Für die Topathleten des deutschen Teams in Peking ist das Motto „Dabei sein ist alles" nicht genug – sie wollen sich den Traum vom Edelmetall erfüllen. Wer hat die besten Chancen?
Sieben Sportarten, 15 Disziplinen, 109 Entscheidungen – aber wer holt Gold für Deutschland bei den Olympischen Winterspielen? Wenn das „Team D" den dritten Platz im Medaillenspiegel erreichen will, wie es die Zielvorgabe des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) ist, dann müssen Siege her. FORUM stellt die aussichtsreichsten Goldanwärter vor – aber ohne Gewähr. Nicht nur die Unberechenbarkeit des sportlichen Wettstreits, auch Corona kann den aufgelisteten Personen einen Strich durch die Rechnung machen.
KARL GEIGER (SKISPRINGEN)
Deutschlands Vorspringer fiel nach der für ihn enttäuschenden Vierschanzentournee in ein Loch. Sein Sturz beim anschließenden Weltcup in Bischofshofen war der ultimative Hinweis, dass er eine Pause brauchte. „Nach Bischofshofen musste ich echt Luft holen, denn die war raus", sagte der 28-Jährige, „es ging einfach nichts mehr." Der mit klaren Siegambitionen gestartete Geiger hatte in der Tournee-Endabrechnung nur den vierten Platz belegt, manche befürchteten einen psychischen Knacks für Olympia. Doch Geiger kämpfte sich aus dem Tief heraus, „Karl hat sich super erholt seit Bischofshofen", sagte Bundestrainer Stefan Horngacher. Wie gut, das zeigte er beim jüngsten Heimweltcup in Titisee-Neustadt, als er mit einer grandiosen Flugshow einen Doppelsieg einfuhr.
„Das war einfach geil", jubelte Geiger, „das Gefühl nehme ich jetzt mit." Schöner Nebeneffekt: Er überholte Ryoyu Kobayashi auch in der Gesamtweltcupwertung. Der japanische Tournee-Gewinner ist Geigers größter Olympia-Konkurrent, auch der Norweger Marius Lindvik ist hoch einzuschätzen. Aber: Bei Olympischen Spielen fliegen die DSV-Adler immer besonders weit. Vor vier Jahren hatte Andreas Wellinger mit Gold von der Normalschanze und Silber von der Großschanze überragt, außerdem holten Geiger und Co. Platz zwei im Teamspringen. Nun greift er nach Gold – den perfekten Sprung hat er im Kopf immer wieder durchgespielt. „Ich begebe mich in den Tunnel", beschrieb er es einmal, „und wenn es drauf ankommt, drücke ich drauf und attackiere mit Vollgas."
KATHARINA ALTHAUS (SKISPRINGEN)
Die Oberstdorferin kämpft nicht nur um den Sieg, sondern auch um Gleichberechtigung. Ihr Einsatz für eine Vierschanzentournee der Frauen ist beispielhaft, und auch hier gibt Althaus nicht so schnell auf. „Klar ist es schade, dass es in diesem Jahr wieder nicht geklappt hat. Aber da muss man wohl geduldig sein und weiter Druck machen", sagte die 25-Jährige. Bei Olympia will die Skispringerin der Österreicherin Marita Kramer im Nacken sitzen, die als Goldfavoritin an den Start geht. Doch auch Althaus darf sich Hoffnungen machen, nach Silber in Pyeongchang diesmal ganz oben auf dem Treppchen zu stehen.
Dass die schwierigen Umstände ein ganz großes Olympia-Flair diesmal nicht zulassen, nimmt Althaus rational gelassen hin. „Es ist trotzdem Olympia, es werden trotzdem Medaillen verteilt", sagte sie, „und dafür gebe ich Gas und trainiere jeden Tag. An der Motivation wird es nicht scheitern." Eine große Konkurrentin muss sie nicht mehr schlagen: Pyeongchang-Siegerin Maren Lundby lässt den kompletten Olympia-Winter aus, um ein Zeichen gegen den Gewichtswahn in ihrem Sport zu setzen. Für Sotschi-Siegerin Carina Vogt hat es aus sportlichen Gründen nicht für eine Nominierung gereicht.
