Beim Saarbrücker Nachwuchsfilmfestival wurden für den Wettbewerb in den Sparten Spielfilm, Dokumentarfilm, Mittellanger Film und Kurzfilm 60 Beiträge ausgewählt. Programmleiter Oliver Baumgarten gibt Einblick in die Kuratoren-Tätigkeit.
Herr Baumgarten, Sie haben Film- und Fernsehwissenschaften, Theaterwissenschaft und Germanistik in Bochum studiert. Wodurch war Ihnen klar, dass Sie den Bewegtbildern den Vorrang geben?
Ich habe mich schon von Jugend an intensiv mit Film beschäftigt. Ich bin immer viel ins Kino gegangen und habe heimlich ferngesehen. Ich wusste, ich will nicht Film machen, sondern mich mit Film eher aus der analysierenden Position heraus beschäftigen – in Bochum habe ich das dann professionalisiert.
Erinnern Sie sich an den ersten Kinofilm, den Sie gesehen haben?
Ich weiß, dass ich – noch relativ jung – den zweiten „Star Wars"-Film im Kino gesehen habe. In dem kleinen Ort Hitzacker an der Elbe, in das Kino habe ich es immer geschafft reinzukommen, weil wir die Leute dort kannten. Das Kino gibt es leider nicht mehr.
Sie sind seit 2014 beim Max Ophüls Preis in der Programmleitung tätig; die Position entstand neu nach der Auflösung der Doppel-Festivalleitung Bandel/Bräuer. Was ist der Unterschied zwischen Festivalleitung und Programmleitung?
Die Programmleitung oder Gesamtleitung Programm, wie wir es auch nennen, kümmert sich darum, dass das inhaltliche Konzept, das wir gemeinsam erarbeiten, durchgesetzt wird. Ich sehe und akquiriere das ganze Jahr über Filme und baue das alles zu dem 150 Filme umfassenden Programm zusammen. Die Festivalleitung, Frau Böttger, hält hingegen alle Fäden in der Hand. Das betrifft eben außer dem Programm auch: Sponsoring, Marketing, Kooperationen, Preisverleihungsveranstaltung, Repräsentationsaufgaben. Zusammen konzipieren wir das Programm, das aber ja nur ein Teil des Ganzen darstellt.
Als Programmkurator sind Sie im Auswahlbeirat Spielfilm, Dokumentarfilm, Mittellanger Film und Kurzfilm. Ungefähr 900 Filme haben Sie und Ihr Team gesichtet. Welche Methode haben Sie entwickelt, um all die Filme zu erinnern und zu bewerten?
Das beruht auf Erfahrung. Seit ich 1995 die Filmzeitschrift „Schnitt" mitgegründet habe, sehe ich jedes Jahr ungefähr diese Menge an Filmen, als Filmkritiker und Chefredakteur dieser Zeitschrift. Ich bin es also gewohnt, wodurch ich mir ein Handwerkszeug zugelegt habe. Ich habe Titel oder Namen durchaus schnell vergessen, erinnere aber Szenen und Momente, die mich emotional oder rational extrem angesprochen, begeistert oder verstört, haben. Das ist das Entscheidende, es dann für sich zu bewerten, ist der zweite Schritt. Jeder hat für sich eigene Kriterien, was bei einem Film wichtig ist. Danach wählt man dann aus. Diese Kriterien sind nur teilweise objektiv, zum anderen Teil natürlich subjektiv. Es gibt also Filme, die objektiven Kriterien entsprechen, aber mich oder das Gremium nicht ansprechen und andersherum. So funktioniert Filmauswahl.
Welches „subjektive Kriterium" können Sie benennen?
Für mich ist das großartigste, das ein Film leisten kann, wenn die filmische Form angepasst ist auf das, was erzählt werden soll. Für mich ist Inhalt alleine kein Kriterium für einen guten Film. Ich unterhalte mich lieber über künstlerische Momente: Wie hat es jemand geschafft, diesen Inhalt zu transportieren oder diese Emotion hervorzurufen? Deshalb achten wir auf Handschriften, die uns visuell ansprechen.
Schauen Sie jede Einreichung bis zum Ende an?
Ja, und das sage ich mit Überzeugung. Man muss bedenken: Wir haben nur zwei Monate Zeit. Die Programmer schauen einen Teil der Filme vor, und die Filme, die sie nach bestimmten Kriterien weiterreichen, schaue ich bis zum Ende, damit ich mit gutem Gewissen begründen kann, warum wir einen Film genommen oder nicht genommen haben.
Was passiert in diesem Fall? Geben Sie Auskunft, wenn Filmemacher nachfragen?
Auf direkte Nachfrage schon, aber generell nein, so sehr ich das auch verstehen kann. Wir müssten zu rund 700 abgelehnten Einreichungen Begründungen geben. Das können wir einfach nicht leisten. Wir gehören schon zu den wenigen Festivals, die überhaupt eine E-Mail verschicken, dass der Film leider nicht ausgewählt wurde.
Alleine beim Wettbewerb Spielfilm erhalten 90 Prozent der Filmemacher eine Ablehnung.
Das Wort Ablehnung ist schon hart. Ein negativer Bescheid, dass ein Film nicht im Programm läuft, bedeutet nicht automatisch, dass dieser Film total schlecht ist,
sondern zu der Zusammenstellung, für die wir uns entschieden haben, vielleicht nicht passt, aber sehr wohl bei einem anderen Festival wunderbar funktionieren kann.
Ticken Sie in Sachen Film ähnlich wie Ihre Kollegen im Auswahlbeirat oder wird oft diskutiert?
