Mit der Ernennung des Musik-Megastars Pharrell Williams zum neuen Kreativkopf der Herrenmode war Louis Vuitton, dem wertvollsten Brand der Fashion-Branche, ein genialer Überraschungscoup gelungen. Doch der US-Amerikaner mischt schon seit 20 Jahren in der Mode mit.
Niemand hat im Vorfeld etwas von der sensationellen Personalie geahnt. Dabei blieb der Posten des Kreativchefs der Herrenmode bei der Pariser Maison Louis Vuitton nach dem überraschenden Tod des genialen Designers und Visionärs Virgil Abloh mehr als ein Jahr lang unbesetzt. Über zwei Saisons hinweg gab es jede Menge wilde Spekulationen über mögliche Nachfolger. Am höchsten gehandelt wurden Namen wie Grace Wales Bonner, Martine Rose und Colm Dillane. Letzterer hatte als Interims-Designer die Menswear-Kollektion Herbst/Winter 2022/2023 zusammen mit den langjährigen, erfahrenen Mitarbeitern des Herrenstudio-Traditionshauses entworfen. Auch die in der Branche derzeit sehr beliebte Ernennung eines hauseigenen, öffentlich noch weithin unbekannten Talents aus der zweiten Reihe wurde nicht ausgeschlossen. Ein richtiger Paukenschlag wären alle diese Lösungen jedoch nicht gewesen.
Aus diesem Grund haben sich die Verantwortlichen des LVMH-Konzerns mit Besitzer Bernard Arnault einen Mega-Coup ausgedacht. Mitte Februar haben sie via Instagram-Botschaft den nächsten großen Namen aus dem Hut gezaubert: „Pharrell Williams ist ein Visionär, dessen kreative Universen sich von der Musik über die Kunst bis hin zur Mode erstrecken und der sich in den letzten 20 Jahren zu einer globalen Ikone entwickelt hat. Die Art und Weise, wie er die Grenzen zwischen den verschiedenen Welten, die er erforscht, sprengt, passt zum Status von Louis Vuitton als Cultural Maison und unterstreicht die Werte von Innovation, Pioniergeist und Unternehmertum.“ Louis Vuitton möchte mit Pharrell Williams in ein neues Zeitalter starten: „Seine kreative Vision jenseits der Mode wird Louis Vuitton zweifellos in ein neues und sehr aufregendes Kapitel führen.“
Bei all diesen Vorschusslorbeeren und der geradezu hysterischen Berichterstattung in den Medien wurde oft übersehen, dass der berühmte Musikstar – der in seiner Karriere schon 13 Grammy Awards bei sagenhaften 38 Nominierungen einheimsen konnte und dessen Solo-Hit „Happy“ aus dem Jahr 2013 wohl selbst Abstinenzler der modernen Musik kennen dürften – nur für die geschäftlich bislang nicht ganz so bedeutende Herrensparte bei Louis Vuitton federführend sein wird.
Stellenwert der Männermode wächst weiter
Für die Damen-Abteilung der Nobelmarke wird weiterhin mit Nicolas Ghesquière ein Meister seines Fachs verantwortlich sein. Tatsächlich wird der Männermode in der Mode-Industrie aktuell ein stetig wachsender Stellenwert eingeräumt, denn in der jüngeren Generation ist das Interesse für Mode und Stil keine Frage des Geschlechts mehr.