FRANCESCO FRIEDRICH (BOB)
Das Olympiajahr begann für den Bob-Dominator mit einer Pleite. Am Neujahrstag war Friedrich im lettischen Sigulda komplett neben der Spur, nach etlichen Fehlern stand bei ihm im Zweier-Rennen nur Platz zwölf zu Buche. Die schöne Siegesserie von 21 Weltcup-Erfolgen nacheinander war gerissen! Seine Konkurrenten atmeten dagegen auf: Friedrich, „der Große", ist also auch nur ein Mensch und keine Maschine. Für Olympia war dieser Rückschlag vielleicht gar nicht so schlecht, er schärft beim Topfavoriten auf Gold im kleinen und großen Schlitten nochmals die Sinne. „Man muss schon auf absolutem Topniveau starten und Bob fahren, um in diesem extrem engen Feld vorne zu sein", warnte Bundestrainer René Spies: „Das war eine Warnung für Olympia."
Läuft aber alles normal, fährt Friedrich im Yanqing National Sliding Center seine Olympiasiege Nummer drei und vier ein. Sein größter Gegner scheint kein Mensch zu sein, sondern das Virus. Der 13-malige Weltmeister hatte fast schon panische Angst, sich kurz vor der Abreise noch mit Corona anzustecken und dadurch die Winterspiele zu verpassen. Deshalb lud er an Weihnachten auch seinen Bruder und seine Eltern aus. „Da muss man höllisch aufpassen, weil es sich gerade bei uns in der Region stark verbreitet", sagte der Sachse.
JOHANNES LUDWIG (RODELN)
Nein, nicht Felix Loch fliegt als größte deutsche Goldhoffnung nach Peking. Der langjährige Dominator und dreimalige Olympiasieger ist aktuell nur der Herausforderer. In der Olympiasaison hat ihm einer ganz klar den Rang abgelaufen, der den Machtwechsel auch in der olympischen Eisrinne manifestieren möchte: Johannes Ludwig. „Das ist eine gewisse Genugtuung", sagte der Thüringer, der im stolzen Alter von 35 Jahren plötzlich aus Lochs langem Schatten fährt: „Es ist ein Entwicklungsprozess bei mir, der länger dauert als bei anderen."
Seinen Premierensieg feierte er erst mit 30 Jahren – da hören viele Aktive bereits mit dem Leistungssport auf. Auch Ludwig dachte mehr als einmal darüber nach, den Schlitten in die Ecke zu stellen. „Natürlich habe ich mich öfters gefragt: Warum tue ich mir das an?" Die Wende brachte seine Bronzemedaille im Einzel bei Olympia 2018 in Pyeongchang. Damals profitierte der Polizeiobermeister von einem Patzer von Loch. Diesmal will Ludwig nicht auf Fehler anderer angewiesen sein, sondern alle Kontrahenten auf sportlichem Wege besiegen. Dass er das kann, hat er bewiesen. Bei den Frauen gilt Julia Taubitz aus Oberwiesenthal als Goldkandidatin, auch die Doppelsitzer Toni Eggert/Sascha Benecken kämpfen im Normalfall um den Olympiasieg.
CHRISTOPHER GROTHEER (SKELETON)
Früher dachte der Skeletoni: je mehr, desto besser. Vor allem beim Krafttraining. Grotheer packte immer ordentlich Gewichte auf die Hanteln – bis ihn im Sommer starke Rückenschmerzen behinderten. Tiefe Kniebeugen mit der Hantel standen danach auf dem Index, generell stieg Grotheer von Maximal- auf Schnellkrafttraining um. Mit Erfolg: Der Weltmeister fuhr in den ersten acht Weltcuprennen der Saison einen Sieg und fünf weitere Podestplätze ein. „Mein Problem ist, dass ich manchmal zu verbissen bin", sagte er: „Jetzt gebe ich dem Körper etwas mehr Ruhe."
