Noch vor vier Jahren war Andreas Wellinger in Hochform und glänzte als gefeierter Skisprung-Olympiasieger. In Peking müssen es nun aber andere richten – Wellinger ist nicht dabei.
Andreas Wellinger war nie jemand, der typisch in das Skisprung-Business hineinpasste. Immer mal wieder ein breites Grinsen, freche Antworten gegenüber Journalisten – auch wenn es mal nicht so läuft. Doch vor dieser Olympia-Qualifikation war es dann tatsächlich so weit, dass auch Wellinger ein trauriges Statement abgeben musste: „Da kann man nix anderes sagen als: Scheiße gelaufen." Wellinger zählt zu jenen Skispringern, die im langen Weltcupwinter selten glänzen, dafür zum Saisongipfel, sei es Weltmeisterschaft oder Olympia, meist Anwärter auf eine Medaille sind. Wellingers letzte Qualifikationschance für Peking zuletzt in Titisee-Neustadt wurde also mit Spannung erwartet, dann aber, nach vielen Anläufen in diesem Winter, erreichte ihn die Nachricht: Corona-positiv. „Zwar knapp über dem Grenzwert", sagte Wellinger, „aber trotzdem positiv. Das ist extrem bitter."
Die Mannschaft sieht tatsächlich auch ohne Wellinger respektabel aus dank Constantin Schmid, 22, dem erfahrenen Pius Paschke, dem zuverlässig springenden Stephan Leyhe und natürlich dem Medaillenkandidaten Markus Eisenbichler und dem Medaillenfavoriten Karl Geiger. Falls sich keiner verletzt, bleiben Wellinger und der andere Formsucher Severin Freund zurück – jene beiden Springer, die das bis heute andauernde deutsche Skisprung-Hoch in den Zehnerjahren mit angeschoben hatten. Freund war der souveräne Kapitän, Wellinger das Symbol für innere Leichtigkeit. Als Teenager erreichte er 2014 in Sotschi mit dem Team Olympiagold. Es folgten zwei WM-Silbermedaillen und dann, 2018, der Auftritt in Pyeongchang. Dort, im bitterkalten Skisprungstadion, erwischte Wellinger jene konstante Leistungsfähigkeit, die man jungen Skispringern oft leichtfertig abspricht. Doch für Peking erreichte er sie nicht – und muss deshalb zuschauen. Deshalb sollen es in diesem Jahr andere richten.
Auch Severin Freund fehlt
Ganz oben bei den Medaillenhoffnungen steht Karl Geiger. Der 28-Jährige ist der Frontmann des deutschen Teams, und er freut sich mächtig auf das Großereignis. „Schon als Kind habe ich die Olympischen Winterspiele immer gern im Fernsehen geschaut", sagte er im Hochschwarzwald. Sein Plan für die Springen im Einzel, im Team sowie im Mixed mit den Frauen: „Ich werde alles reinhauen, was ich draufhabe." Auftrieb soll ihm der Erfolg vom Samstag in Neustadt geben. Er wusste: „In den letzten Jahren habe ich mich hier immer schwergetan." Aber jetzt glückten ihm beide Sprünge sehr gut: „Dieses gute Gefühl nehme ich mit."
Eine gleiche Leistungssteigerung legte Markus Eisenbichler beim Finale in Neustadt hin. Für ihn ging es von Platz fünf auf Platz drei. „Das war ganz gut", sagte später der emotionale Eisenbichler, der seine Freude auch verbal zum Ausdruck brachte: „Ich kann immer strahlen. Das Leben ist doch schön." Und das, obwohl Eisenbichler bewegte Zeiten hinter sich hat. In Kurzform: schwerer Sturz, große Olympia-Enttäuschung als Ersatzmann, Siege, Frust, Titel, Kraftausdrücke und plötzlich deutscher Rekord-Weltmeister. Der Bayer ist einer, mit dem sich das breite Publikum wegen seiner authentischen Art, seines unverstellten und für viele auch unverständlichen Dialekts und der extrem großen Bandbreite der Emotionen identifizieren kann. In diesem Sommer wurde in seiner Heimat Siegsdorf gar feierlich eine Markus-Eisenbichler-Halle errichtet, das Skisprung-Vorbild erhielt einen Generalschlüssel. Doch auch das war für Eisenbichler eigentlich zu viel. „Es ist schon eine große Ehre, aber ich hätte es nicht unbedingt gebraucht", sagte der Skispringer, der auch als weit gereister Spitzensportler seiner Heimat treu geblieben ist. Im weniger stressigen Sommer genießt er gern die Ruhe an den nahe liegenden Seen oder wandert in den Alpen, die quasi vor seiner Haustür liegen.
