Die Eishockey-Nationalmannschaft geht mit viel Selbstvertrauen ins olympische Turnier. Diesmal wäre eine Medaille keine so große Sensation wie der Silber-Coup vor vier Jahren.
Toni Söderholm ist ein Mann, der auf sein Äußeres achtet. Bei Spielen steht der stets adrett gekleidete Finne in einem schicken Anzug hinter der Bande, der passende Westover und ein Schlips dürfen meist auch nicht fehlen. Entsprechend vollgepackt dürfte der Koffer gewesen sein, den der Eishockey-Bundestrainer für das Olympia-Abenteuer in Peking mitgenommen hat. Zumal Söderholm mit der Nationalmannschaft möglichst bis zum Schlusstag der Winterspiele am 20. Februar im Turnier bleiben will – dann steigt das Finale.
Doch ein bisschen Platz hat er im Koffer freigelassen. „Ich will etwas mit heimbringen, und das sind nicht nur meine Klamotten", sagte der Finne. Ihm schwebt ein Souvenir der besonderen Art vor: eine Olympiamedaille. „Es ist ganz klar, dass das für uns ein Ziel ist", so Söderholm. Ein zweites Eishockey-Märchen vier Jahre nach dem Silbercoup von Pyeongchang ist gar nicht so unwahrscheinlich. Die Auswahl des Deutschen Eishockey-Bundes (DEB) hat sich in der Weltspitze etabliert, der überzeugende Halbfinal-Einzug bei der WM 2021 in Lettland war ein weiterer Beweis dafür. In der aktuellen Weltrangliste des Weltverbandes IIHF belegt Deutschland den fünften Rang – noch vor Tschechien, Schweden und der Schweiz. „Die Truppe ist einfach unglaublich", findet Söderholm, „wir haben ein sehr starkes Fundament und ein Stück Siegermentalität entwickelt." Auch für den Berliner Angreifer Marcel Noebels, der als einer von zehn Silber-Helden von 2018 auch in Peking dabei ist, hat das Team zuletzt „einen Riesenschritt" nach vorne gemacht.
Medaille als offizielles Ziel ausgegeben
Eine Medaille wäre diesmal also keine Sensation. Söderholm hat die Arbeit von Silberschmied Marco Sturm erfolgreich fortgesetzt, mit viel Akribie und Fachwissen hat er die Mannschaft – da sind sich Experten relativ einig – sogar auf ein noch höheres Level gehoben. Wenn es beim Turnier in Peking in der Vorrunde gegen Rekordsieger Kanada (10. Februar), Gastgeber China (12. Februar) und gegen die Toptalente aus den USA (13. Februar) geht, treten die deutschen Nationalspieler mit einem ganz anderen Selbstvertrauen an. „Wir haben unsere Komplexe abgelegt", erklärte Kapitän Moritz Müller. Der Verteidiger der Kölner Haie hofft auf den gleichen Teamgeist, der die Mannschaft bei der WM im Vorjahr bis auf Platz vier getragen hat. „Talent haben wir genug in der Mannschaft, das wird immer besser werden", sagte Müller, „aber unser Zusammenhalt, unsere Leidenschaft – das muss immer da sein."
Nicht dabei ist wieder einmal mehr Leon Draisaitl. Der Superstar der Edmonton Oilers darf wie alle anderen NHL-Profis nicht am olympischen Turnier teilnehmen. Die Corona-Welle hat die nordamerikanische Profiliga heftig getroffen, zahlreiche Spiele mussten verschoben und die Weihnachtsunterbrechung vorgezogen werden. In der Zeit, in der die NHL wegen Olympia eigentlich hätte pausieren sollen, werden nun Nachholspiele absolviert. Draisaitl, der genau wie Angreifer Tim Stützle (Ottawa Senators), Verteidiger Moritz Seider (Detroit Red Wings) und Torhüter Philipp Grubauer (Seattle Kraken) eine große Verstärkung für das DEB-Team dargestellt hätte, ärgert sich über die verpasste Chance. „Ein olympisches Turnier mit den besten Spielern der Welt wäre etwas Besonderes gewesen", sagte der gebürtige Kölner, „gerade auch vor dem Hintergrund, dass die letzte Teilnahme der NHL-Spieler schon acht Jahre zurückliegt."