Doch ganz ohne Intensität geht es natürlich nicht, schließlich ist der sechsmalige Weltmeister Martins Dukurs aus Lettland ein harter Rivale. Auch im eigenen Team hat Grotheer starke Konkurrenz. Bei den Frauen ruhen die Hoffnungen auf Tina Hermann, auch wenn die Formkurve der siebenmaligen Weltmeisterin zuletzt nach unten zeigte. Grotheer will sich bis zum ersten von vier Läufen auf der Olympiabahn so gut es geht von der Außenwelt abschotten. Ein positiver Corona-Test in Peking sei für ihn „eine Horrorvorstellung", denn der würde mit einem Schlag zunichtemachen, was er sich „die letzten zwei Jahre hart erarbeitet" habe.
KIRA WEIDLE (SKI ALPIN)
Die ganzen Diskussionen um Corona oder die Menschenrechte in Peking blendet Kira Weidle komplett aus. Zumindest versucht sie es. Ihr Motto beim Nachrichten-Konsum lautet in diesen Tagen: „Je weniger, desto besser." Denn: „Jede Info, die man bekommt, macht einen irgendwo verrückt, und man denkt darüber nach." Und das kann Weidle überhaupt nicht gebrauchen, denn wenn sie zu viel grübelt, ist sie auf der Piste nicht schnell genug. „Bei mir ist alles Kopfsache", sagte sie.
Bei ihrem zweiten Platz in der Abfahrt in Zauchensee fuhr sie befreit und mit „richtig Spaß" aufs Podest, das für sie zuvor in der Olympiasaison außer Reichweite gewesen war. Ein erweitertes Mentaltraining in der Weihnachtspause brachte die Vizeweltmeisterin wieder in die Erfolgsspur. Das gebe ihr „natürlich Selbstbewusstsein für Olympia", sagte die 25-Jährige, die für den deutschen Alpinchef Wolfgang Maier „zu den absoluten Topläuferinnen im Abfahrtsrennsport gehört". Wenn denn der Kopf mitspielt. Über die unbekannten Strecken im Nationalen Ski-Alpin-Zentrum Xiaohaituo oder die zu erwarteten Schnee-Sorgen will Weidle daher auch gar nicht groß nachdenken. „Wenn ich gut Ski fahre und Spaß dabei habe", sagte sie, „bin ich auch schnell".
RAMONA HOFMEISTER (SNOWBOARD)
Im Alter von 25 Jahren schon zwei Bandscheibenvorfälle gehabt zu haben, ist bedenklich. Der Rücken – das weiß Hofmeister – ist ihre Schwachstelle. Eine Operation im November verkürzte ihre Olympiasaison, doch der Eingriff hat sich gelohnt. „Meinem Rücken geht es jetzt sehr gut", sagte die Vizeweltmeisterin: „Klar hatte ich weniger Trainingstage, aber die habe ich umso besser genutzt." Im Genting Skiresort peilt Hofmeister den Angriff auf Gold an, nachdem ihr vor vier Jahren schon ein Bronze-Coup gelungen war. „Das große Ziel ist natürlich, ganz oben zu stehen", gab die Snowboarderin zu.
Nach dem Rücktritt der zweifachen Weltmeisterin Selina Jörg ist Hofmeister die größte deutsche Hoffnungsträgerin ihrer Sportart, sie soll auch die Talente Melanie Hochreiter und Carolin Langenhorst führen. Zu viel des Drucks? Nicht für die souveräne Hofmeister. „Ich bin keine, die sich Druck oder Stress macht, sondern es genießt", sagte sie. Ihre größten Konkurrentinnen dürften im Parallel-Riesenslalom die Tschechin Ester Ledecká und die junge Russin Sofija Nadyrschina sein.