Die Berliner schätzen ihre Möglichkeiten, politisch mitzuwirken. Und der Senat will sie durch klare Fristen und günstig gelegte Volksentscheid-Termine stärken. Auch bundesweit sollte Mitbestimmung mehr Gewicht haben, fordert Oliver Wiedmann von Mehr Demokratie e. V. Denn mehr Beteiligung stärkt das Vertrauen in die Politik.
Vor zehn Jahren wurden in Berlin die Hürden für Volksbegehren und Volksentscheide auf ein praktikables Maß gesenkt. Sie haben sich seitdem zu einem selbstverständlichen Instrument der Stadtgesellschaft entwickelt, um auf Politik Einfluss zu nehmen. Insgesamt 29 Mal mischten sich Initiativen mit Volksbegehren ein, mal mehr, mal weniger erfolgreich – darunter das gesamte Spektrum landespolitischer Themen. Sechsmal stimmten die Berlinerinnen und Berliner im Volksentscheid ab. Drei davon waren erfolgreich. Über die Umsetzung des Volksentscheids zur Offenhaltung des Flughafens Tegel wird zurzeit noch gestritten.
Aber es brauchte nicht immer eine Abstimmung, um Stadtpolitik zu verändern. Oft führten Volksbegehren in einem frühen Stadium zu Kompromissen, um die Fahrradinfrastruktur auszubauen, Mieten zu dämpfen, ein Öko-Stadtwerk zu gründen oder die Kitas mit mehr Personal auszustatten. Abstimmungen sind kein Selbstzweck, direkte Demokratie kann Brücken zwischen Politik und Stadtgesellschaft bauen. Zurzeit haben Volksbegehren wieder Hochkonjunktur. Eins will die Videoüberwachung in der Stadt ausweiten, ein anderes Großflächenwerbung einschränken und ein drittes die Personalsituation in den Krankenhäusern verbessern.
In den letzten Jahren lief es aber nicht immer rund. Wo viel Praxis ist, werden auch Schwachstellen und Reformbedarf aufgezeigt. So ließ der Senat zwei Volksentscheide nicht am Wahltermin stattfinden, um deren Erfolgschancen zu mindern. Zeitpläne von Initiativen wurden durchkreuzt, indem Prüfungsverfahren ewig in die Länge gezogen wurden. Und die Diskussion über die Umsetzbarkeit des Tegel-Volksentscheids bestimmt weiterhin die Tagespolitik. Antworten auf einige dieser Probleme finden sich im Koalitionsvertrag wieder. So soll die Stellung von Initiativen im Verfahren gegenüber dem Senat gestärkt werden, indem klare Fristen eingeführt und Volksentscheide zukünftig auf Wahltermine gelegt werden. Letzteres ist wichtig, weil Volksentscheide nur dann gültig sind, wenn eine Mindestzustimmung von einem Viertel aller Stimmberechtigten erreicht wird. Darüber hinaus sieht der Vertrag die Einführung eines Referendums bei Verkauf städtischen Eigentums vor. Dazu müsste die Landesverfassung geändert werden.
Unabhängig von der politischen Ausrichtung werden die meisten Berlinerinnen und Berliner wohl die direkte Demokratie als Gewinn betrachten. Der Einfluss auf die Landespolitik ist deutlich gestiegen, politische Debatten sind lebendiger geworden, werden breiter geführt, und auch das Informationsniveau in der Bevölkerung über einzelne Fragen ist deutlich gestiegen.
Deshalb ist es unverständlich, dass den Bürgerinnen und Bürgern solche Möglichkeiten auf Bundesebene bisher vorenthalten werden. Selbst die EU ist mit der Europäischen Bürgerinitiative weiter. Deutschland ist das einzige Land in der EU, welches noch nie einen Volksentscheid auf der Bundesebene erlebt hat. Klar ist dabei, dass Grundrechte und Verfassung den Rahmen bilden würden. Nicht alles kann zur Abstimmung gelangen. Eine kluge Ausgestaltung muss für sachgerechte Debatten sorgen. Hier können wir uns viel aus den Bundesländern abschauen. Ein Lichtblick ist die für diese Wahlperiode vorgesehene Expertenkommission, die sich mit der Einführung direktdemokratischer Instrumente befassen wird. Das Vertrauen in die repräsentativen Institutionen und die Demokratie allgemein könnte besser sein. Mehr, nicht weniger Beteiligung muss hier die Antwort lauten!