Geht es mit den menschlichen Werten hierzulande bergab? Wie steht es um Mitgefühl, Hilfsbereitschaft und Rücksicht? Eine Umfrage.
Ulrich Calisse, (45), Heizungsbauer
Wertewandel? Auf diese Frage bekam ich von einem Azubi direkt eine Gegenfrage: welche Werte? Leider muss ich feststellen, dass sich unsere Gesellschaft, besonders Kinder und Jugendliche, in meinen Augen sehr verändern. Im täglichen Umgang oder in besonderen Situationen vermisse ich immer öfter den gewissen Anstand und die Grundregeln der Höflichkeit. Viele, ob Kinder oder Erwachsene, sind sehr ichbezogen und nicht in der Lage, sich gegenüber Dritten zu öffnen beziehungsweise andere Meinungen zu akzeptieren. Ich denke, der ganze Social-Kram wie Instagram, Facebook und Co. fördert den Verfall unserer sozialen Kompetenz, weil dabei das normale Gespräch miteinander verloren geht. Mein soziales Netzwerk war das Baumhaus auf dem Nachbargrundstück, wo alle Kinder des Viertels spielten und sich beim Reden noch in die Augen sahen.
Bärbel Simon (54), Kauffrau
So wie unsere Politiker nie eine Ja-/Nein-Frage konkret beantworten, muss ich das leider auch tun. Ich möchte nicht generell behaupten, dass ein Werterückgang in unserer Gesellschaft zu verzeichnen ist. Sicher steht mittlerweile die Individualität und das „Ich“, dass es mir gut geht, ich muss auf mich schauen und dann mal sehen, immer häufiger im Vordergrund. Die Anforderungen an die Gesellschaft haben sich ja auch in den vergangenen zehn Jahren sehr verändert. Und so befinden sich viele Menschen auch in besonderen Lebensumständen, die vielleicht weniger Empathie, Hilfsbereitschaft und Rücksichtnahme rechtfertigen, weil sie im Moment einfach nicht dazu fähig sind, sich das aber auch wieder ändern kann. In meiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Lernpatin begegnen mir aber viele Menschen, die sich mit ganz viel Herz, Mitgefühl, Einsatzbereitschaft, zeitlichem Aufwand und großer Leidenschaft für die Sache „Mitmensch“ einsetzen und ich mich dann oft frage: „Wie schafft der/die das nur, zusätzlich zu Beruf und Familie“. Und unter diesem Aspekt empfinde ich nicht unbedingt einen Werteverlust in unserer Gesellschaft. Denn „Gesellschaft“ sind für mich die Menschen, die meinen Weg kreuzen, und da erlebe ich immer wieder sehr positive und schöne Momente.
Judith Bettingen (53), Psychologin und Psychotherapeutin
Ich bin der Meinung, dass es einen Wertewandel und auch einen Werteverlust gibt. Das ist in vielen Bereichen sehr gut sichtbar, zum Beispiel bei Kindern und Jugendlichen. Ich beobachte zum Beispiel, dass einige Kinder und Jugendliche bestimmte Anstandsregeln nicht mehr verinnerlicht haben. Es ist nicht mehr selbstverständlich, dass Kinder zum Beispiel Erwachsene grüßen, höflich Antwort geben, wenn sie etwas gefragt werden oder von sich aus Bitte und Danke sagen. Im beruflichen Kontext beobachte ich und erfahre ich auch von vielen Patienten, dass der Mensch reduziert wird auf seine Leistung, auf die Wirtschaftlichkeit dessen, was er erbringt, und dass es weniger darum geht, wie es ihm im Arbeitsprozess geht. Wertschätzung und Lob der Leistungen des Arbeitnehmers spielen oft keine Rolle.
In der Partnerschaft sind meiner Meinung nach Werte wie Treue, Ehrlichkeit, Verbindlichkeit, gemeinsames Durchstehen von schwierigen Phasen sehr rückläufig. Es geht mehr um die persönliche Befriedigung, weniger darum, was der andere braucht. Der Wert der persönlichen Entfaltung spielt heute sehr viel mehr eine Rolle. Werte wie Gemeinschaft, Familie und Partnerschaft sind eher rückläufig. Unsere Gesellschaft ist auf dem Weg zu einer kompletten Individualisierung.
Andrea Leiner-Henke (53), Physiotherapeutin
Für mich ist die Basis von Wertestrukturen sowohl in individuellen Systemen wie Familie, Freundeskreis, als auch in religiösen Gemeinschaften und staatlichen Systemen beschrieben. In meinem Alltag erlebe ich in allen Bereichen einen Verfall von Anstand, Hilfsbereitschaft, Empathie und Rücksicht. Zugenommen haben Aggression, Gewalt, Neid und persönliche Missachtung. Vielleicht wirken die neuen sozialen Medien hier auch oftmals wie Brandbeschleuniger. Natürlich gibt es daneben auch noch die andere Seite, da sich viele bewundernswerte Menschen in allen gesellschaftlichen Bereichen für die positive Erneuerung der Wertestruktur einsetzen. Ich glaube, dass jeder für Werte empfänglich ist, und dass ich in meinem Mikrokosmos Impulse für eine Umgestaltung geben kann. Ich wünsche mir, dass wir in unserem Alltag und der Arbeitswelt Gefühle fördern, wie sie bei einem Konzert entstehen, in dem die Gemeinschaft von einer durch die Musik entstandenen Resonanz getragen wird.