Für die Fans der Musik-Legende, darunter alleine mehr als 14,3 Millionen Instagram-Follower, war die offizielle Bestallung von Pharrell Williams am Valentinstag jedenfalls ein zusätzlicher Grund zum Feiern. Kritische Töne, die in den sozialen Medien durchaus aufgekommen waren, wurden schnell erstickt oder gar nicht erst erwähnt. Nicht jeder wollte die Ernennung eines scheinbar Branchenfremden ohne fundierte modische Ausbildung zum kreativen Kopf eines solch renommierten Fashion-Hauses als geniale Selbstverständlichkeit schlucken oder gutheißen. In den Stil-Kolumnen der wichtigsten deutschen Gazetten von „Zeit“ über „FAZ“ bis hin zur „Süddeutschen Zeitung“ war eine überraschend einheitliche Zustimmungs-Phalanx zur Ernennung des „Happinators“ (so die „Zeit“-Headline) wahrzunehmen. Viele der Argumente waren durchaus einleuchtend, zumal diese Zeitungen sich die Mühe gemacht haben, schon auf jede Menge früherer Berührungspunkte von Pharrell Williams mit der Mode-Industrie hinzuweisen.
Dennoch muss die Frage erlaubt sein, ob Louis Vuitton der gesamten Branche wirklich einen so guten Dienst erwiesen hat, indem die Marke die Position des Designers in seiner klassischen Form derart revolutioniert hat. Zumal der Konzern LVMH etwas Ähnliches ja bereits im September 2021 mit der Ernennung des ehemaligen japanischen DJs und Musikproduzenten Nigō (Jahrgang 1970) zum Kreativdirektor des Nobelbrands Kenzo gemacht hat. Nigō, dessen Geburtsname Tomoaki Nagao lautet, hat sich schon lange im Mode-Business einen Namen als „Streetwear-Guru“ mit seinem exklusiven, 1993 gegründeten Label A Bathing Ape gemacht. Und, welch ein Zufall: Zehn Jahre später hat er gemeinsam mit Pharrell Williams die beiden vornehmlich auf eine männliche Klientel ausgerichteten Luxus-Streetwear-Brands Billionaire Boys Club und Ice Cream ins Leben gerufen. Geht es hier eigentlich noch um Mode oder nur noch um ein möglichst „zugkräftiges Aushängeschild“ beziehungsweise um eine „marketing-freundliche Promi-Lösung“, wie es auch die „SZ“ fragend in den Raum gestellt hat?
Ähnliche Gedanken wurden in der „FAZ“ geäußert: „Aha, die Stars ersetzen jetzt also in den Top-Häusern die Designer. Könnte der Beruf des Modedesigners aussterben, nachdem der Begriff Modeschöpfer sowieso schon aus der Zeit gefallen ist? Da Vermarktung längst Verarbeitung übertrumpft?“ Sinnigerweise lautet der offizielle Titel von Pharrell Williams bei Louis Vuitton schließlich auch „Artistic Director“.
Geschlechterfluide Styles der Kollektion
Dennoch bezeichnete die „Zeit“ die Ernennung von Williams als einen durchaus klugen Schachzug vonseiten Louis Vuittons: „LVMH saugt nach und nach alles in sich auf, was früher einmal unabhängige (teure) Fashion-Subkultur war. Für genau dieses Modell stand auch Virgil Abloh. Er war DJ, Musikproduzent, Architekt, bewegte sich mit seinem eigenen Label Off-White genau zwischen Straße und Luxus.“ Und hat, könnte man hinzufügen, wie kein anderer die Generation Z für Luxuskleidung interessieren können. Mithin genau jene Klientel, die LVMH auch mit Williams bei Louis Vuitton und mit Nigō bei Kenzo für sich gewinnen möchte. Natürlich wird von Pharell Williams nicht erwartet, dass er im Atelier Klamotten skizziert, geschweige denn selbst zu Nadel und Faden greifen wird. Das alles wird er seinen handwerklich kundigen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen überlassen. Seine Aufgabe wird vielmehr darin bestehen, die