Ob kasachische Spätaussiedlerin, Künstler aus England oder indischstämmiger Ladenbesitzer: Berlin zieht Menschen aus aller Welt an. So unterschiedlich ihr Blick auf die Stadt, einig sind sich unsere drei Protagonisten über eines – ihre neue Heimat ist Berlin.
Medina Schaubert: „Jeder Bezirk ist anders"
Ich bin in einem kleinen Dorf in Kasachstan geboren und 1997 nach Berlin gekommen. Als Russlanddeutsche durften wir nach Deutschland auswandern. Die meisten Verwandten gingen nach Bayern und Baden-Württemberg, wo unsere Vorfahren herkamen. Aber meine Mutter sagte: Lieber nach Berlin, das ist eine Großstadt, da wird es nie langweilig.
Ich bin gelernte Arzthelferin, jetzt studiere ich Mathematik und Wirtschaftsinformatik und bin Geschäftsführerin bei Vision, dem Verein der Aussiedler in Berlin.
Wurzeln in die alte Heimat gibt es nicht mehr, ich war seit der Auswanderung nicht mehr dort. Berlin ist meine ultimative Heimat geworden. Ich fühle mich als Berlinerin, ich liebe diese Stadt. Einmal habe ich versucht, in Tübingen zu leben – das hat überhaupt nicht funktioniert. Ein halbes Jahr habe ich durchgeheult, weil ich Berlin so vermisste. Da sagte ich mir, ich werde die Stadt nie wieder verlassen. Und wenn, dann nur für eine kurze Zeit, mit der Gewissheit, dass ich zurückkommen kann. Ich bin viel unterwegs in Europa und jedes Mal beim Anflug auf Berlin erwische ich mich bei dem Gedanken: Jetzt bist Du daheim!
Berlin ist von der Gesellschaft her sehr vielfältig und frei. Das merkt man aber erst, wenn man woanders gelebt hat. Hier kann ich immer mit Menschen kommunizieren, ganz gleich, welcher politischen Gesinnung oder welchen sozialen Standes. Es ist alles etwas unkonventioneller. Hier verschwimmen die Grenzen, egal, ob zum Beispiel jemand gut oder schlecht verdient. Trotzdem traue ich mich nicht, den Berliner Dialekt zu benutzen, weil ich denke, das steht mir nicht zu, sondern nur den „Urberlinern". Am Wochenende zieht es mich zum Ausgehen oder Feiern nach Kreuzberg oder in den Prenzlauer Berg, aber auch die Marzahner Berge finde ich toll. Das macht ja den Charme Berlins aus, dass jeder Bezirk etwas anders ist und etwas Eigenes hat. Schade nur, dass vielerorts fast ausschließlich Englisch gesprochen wird wegen der Touristen: Da geht viel vom Berliner Flair verloren.
Adam Page: „Die Stadt der Vielfalt"
Geboren bin ich in England, in Bedford, nördlich von London. Ich bin freischaffender bildender Künstler und kam vor zwölf Jahren nach Berlin. Mit meiner Partnerin Eva Hertzsch arbeite ich seit 1997 zusammen. Davor haben wir in London gelebt und von 1994 bis 2007 in Dresden. Unsere Tochter ist dort geboren, aber als das zweite Kind unterwegs war, überlegten wir: Wollen wir unsere Kinder dort großziehen?
Wir haben uns für Berlin entschieden, denn wir kannten die Stadt gut. Für Künstler ist Berlin der Hotspot in Westeuropa, für uns aber auch die Stadt der Vielfalt, eine offene Gesellschaft. Berlin fasziniert und inspiriert mich. Meine Themen sind die Pole zwischen Außen- und Innenstadt, die Verdichtung, die Stadtnatur und der Ausverkauf der Freiräume. An einigen Stellen findet man die noch, zum Beispiel in Hellersdorf. Dort habe ich Projekte gemacht, ebenso in Siemensstadt, in Nord-Neukölln, in Moabit und im Wedding. Es gibt unheimlich viel spannende Architektur überall. Das ist ja das Interessante an Berlin: Es gibt nicht nur die Highlights. Die Stadt ist einfach viel zu komplex, selbst ihre Narben sind spannend. Das sind Orte, wo man Geschichte sehen und erleben kann. Das hält mich hier, denn ich lerne jeden Tag etwas Neues dazu. Gerade recherchiere ich über die vielen verschwundenen Güterbahnhöfe in Berlin. Einst haben Züge die Stadtteile versorgt. Die wird man wieder brauchen, wenn das Dieselverbot kommt und weniger Lkw fahren dürfen.
