Rund 24 Stunden, vom Spätnachmittag des 23. bis zum Abend des 24. Juni, schien ein Aufstand der von Jewgeni Prigoschin geführten Wagner-Gruppe das Unvorstellbare, nämlich einen Sturz Putins, in den Bereich des Möglichen zu rücken.
Im russischen Kosmos der Fake-Informationen über den Ukraine-Krieg, der im offiziell vorgeschriebenen Sprachjargon nur „Spezialoperation“ genannt werden darf, schlugen die von Jewgeni Prigoschin ab dem späten Nachmittag des 23. Juni über den russischen Messenger-Dienst Telegram in Video-Nachrichten und eigenen Pressemeldungen verbreiteten Nachrichten weltweit wie eine Bombe ein. Der in kompletter Kampfmontur vor die Kamera getretene Chef der in den Gefechten am meisten gefürchteten und – wie zuletzt die Eroberung der fast ein Jahr lang hart umkämpften ukrainischen Stadt Bachmut im Mai nachdrücklich bewiesen hatte – am effizientesten agierenden Söldner-Einheit der Wagner-Gruppe stellte so ziemlich alles bislang von der Kreml-Führung eisern Behauptete auf den Kopf.
Videonachricht über Telegram
Schon im Vorfeld hatte sich Prigoschin – offensichtlich im Vertrauen auf seine seit den späten 1990er-Jahren bestehende freundschaftliche Bekanntschaft mit Putin – monatelang weit aus dem Fenster gelehnt. Er hatte den russischen Verteidigungsminister Sergei Schoigu und den Generalstabschef Waleri Gerassimow (die wegen Vorkommnissen im Rahmen des Syrien-Kriegs 2018 zu seinen erklärten Intimfeinden geworden waren) hart öffentlich angegangen mit Unfähigkeits-Vorwürfen bezüglich ihrer Amtsführung und der aus seiner Sicht unzureichenden Unterstützung seiner von Moskau finanzierten Truppen mit Nachschub, Waffen und Munition. Am 23. Juni war dann für Prigoschin das Maß offenbar voll. Zumal Schoigu wahrscheinlich als Retourkutsche am 10. Juni die Verordnung erlassen hatte, dass ab dem 1. Juli sämtliche in der Ukraine kämpfenden sogenannten Freiwilligen-Einheiten aufgelöst und ihre Mitglieder in die reguläre russische Armee unter dem Kommando von Gerassimow integriert werden sollten. Ein Affront, den Prigoschin offensichtlich nicht bereit war, einfach widerspruchslos hinzunehmen.
Der Verlust seiner Privatarmee konnte für den Wagner-Boss nicht nur erhebliche finanzielle Einbußen, sondern auch ein Absinken in politisch-militärische Bedeutungslosigkeit und eine akute Gefahr für das eigene Leben bedeuten. Geld dürfte dabei für den Multi-Millionär, der mit diversen Geschäften wie einem landesweit florierenden Catering-Unternehmen, das ihm den Spitznamen „Putins Koch“ eingetragen hat, und undurchsichtigen, lukrativen Medienbeteiligungen jede Menge Kohle gescheffelt hat, noch das geringste Problem gewesen sein – obwohl er sicherlich nur ungern auf den militärischen Zweig seiner geschäftlichen Unternehmungen verzichten wollte: eben jene Wagner-Gruppe, die er 2014 gemeinsam mit dem Veteranen Dmitri Utkin gegründet hatte und die ihren Namen der musikalischen Opern-Vorliebe Utkins verdankt.
Schließlich hatte die anfangs nur aus ehemaligen russischen Militär-Angehörigen rekrutierte Söldner-Truppe bei Einsätzen in Syrien, Libyen, der Zentralafrikanischen Republik oder in Mali die Prigoschin-Kasse ordentlich auffüllen und ihrem Chef durch striktes Befolgen russischer Interessen bei all diesen Auslandseinsätzen das Wohlwollen der Kreml-Spitzen sichern können. Mit ihrem Eintritt in den Ukraine-Krieg wurde die Wagner-Gruppe dann aber zu einer für den Kreml immer bedrohlicheren Militärmacht außerhalb jeglicher Kontrolle durch Moskauer Verantwortliche. Nicht nur, weil ihr bei den russischen Siegen meist der Hauptanteil zugeschrieben wurde, sondern auch allein schon wegen ihrer auf schätzungsweise 50.000 Mitglieder aufgestockten personellen Stärke. Denn Prigoschin hatte die Erlaubnis erhalten, seine Armee durch die Aufnahme von Insassen russischer Gefängnisse gegen Straferlass und durch Militärgerät wie Panzer oder Luftkampfmittel auszubauen. Eigenständige private Militärunternehmen neben den regulären Truppen dürfte es laut der russischen Verfassung zwar eigentlich gar nicht geben; doch Moskau duldete diese sogenannten privaten Sicherheits- und Militärunternehmen nicht nur, sondern förderte deren Entstehung sogar noch, weil man sich so bei etwaigen heiklen Auslandseinsätzen nicht selbst die Finger schmutzig zu machen brauchte. Schätzungen zufolge wurden bis zum Jahr 2023 rund 30 solcher privater Armeen gegründet, von denen die Wagner-Gruppe die mit Abstand größte war.