generelle Linie vorzugeben, wobei er seine eigenen Erfahrungen und Vorlieben in Sachen Mode (wie auch bei seinen eigenen beiden bereits genannten Brands und bei diversen Kooperationen mit Top-Marken) mit ins Spiel bringen wird. Schließlich wurde er schon mehrfach zum bestgekleideten Mann des Globus gekürt. „Dass er 49 Jahre alt ist“, so die „Zeit“, „würde man nie denken, weil er sich so hübsch jungenhaft stylt, mit kurzen Hosen, irgendwo zwischen Skaterboy, Ivy-League-Schuluniform und Harlem Renaissance und mit einem Hauch Bling. Williams trägt auch gern Chanel-Kostümjäckchen, was seinem Stil einen modernen Spin in Richtung Gender Nonconformity gibt. Umso besser. Sein Stil ist kultiviert – und cool. Also: cooltiviert!“ Die Arbeit in einem modernen Mode-Atelier habe ohnehin laut der „Zeit“ viele Gemeinsamkeiten mit Studio-Musikproduktionen: „Statt alles allein zu machen, bündelt der moderne Musikproduzent die Arbeit vieler, die ihm zuarbeiten … Genauso im modernen Modeatelier: Dort entwirft der Kreativdirektor auch nicht jedes einzelne Produkt selbst, sondern er gibt die Linie vor, kontrolliert die Arbeit seines Kreativteams, nickt ab, lässt überarbeiten, bis ein stimmiges Gesamtbild entsteht.“ Ins gleiche Horn stieß die „SZ“ mit dem Hinweis, dass der heutige Kreativchef eines Modehauses nicht mehr nur über ein Schneidertalent verfügen sollte. Stattdessen „sollte man andere Talente mitbringen, am besten eine Handvoll, über diverse Disziplinen hinweg, um im Stakkatotakt genug Strahlkraft für die Marke zu erzeugen.“
Ob es Williams in kürzester Zeit gelingen kann, Louis Vuitton seine eigene stilistische Handschrift aufzudrücken, wird sich schon im Juni 2023 anlässlich der Herrenschauen in Paris beurteilen lassen. Ein Mammutspektakel rund um die Louis Vuitton-Show dürfte da garantiert sein.
Vermutlich wird in seiner luxuriösen Streetwear viel Geschlechterfluides zu sehen sein. Als enorm hilfreich für Pharell Williams Ernennung wurden auch seine familiären Wurzeln als Sohn eines Afroamerikaners und einer Philippinin angesehen. Sein Vorgänger Virgil Abloh war der erste schwarze Kreativchef des französischen Luxushauses und wurde von Louis Vuitton daher als Wegbereiter für mehr Chancengleichheit und Diversität gefeiert. Ein weißer Nachfolger hätte womöglich als gesellschaftlicher Rückschritt gedeutet werden können, schließlich gibt es mit Olivier Rousteing bei Balmain nur einen einzigen weiteren Schwarzen auf verantwortungsvollem Posten in einem Pariser Nobelunternehmen. Schon Virgil Abloh wollte dies grundlegend ändern: „Meine eigentliche Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass es sechs junge schwarze Kinder gibt, die meinen Job nach mir übernehmen können.“
2014 begann eine Partnerschaft mit der Marke Adidas
Auffällig ist, dass Williams, der nach eigenem Bekunden seine erste Berührung mit der Mode im Alter von 21 Jahren beim Entwerfen erster eigener Schmuckstücke hatte, Louis Vuitton bei der Aufzählung seiner Lieblingsmarken nicht an vorderster Stelle genannt hat. Obwohl es doch schon zweimal eine Kooperation der beiden Partner gegeben hatte. 