Auch bei den Winterspielen in Pyeongchang waren die Kufencracks aus Nordamerika nicht am Start gewesen, damals hatten die NHL und das IOC keinen Kompromiss über die Freistellung der Stars gefunden. Rückblickend betrachtet war das einer der Gründe, warum sich das deutsche Team bis ins Finale vorkämpfen konnte. Die Kanadier, Schweden, Finnen, Amerikaner und Tschechen mussten auf deutlich mehr NHL-Power auf dem Eis verzichten – und kamen damit nicht gut zurecht. Auch jetzt dürfte der Faktor „Eingespieltheit" größer wiegen als die individuelle Klasse. Vorteil Deutschland – das meint auch der Ex-Bundestrainer.
„Das Gute ist sicherlich, dass viele Spieler bereits beim letzten Mal dabei waren und somit wissen, was auf sie zukommt – egal in welcher Partie oder Situation. Und das wird der deutschen Mannschaft schon enorm helfen", sagte Sturm, der den Medaillen-Traum für sehr realistisch hält. Gerade ohne die NHL-Spieler sei „bei einem solchen Turnier wieder alles möglich". Sogar Gold? „Mittlerweile ist es einfach so", meinte der aktuelle Assistent des NHL-Clubs Los Angeles Kings, „dass wir uns als deutsche Nationalmannschaft vor keinem Gegner mehr verstecken müssen – und ich meine wirklich keinem!"
„Zusammenhalt und Identifikation"
Solche Sätze hört sein Nachfolger gern. Der Druck ist durch das Silber-Wunder unter Sturm zwar groß, doch Söderholm hält sein Team für stark genug, um im Medaillenkampf erfolgreich mitzumischen. Er habe eine Mannschaft beisammen, die über „Zusammenhalt und Identifikation", „viele Erfahrungen" und „auch die entsprechenden Typen in der Kabine" verfüge, sagte der Bundestrainer bei der offiziellen Kaderbenennung stolz: „Das ist ein guter Ausgangspunkt für unsere Reise."
Im DEB-Kader stehen neben Olympia-Helden wie Noebels, Müller, Danny aus den Birken und Dominik Kahun auch zahlreiche andere Profis, die sich im internationalen Vergleich nicht verstecken müssen. Nico Krämmer oder Marco Nowak zum Beispiel zählen zwar nicht zur hochtalentierten Generation um Seider und Stützle, aber sie sind zuverlässig und füllen wichtige Rollen aus. Und Kahun, Korbinian Holzer, Tobias Rieder und Tom Kühnhackl bringen sogar NHL-Erfahrung mit aufs Eis. Letzterer gewann bereits zweimal mit Pittsburgh Penguins den Stanley Cup. „Die Qualität und der Charakter innerhalb des Teams sind großartig", lobte DEB-Präsident Franz Reindl die Zusammenstellung
Ins 25-köpfige Aufgebot wurde auch Marcel Brandt berufen, obwohl wenige Tage zuvor eine Corona-Erkrankung des Straubingers publik geworden war. Die Pandemie stellt alle vor große Herausforderungen, die jüngste Handball-EM in Ungarn und der Slowakei war ein warnendes Beispiel. Gebeutelt von zahlreichen Corona-Fällen war die deutsche Mannschaft nicht konkurrenzfähig, als der Medaillenkampf heiß wurde. In Peking wären positive Tests ungleich tragischer, denn Nachnominierungen sind aufgrund der scharfen Einreiseregelungen nicht möglich. Wie schnell sich ein Virus ausbreitet, zeigt auch das Beispiel der tschechischen Eishockey-Nationalmannschaft, die in der Vorbereitung zahlreiche infizierte Spieler vermeldete.
Die Spielervereinigung SVE forderte daher die Deutsche Eishockey Liga (DEL) auf, die letzten sechs Spiele vor der Olympiapause abzusagen – „vor allem für unsere Olympioniken". DEB-Sportdirektor Christian Künast sprach sich ebenfalls dafür aus, doch DEL-Geschäftsführer Gernot Tripcke lehnte die Forderung schnell ab. Es seien bereits zu viele Spiele ausgefallen; logistisch und auch rechtlich sei ein verfrühter Spielstopp nicht möglich.