Prigoschins Statements vom 23. Juni 2023 konnten in den Augen Moskaus nur als Provokation verstanden werden. Er stellte dabei sogar Sinn und Zweck der „militärischen Spezialoperation“ infrage, weil aus seiner Sicht weder von der Ukraine noch von der Nato eine Bedrohung für Russland ausgegangen sei. Der Krieg sei absolut „nicht notwendig, um die Ukraine zu demilitarisieren oder zu denazifizieren“. Damit nicht genug, bezeichnete Prigoschin die „oligarchische Oberschicht“ sogar auch noch als „geistig krank“. Als Beleg führte er den Beschuss seiner eigenen Truppen durch russische Militärs mit Raketen, Artillerie und Hubschraubern an, wobei 2.000 seiner Kämpfer ums Leben gekommen seien. Die dafür Verantwortlichen in der russischen Militärführung müssten gestoppt werden. „Wer versucht, uns Widerstand zu leisten, den werden wir als Bedrohung betrachten und sofort töten.“
Zusage auf Exil in Belarus
In Moskau war man von Prigoschins Aktion offenbar völlig überrumpelt worden, den Geheimdiensten hatten keinerlei Erkenntnisse über eine bevorstehende Revolte vorgelegen. Mehr als Dementis bezüglich der behaupteten Angriffe konnte der Kreml zunächst nicht liefern. Allerdings leitete der Geheimdienst FSB schon gegen 23 Uhr Ortszeit ein Ermittlungsverfahren gegen Prigoschin wegen „bewaffneter Meuterei“ ein. Im russischen Staatsfernsehen wurde um 0.15 Uhr mitgeteilt, dass Prigoschin in Ungnade gefallen sei und daher möglichst umgehend festgenommen werden müsse. Eine Viertelstunde später wurde von ersten Vorsichtsmaßnahmen berichtet, die in Moskau und in Rostow am Don unweit der ukrainischen Grenze, wohin Prigoschin seine Kampfverbände wahrscheinlich zunächst marschieren lassen würde, ergriffen worden waren. Prigoschin wies den Vorwurf eines Militärputsches auf der Stelle zurück, kündigte aber einen „Marsch der Gerechtigkeit“ an, für den seine Einheiten um 2.03 Uhr Ortszeit des 24. Juni die ukrainische Grenze ohne jeglichen Widerstand seitens des Grenzschutzes Richtung Rostow am Don überschritten hätten.
Die Lage begann sich für Moskau zuzuspitzen, nachdem die Wagner-Gruppe das Hauptquartier der russischen Streitkräfte für den Militärbezirk Süd in Rostow am Don – zugleich die Zentrale für die Militärführung im Ukraine-Krieg – gegen 7.30 Uhr Ortszeit übernehmen konnte. Dort forderte Prigoschin in einem via Telegram-Video um die Welt gehenden Gespräch mit dem stellvertretenden russischen Verteidigungsminister ultimativ den Sturz von Schoigu und Gerassimow. Da Prigoschin einen 25.000 Köpfe zählenden Teil seiner Truppen sogleich gen Norden Richtung Moskau vorrücken ließ und mit diesen Kämpfern trotz installierter Straßensperren recht schnell (gegen 11.42 Uhr Ortszeit) die Stadt Woronesch auf halber Strecke zwischen Rostow und der russischen Hauptstadt erreichen konnte, wurde in Moskau der Anti-Terror-Notstand ausgerufen. Der russische Präsident Wladimir Putin sah sich um 10 Uhr Ortszeit zu einer Fernseh-Ansprache veranlasst, in der er den Aufstand als „tödliche Bedrohung“ und alle Beteiligten als „Verräter“ bezeichnete, die „unweigerlich bestraft“ werden müssten.
Was Prigoschin letztlich dazu bewegt haben mag, den Vormarsch seiner Armee nach rund 780 Kilometern – rund 200 Kilometer vor Moskau – gegen 20.25 Uhr Ortszeit zu stoppen und auf einen durch Vermittlung des weißrussischen Diktators Lukaschenko zustande gekommenen Deal einzugehen, der ihm und seinen Truppen Straffreiheit und Exil in Belarus zusagte, wird reine Spekulation bleiben müssen. Prigoschin selbst sprach davon, dass er ein beim Kampf um Moskau zwangsläufig zu erwartendes verheerendes Blutvergießen habe vermeiden wollen. Ob er wirklich mit seinem Aufstand von Anfang an einen Staatsstreich mit einem Sturz Putins bezweckt, dann aber doch aufgegeben hatte, weil ihm die erhoffte Unterstützung durch etwaige oppositionelle Kräfte in der Führung des Kremls oder des Militärs versagt geblieben war, wird sich wohl kaum mehr sicher feststellen lassen.
Ob das Ansehen des russischen Präsidenten Putin durch sein defensiv-zögerliches Verhalten in dieser schweren Staatskrise tatsächlich nachhaltig beschädigt wurde, wie viele westliche Medien feststellten, bleibt abzuwarten.