Es ist mit Sicherheit das außergewöhnlichste Kino der Hauptstadt – das „Lichtblick" im Bezirk Prenzlauer Berg. Im Kunst- und Wohnprojekt in der Kastanienallee 77 ist das Lichtspielhaus im Wohnzimmerformat seit 25 Jahren zu Hause.
Mit spektakulären Hausbesetzungen rechnete 1992 in Berlin niemand mehr. Die Schlacht um die berüchtigte Mainzer Straße im Stadtteil Friedrichshain war längst geschlagen. Ende Juni jedoch zogen 25 Personen mit einem alten Omnibus mit dem Schriftzug „Direkte Demokratie" vor das leer stehende Gebäude der Kastanienallee 77 und besetzten es. Dass sie es als „Kunstaktion" deklarierten, rettete sie vor der Räumung. Gleichzeitig retteten die Besetzer das Haus, das nach sechs Jahren Leerstand einer Ruine glich. Heute – 25 Jahre später – wohnen noch immer einige der einstigen Besetzer in dem Gebäude. Solche Geschichten suchen im gentrifizierten Prenzlauer Berg ihresgleichen.
In den letzten Jahren haben sich die Mitglieder der „K77" in ihrem Wohnhaus ein kleines kreatives Reich aufgebaut, zu dem das Tanzstudio K7, die Siebdruckwerkstatt und eine Keramik-Werkstatt gehören. Und im Erdgeschoss ist das Lichtblick-Kino mit seinem eigenwilligen Charme feste Anlaufstelle für Filmfans und Filmschaffende.
Den Gast begrüßen im Innern nicht nur Stuck an der Decke, alte Filmplakate und Filmspulen, sondern auch ein alter dreiäugiger Filmprojektor. Ein Entree, das fast in der Nachwendezeit stehengeblieben zu sein scheint. Gegründet wurde das Lichtblick-Kino vom Politologen und Publizisten Hansi Oostinga und dem Grafiker Friedemann Bochow vom Atelier Milchhof. Zusammen mit Elisa Rosi, die 2008 als Filmvorführerin begann, machen sie das Programm und das Marketing. Insgesamt besteht das Kollektiv aus neun Personen.
Zu ihnen gehört auch Pavlos Kapalas, der dem Charme des noch nicht glattsanierten Hauses verfallen ist. Seit 2011 arbeitet der gebürtige Athener hier als „Mädchen für alles". Der gelernte Bühnenbildner genießt es jedes Mal, wenn er die Tür zum quadratischen Raum mit seinen gefliesten Wänden öffnet. Die Einrichtung des gemütlichen Wohnzimmerkinos hat er mitgestaltet, beispielsweise die Holzbänke mit alten Filmwerbebannern überzogen. Zweimal im Jahr wirft er den 16-mm-Projektor an.
Stuck, Plakate und Filmspulen
Der Grieche mit den feinen Gesichtszügen weiß auch, wie das Lichtblick-Kino hier seinen heutigen Platz fand: 1994 wurde es als „Stadtkino Berlin e.V." gegründet, 1995 dann eine ständige Spielstätte in der Wolliner Straße eröffnet. Seit 1998 hat das kleine Kino seine Heimat in der Kastanienallee 77. Und wurde um die Jahrtausendwende neben dem Prater Biergarten, dem Café Morgenrot mit dem Schriftzug „Kapitalismus zerstört" an der Hausfassade und dem Vinyl-Plattenladen „Da Capo" zu den Leuchttürmen der Kiezkultur.
Ein Haus mit bewegter Geschichte. Auch Pavlos Kapalas sieht sich immer wieder das alte Schwarzweißfoto vom alten Tresen mit den hängenden Würsten an. Ein Schnappschuss aus den 50er-Jahren, als in dem Gebäude noch eine Fleischerei ansässig war. Die Betreiber flohen 1963 in den Westen, danach stand das Haus leer. Heute erkennt man die zeitweilige Nutzung als Metzgerei nur noch an den gefliesten Wänden und Böden sowie an den salzigen Wänden. Die man, so Kinomitgründerin Elisa Rosi, immer wieder neu streichen müsse, damit Plakate angebracht werden können.
Nicht nur die salzigen Wände, die bewegte Geschichte des Hauses, die Ausstattung – das Lichtblick-Kino ist einfach anders. „Viele Filmfreunde schätzen es, dass das Lichtblick-Kino von Beginn an einen Kontrapunkt zu den Multiplex- Kinos setzen wollte, dort wird doch fast überall das gleiche Programm gezeigt", sagt Elisa Rosi.
