest der gnadenlosen Sonneneinstrahlung und Witterung ausgesetzt hatten. Im 11. Jahrhundert spaltete sich in Persien eine schiitische Sekte namens Ismailiten ab und verbreitete bald durch gezielte, religiös begründete Selbstmordanschläge auf die sunnitische Führungselite der türkischstämmigen Seldschuken-Dynastie Furcht und Schrecken. Die Assassinen, wie sie auch genannt werden, wollten damit einen Gottesstaat nach ihren Idealen formen und werden heute häufig als frühe Vorbilder für Terrorismus und Terroranschläge im Namen Allahs angesehen.
Die Seldschuken, die 1070 im Zuge eines großen Expansionsstrebens Jerusalem erobert hatten, waren auch der Gegner des im November 1095 von Papst Urban II. ausgerufenen „Heiligen Krieges“. Bis 1270 sollten die Kreuzritter immer wieder versuchen, die für die Christenheit neben Santiago de Compostela wichtigste Wallfahrtsstätte (dauerhaft) zu erobern. Trotz aller hehren Ideale hinterließen die Kreuzzüge meist nur Verwüstung und Tod.
Um die Jahrtausendwende hatte auch die große Zeit der Ketzerbewegungen begonnen. Deren falsche Lehren, Häresien genannt, sah die Kirche als große Bedrohung an, weshalb ihre Anhänger bald erbarmungslos verfolgt wurden. Häretiker wurden nicht etwa als „Heiden“ angesehen, sondern als „falsche Christen“. Selbst der Islam wurde damals als eine extrem verfälschte Art von Christentum betrachtet und die Muslime daher ebenso als Ketzer verdammt.
Zu einer wirklichen Gefahr für die Kirche wurden Ketzerbewegungen ab dem frühen 12. Jahrhundert mit dem Auftauchen der asketischen Cathari (= die Reinen), von deren Namen einst das Wort „Ketzer“ abgeleitet werden sollte. Die Katharer, die wahrscheinlich missionierten und ihre Zentren in der Lombardei und in Südfrankreich rund um Albi hatten (weshalb sie auch als Albigenser bezeichnet werden), sahen sich als die wahren Christen. Ihre Anhänger waren bereit, ihren Glauben auch noch auf dem Scheiterhaufen zu bekennen.
Auch gegen diese neuen Märtyrer musste die Kirche etwas unternehmen. Sie tat es durch Verschärfung der Ketzerprozesse, durch den Albigenserkreuzzug, bei dem zwischen 1209 und 1229 in Okzitanien christliche Ritter erstmalig gezielt ihre abtrünnigen Glaubensbrüder zu Tausenden abschlachteten, und schließlich durch die Einführung der Inquisition um 1230, womit der noch junge Orden der Dominikaner betraut wurde. Die Inquisitoren, die ihre Hauptsitze in Carcassone und Toulouse hatten, führten schon 1252 die Folter in das Ketzerverfahren ein.
Im Laufe der Zeit verkam die Inquisition, deren prominentestes Opfer der italienische Philosoph Giordano Bruno anno 1600 werden sollte, zu einem reinen Machtinstrument, die Frage der Rechtgläubigkeit trat vielfach in den Hintergrund. Allerdings schuf die Inquisition selbst mit den Hexen eine gefährliche häretische Sekte, die es in Wirklichkeit gar nicht gab. Wobei die Hexenverfolgungen, die zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert mindestens 60.000 Menschen das Leben kostete, von den weltlichen Behörden durchgeführt wurden. Das berüchtigte Buch „Hexenhammer“ des Großinquisitors Heinrich Kramer aus dem Jahr 1486 hatte dafür den Boden bereitet. Auch Johannes Calvin sollte wenig später in Genf mit geradezu glühendem reformatorischen Eifer Hexen und Andersgläubige gnadenlos verfolgen lassen.
Tausende Morde in der Bartholomäusnacht
In Florenz hatte der fanatische Dominikanermönch Girolamo Savonarola 1494 die republikanische Verfassung und Gott als neuen Stadtregenten anstelle der geflohenen Medici eingesetzt. Sein Kampf gegen den Luxus, gegen die Verderbtheit der Sitten und der Vergnügungssucht sowie den Nepotismus der Päpste sollten 1498 mit seiner Hinrichtung beendet werden.
Auch im westfälischen Münster sollten Wiedertäufer genannte Reformations-Abweichler Anfang der 1530er-Jahre nur eine kurze Regentschaft über die Stadt ausüben können. Unter Führung des Schankwirts und Bordellbetreibers Jan van Leiden, der zum „König Johannes I.“ ernannt wurde, wurde kurzzeitig eine theokratische Gesellschaftsordnung mit Polygamie und dem Verbot von Privateigentum errichtet. Das „Neue Jerusalem“ ging 1535 in einem Blutbad unter. Ein Blutbad sollte es ein halbes Jahrhundert später auch an der Seine geben. In der Bartholomäusnacht vom 23. auf den 24. August 1572 sollten fanatische Katholiken-Schergen die Spitzen der Hugenotten, rund 3.000 an der Zahl, massakrieren.
In England gilt Oliver Cromwell seit jeher als bekanntester Fanatiker, der sich selbst als Werkzeug Gottes verstand. Er war ein religiöser Fanatiker, der seinen Glauben geschickt benutzte, um seine politischen Ziele durchzusetzen. Er schuf die Monarchie ab und regierte von 1653 bis zu seinem Malaria-Tod 1658 als Lordprotektor. In Frankreich muss unbedingt der fanatische Moralist Maximilien de Robespierre genannt werden, der im Zuge der Französischen Revolution und des „Grande Terreur“ die Rolle des tugendhaften Mörders spielte. Die Guillotine sollte im Juli 1794 sein Schicksal werden, nachdem er kurz zuvor den Terror durch die Einführung eines "Kults des höchsten Wesens" auch religiös hatte legitimieren lassen.
Im 20. Jahrhundert hätten Deutsche und Franzosen viel Leid vermeiden können, wenn man sich den unsinnigen, die Bevölkerung fanatisierenden Mythos der Erbfeindschaft erspart hätte. Dass Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus auf eine fanatische Anhängerschaft setzen konnten, die auch bedingungslos dem Führerkult zu huldigen bereit war, dürfte hinlänglich bekannt sein.