Naja, es wird diskutiert. Das ist auch wichtig. Das wäre schwierig, wenn wir den gleichen Geschmack hätten. Man versucht, sich gegenseitig zu überzeugen.
Kann es sein, dass Sie den Film dann ein zweites Mal anschauen?
Generell versuche ich, Filme nicht mehrmals anzuschauen, aber es kann schon passieren. Denn wenn jemand für einen Film glüht, dann spricht das ja total für den Film, selbst, wenn ich das nicht sehe. Es gibt Festivals, da gibt es einen Kurator, der hat seinen Geschmack und nur danach wird dann ausgewählt. Das ist bei uns anders: Wir versuchen die Bandbreite dessen darzustellen, was der deutschsprachige Nachwuchs macht. Und da gehört dazu, die Vielfalt abzubilden.
Für das Max Ophüls Festival 2018 haben Sie die Filme mit den Begriffen Konsequenz, Drastik und Lust am Genre umschrieben.
Können Sie Beispiele nennen?
Konsequenz bedeutet beim filmischen Erzählen, eine Aussage oder Haltung nicht nur anzudeuten, sondern bis zum Ende auszuführen. Beispielsweise tritt in „1000 Arten Regen zu beschreiben" die Hauptfigur, an der sich der Konflikt entwickelt, konsequent nicht auf. In „Blue My Mind" verwandelt sich ein Mädchen auf metaphorische Weise, was die Regisseurin in aller Konsequenz macht und uns als Zuschauer damit eben auch herausfordert. In „Draußen in meinem Kopf" stellt ein Raum die Welt eines Tetraplegikers (Form der Querschnittslähmung, Anm. d. Red.) dar, und so spielt der Film auch in aller Konsequenz nur in diesem Raum.
Bezeichnet „Drastik" ausschließlich Gewalt?
Nein. Bei „Hagazussa" etwa wird die Geschichte einer jungen Frau aus dem 15. Jahrhundert erzählt, die zur Hexe abgestempelt wird. Es wird eine Drastik in den Bildern durch gewisse Schauermomente eingesetzt, nicht allein, um zu schockieren, sondern um deutlich zu machen, welche Qualen die Isolation für die Figur bedeutet. Oder in „Goliath" meint ein Mann, nicht männlich genug zu sein und pumpt seinen Körper mit Steroiden auf. Er beginnt, sich nur noch über den Körper zu definieren, und um das anzudeuten, fällt die Darstellung von Körperlichkeit eben deutlicher aus als das vielleicht Standard ist.
Ein Beispiel für „Lust am Genre"?
Grundsätzlich hat diese Generation Lust, mit Genres zu spielen, so sind auch Fantasy- oder Horror-Elemente in Filmen zu entdecken. Mit „Landrauschen" erhält selbst der Heimatfilm eine wunderbare Neuinterpretation.
In Saarbrücken haben Sie 2017 erstmals „MOP-Visionen" angeboten. Mit welchem Schwerpunkt in diesem Jahr?
Im letzten Jahr haben wir uns mit Virtual Reality beschäftigt, in diesem Jahr sind es Webserien. Uns geht es darum, zu schauen, welche Möglichkeiten des Erzählens uns die digitale Welt bietet, die uns Kino nicht bieten kann.
In diesem Jahr finden zum zehnten Mal die Branchentage, die jetzt „MOP-Industry" heißen, statt. Welche Bedeutung messen Sie diesen zu?
Sie sind für uns sehr wichtig. Wenn wir unsere Position festigen wollen als bedeutendstes Festival für deutschsprachigen Nachwuchsfilm, dann möchten wir den Filmemachern so viel wie möglich bieten. Sie sollen die Möglichkeit haben, das Festival als Plattform zu nutzen, auf der sie sich selber präsentieren, vernetzen und austauschen können.
Im letzten Jahr war es erstmals der Fall, dass im Wettbewerb Spielfilm neun Produktionen von Regisseurinnen und sieben von Regisseuren ausgewählt waren. Ausnahme, Trendwende oder Ausdruck Ihres Willens, Regisseurinnen in der Männerdomäne Filmbranche zu fördern?
Es ist ein bisschen von allem. In beiden Langfilm-Wettbewerben stammen in diesem Jahr 15 von 28 Filmen von Regisseurinnen, das entspricht 54 Prozent, im gesamten Programm ist es etwas weniger. Wir achten bei Besetzungen von Jurys und Panels darauf, sind als Festival bei der Filmauswahl aber selbstverständlich auf das Angebot angewiesen.
Die Kinosäle sind während des Festivals gut besucht. Sieht man mal von Blockbustern ab, dann hat es der ambitionierte Kinofilm aber eher schwer. Das Erlebnis Kino gerät auch durch das veränderte Freizeitverhalten ins Abseits. Wie sehen Sie das?
Ich finde, das muss man differenzierter sehen. 2017 war – nach dem Einspielergebnis – das erfolgreichste Kinojahr aller Zeiten. Kino ist als Freizeiterlebnis also nicht tot. Ungeheuer schwer aber haben es die Arthouse-Produktionen. Wir beschäftigen uns mit dieser Problematik beim Festival auf einem Vertriebs-Panel, auf dem dieses komplexe Thema beleuchtet werden soll.
Welche deutsche Kinoproduktion, die Sie – abseits Ihrer Kuratorentätigkeit – zuletzt gesehen haben, hat Ihnen besonders gefallen?
Ich finde, dass die deutsche Landschaft reich ist an sehr spannenden Handschriften und spannenden Filmen.