Daher laufen neben aktuellen Arthouse-Filmen viele Klassiker wie „Casablanca", „Blow up" oder „La Strada", dazu stehen regelmäßig surrealistische Kurzfilme und Werkschauen beispielsweise zu Fassbinder, Pasolini, Buñuel und Fellini auf dem Programm. Ein bunt gemischtes, freilich, das aber den Austausch am Tresen nach der Vorführung geradezu provoziert. Dazu tragen auch die „Auftritte" von Persönlichkeiten aus der Filmbranche bei – Nina Wetzel, Bühnenbildnerin, Ausstatterin und Schlingensief-Weggefährtin berichtete im „Lichtblick" über das Wahlkampf-Theaterprojekt „CHANCE 2000 – Abschied von Deutschland". Und Regisseur Andres Veiel stellte seinen neuesten Film „Beuys" im Lichtblick-Kino vor.
Arthouse-Kino und Werkschau
Die Diskussionsrunden zwischen Zuschauern und Filmschaffenden sind mittlerweile ein Markenzeichen des Kinos. Ein Stammgast beschreibt das so: „Es sind intime, verwegene Abende, die man hier verbringen kann. Am Tresen habe ich hier schon oft mit wildfremden Menschen bis tief in die Nacht über einen Film diskutiert." Ja, mit Sicherheit sei das eine der Besonderheiten des „Lichtblicks", sagt Elisa Rosi. Das habe sich ja seit seiner Gründung zu einem Ort entwickelt und als solcher etabliert, an dem in Filmen und auf Podien wichtige Themen der Zeitgeschichte verhandelt werden.
Filmen, die Berlin zum Thema haben, wird hier ein zentraler Platz eingeräumt. Vor allem, wenn sie einen anderen, unkonventionellen Blick auf die Stadt zeigen. Wie beispielsweise „The invisible Frame", ein Film, in dem Tilda Swinton mit dem Fahrrad den alten Verlauf der Berliner Mauer abfährt. Oder das Zeitdokument „Berlin-Mittendrin", das die ersten Nachwendejahre bis 1992 in Erinnerung ruft. Seit drei Jahren im Programm ist der Streifen „Mietrebellen", für viele einer der wichtigsten Filme über die Gentrifizierung Berlins. Und schließlich „Berlinized", der Dokumentarfilm, der in seltener Dichte auf das subkulturelle Leben in Berlin Mitte der 90er-Jahre zurückblickt.
Dennoch – eine nostalgische Rückwärtsschau auf das Berlin der 90er-Jahre ist bei den Kinobetreibern nicht drin. Bewusst sollen politisch engagierte Produktionen viel Platz im Programm einnehmen, Themen, die den Menschen unter den Nägeln brennen. Nicht selten geht der Blick dabei über Deutschland hinaus. Unlängst wurde der Film „Wenn Gott schläft" gezeigt, der das Leben des iranischen Sängers Shahin Najafi zum Thema hat. Seit seinen satirischen Raps fordern Tausende seine Hinrichtung.
Das Lichtblick-Kino zieht seit seinen ersten Tagen viel junge Filmbegeisterte an, hier wurden so einige Projekte und Initiativen in der Berliner Kinolandschaft angeschoben. „Viele, die hier im Schneideraum ihren ersten Film schnitten, sind heute als Verleiher, Kinobetreiber oder Filmemacher in der Kinobranche etabliert", erzählt Filmvorführer Pavlos Kapalas. Und auch der Regienachwuchs ist gut mit dem kleinen Filmtheater vernetzt. So zeigte hier die „filmArche" – die größte selbstorganisierte Filmschule Europas – dieses Jahr bereits zum fünften Mal Werke ihrer Studentinnen und Studenten. Gut möglich, dass in ein paar Jahren ein Film eines dieser Nachwuchstalente hier Premiere haben wird.
Sorge vor Verdrängung
Die Fassade des Kinos ist übersät mit Street-Art, die mit den ausgestellten Filmplakaten konkurriert. Im Sommer erregte ein Plakat darunter ganz besondere Aufmerksamkeit – da wurde auf einem Baucontainer für das „Chestnut Paradise Quartier – Luxus Townhouse mit Urban City Charme" geworben. Was prompt wütende Reaktionen in Form von gesprayten Schimpftiraden auslöste.
Bei näherem Hinsehen allerdings stellte sich das Plakat als Fälschung heraus. Es machte auf eine Ausstellung aufmerksam, die im Baucontainer untergebracht und Teil der Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag der Besetzung der „K77" war. Eine Kunstaktion, mit der die Initiatoren unterstreichen wollten, dass es immer noch andere Modelle des Zusammenlebens im durch Gentrifizierung so gründlich veränderten Kiez gibt. Was – so hoffen die Freunde des Lichtblick-Kinos – noch lange so bleibt.