2004 hat Williams gemeinsam mit Kreativchef Marc Jacobs Sonnenbrillen für Louis Vuitton entworfen (das bekannteste Model trug den Namen „Millionaires“), vier Jahre später mit Camille Miceli Schmuck für das Pariser Haus. Stattdessen bekennt er sich immerzu als großer Fan von Chanel und Karl Lagerfeld. Der Musiker hat sich für Werbekampagnen einspannen lassen, war auf Chanel-Laufstegen zu sehen und hat für Lagerfelds Kurzfilm „Reincarnation“ eigens einen Song komponiert. Die Krönung der Zusammenarbeit mit Karl Lagerfeld sollte eine Capsule-Unisex-Kollektion, „Chanel Pharrell“, werden, die aber erst nach dem Tod des deutschen Modeschöpfers im Frühjahr 2019 präsentiert werden konnte. Sie bot Streetwear-Klassiker wie Hoodies, Jogginganzüge und Sneakers, dazu gab es Anglerhüte und große Tragetaschen, die meisten Pieces waren in knalligen Farben gehalten. Das Highlight der Kollektion war eine Sonnenbrille mit runden Gläsern und den beiden Namenszügen der Partner „Chanel“ und „Pharrell“. 2017 konnte sich Williams als Designer eines Luxus-Sneakers in die Kooperation von Chanel und Adidas einbringen. Dass Williams auch privat gern Chanel-Handtaschen und von ihm selbst abgewandelte Chanel-Ketten trägt sowie keine Berührungsängste beim Tragen von diamantbesetztem Schmuck hat, egal ob es sich dabei um Kopfhörer, Ohrringe oder Ketten handelt, ist ohnehin längst bekannt. Das kann sich aber eigentlich auch nur eine männliche Stilikone (er freut sich über diese Titulierung, akzeptiert sie aber nicht) wie der 1973 in Virginia geborene Musiker leisten. Aber bei der Beschreibung seiner Alltagsgarderobe tauchte die Marke Louis Vuitton dann doch noch auf, neben Chanel, Ralph Lauren, A Bathing Ape, Comme des Garçons und Junya Watanabe.
Ernsthaft in die Mode eingestiegen war der Sänger aber schon vor 20 Jahren mit der Gründung der beiden Streetwear-Luxuslabels Billionaire Boys Club und Ice Cream. Außer gut betuchten Promis aus der Musik-Szene wie Jay-Z konnte sich aber kaum jemand die teuren Stücke leisten, die zunächst nichts anderes als eine modeaffine Weiterentwicklung des gängigen Rapper-Looks waren. Letztendlich haben sie aber ihren Beitrag zum Aufstieg der Streetwear in die Luxusmode geleistet. 2011 stieg Williams als Kreativdirektor bei KarmaloopTV ein, einem Netzwerk des Streetwear-Retailers Karmaloop. Zwei Jahre später, als Williams längst Stammgast in den Front Rows der Fashion Weeks war, entwarf er eine Sonnenbrillen-Linie für das Label Moncler. 2014 begann die Partnerschaft mit Adidas, für die Williams unter anderem zwei Jahre später die Kollektion „Humanrace“ und 2021 die Serie „Winter Premium Basics“ entwarf. Im gleichen Jahr engagierte sich Pharell Williams beim Unternehmen Bionic Yam, das aus Meeresplastik Textilien herstellt, um auf Basis dieses Materials eine Denim-Kollektion „Raw for the Oceans“ in Zusammenarbeit mit G-Star Raw herauszubringen. Damit war es für das Jahr 2014 noch nicht genug, denn Williams kreierte für Uniqlo die Kollektion „I am other“.
Ende 2020 kam dann Williams Einstieg in die Beauty-Welt mit Gründung der Hautpflegeserie „Humanrace“. Zum 70-jährigen Jubiläum von Moncler wurde Williams 2022 mit der Neuinterpretation der Daunenjacke „Moncler Maya“ beauftragt. Und gleichzeitig kam eine Kapselkollektion aus Hoodies, Boots und Hosen von Williams in Zusammenarbeit mit Timberland auf den Markt. Schließlich sickerte auch noch die 2023 anstehende Design-Kooperation mit Tiffany & Co. durch (erste schmuckbesetzte Sonnenbrillen konnten schon gesichtet werden), praktischerweise ebenfalls eine Tochter des LVMH-Konzerns. Angesichts all dieser modischen Verpflichtungen und der Arbeit für Louis Vuitton müssen sich Fans seiner Musik wohl in nächster Zeit auf eine länger dauernde Auszeit einstellen.