Mir gefällt der Berliner Humor, die Berliner Schnauze. Die Berliner sind einfach gelassen und tolerant, auch im Straßenverkehr – jedenfalls im Vergleich zu Dresden! Ich fühle mich als Künstler wertgeschätzt, auch wenn es für uns gerade nicht einfach ist, wenn ich beispielsweise an die Ateliersituation denke. Ich finde es gut, dass Künstler und auch die Bürger sich mehr und mehr in die Politik einbringen und etwas bewegen wollen.
Ich kann sagen: Ich bin ein Berliner. Meine Kinder auch. Als ich meine Tochter fragte, ob sie, wie ich einst, auch mal weggehen wird, antwortete sie: Nee, ich bleibe hier.
Vijay Jangle: „Freue mich auf zu Hause"
Ich kam mit 19 Jahren von Bombay nach Deutschland, um Papierherstellung zu lernen. Ein Onkel brachte mich auf die Idee und vermittelte mir die Kontakte –
ich habe hier gelernt und den Meister gemacht und auch in Österreich und der Schweiz gearbeitet. Als ich wieder Bewerbungen schreiben musste, war eine Firma in Berlin die einzige, die mir sofort zugesagt hat. Sie organisierte für mich auch Arbeitserlaubnis und Aufenthaltsbewilligung.
Im April 1970 kam ich in Berlin an. Ich hatte zwar von der Mauer gehört, aber sonst keine Vorstellung, wie es sein würde. Zuerst lebte ich in einem Arbeitnehmerwohnheim im Wedding, eine schöne Zeit! Da hatte ich mir das erste Mal Besteck und Töpfe gekauft, weil wir dort zusammen kochten. Die Arbeit machte mir Spaß, ich hatte Verantwortung und verdiente gutes Geld. 1974 habe ich geheiratet, zusammen sind wir viel gereist. Dann kam das erste Kind. Nach langer Suche fand ich eine Wohnung in Charlottenburg, da lebe ich noch heute. Wir waren die ersten Ausländer im Haus. Zuerst wurde komisch geguckt, aber das ging vorbei.
Und dann: Mauerfall! Ich konnte das gar nicht glauben: Überall Menschen, lange Schlangen vor den Geschäften. Allerdings mit unvorhergesehenen Folgen: Meine Firma meldete Konkurs an und ging nach Schwedt an der Oder.
Da nahm ich mein ganzes Geld und setzte alles auf eine Karte: Ich kaufte mir einen Laden für Tabak- und Süßwaren. Das war so toll, da würde ich immer noch arbeiten, wenn meine Gesundheit mitgemacht hätte! Alle waren nett. Wenn jemand in den Urlaub fuhr, gab er mir den Schlüssel. Ich hatte auch prominente Kunden wie Katja Riemann und Christoph Waltz.
Als ich aufhörte, waren alle traurig. Jetzt bin ich Rentner, gehe zweimal die Woche Schwimmen, mache jeden Tag Gymnastik und überlege, ob ich Bogenschießen lerne.
Ich habe es nie bereut, nach Berlin gekommen zu sein. Es war meine Zukunft und ist meine zweite Heimat geworden. Ich würde mit keiner anderen Stadt in Deutschland tauschen. Meine Familie, meine Kinder und Enkelkinder leben hier. Wenn ich nach einer Reise aus dem Flugzeug auf die Stadt sehe, freue ich mich auf zu Hause.