Komplettiert wird das Führungstrio der deutschen Skispringer von Stephan Leyhe. Bereits zum zweiten Mal in seinem Leben darf der Springer aus Schwalefeld, einem Ortsteil von Willingen in Nordhessen, sein Glück bei Olympischen Winterspielen versuchen. 2018 gewann er Silber mit der Mannschaft. Auch für ihn war es danach nicht immer eine leichte Zeit. Ein Kreuzbandriss, erlitten 2020 in Trondheim, hatte Leyhe von einem auf den anderen Moment außer Gefecht gesetzt. Keine Sprünge von der heimischen Mühlenkopfschanze, keine Lehrgänge, nichts.
Eisenbichler ist stets gut gelaunt
Bundestrainer Stefan Horngacher ordnete an, dass sich der Nordhesse Zeit, viel Zeit, nehmen solle, um wieder der Alte zu werden. Derjenige, der vor knapp zwei Jahren den wohl emotionalsten Moment seiner Skispringerkarriere erlebte: Sieg beim Weltcup im Strycktal. Ein Willinger siegt in Willingen. Das hatte es in der Geschichte des Willinger Weltcups noch nie gegeben. Leyhe kommt nicht über die spektakulären Sprünge, sondern über seine Verlässlichkeit und Konstanz. Leyhe ist Teamplayer. Einer, der zwar in letzter Konsequenz für sich springt. Einer, der aber immer auch das Wohl der Mannschaft im Auge hat. So wie bei Olympia 2018 in Pyeongchang, als Leyhe zum Silberteam gehörte. So wie bei der Weltmeisterschaft im Jahr darauf in Seefeld, als das Team Deutschland am Innsbrucker Bergisel triumphierte und den Titel holte. Deshalb ist er so wichtig. Auch um dem unbekümmert aufspringenden Constantin Schmid, dem Junior der Mannschaft, ein wenig Halt zu geben. Der ehemalige Junioren-Weltmeister wird nicht um die vorderen Ränge mitspringen können, wird aber wichtige Erfahrungen bei seiner ersten Olympia-Teilnahme sammeln. Auch Pius Paschke wird wohl nicht um eine Einzelmedaille kämpfen, im Team-Wettbewerb ist der konstante Sprungstil jedoch ein Faustpfand.
Mentalität entscheidet
An Konkurrenz für die deutschen Skispringer mangelt es in Peking jedoch nicht. Karl Geigers größter Konkurrent ist Ryoyu Kobayashi, der ihm den Sieg bei der Vierschanzentournee zunichtemachen konnte. In Neustadt konnte Geiger Kobayashi jedoch wieder hinter sich lassen – viele Experten erwarten in Peking einen Zweikampf zwischen den beiden Weltklassespringern. Anderen Favoriten ergeht es derzeit wie Wellinger – sie kämpfen mit einer Corona-Infektion. Der polnische Verband bestätigte einen positiven Test von Weltmeister Piotr Zyla. Im norwegischen Team gibt es mit Johann André Forfang einen dritten Fall. Der wie Zyla für die Winterspiele in Peking nominierte Forfang bestätigte kurz vor dem avisierten Start ins Trainingslager, dass auch sein PCR-Test positiv ausgefallen sei. Damit vergrößerten sich die Sorgen von Norwegens Trainer Alexander Stöckl noch weiter. In seiner Mannschaft waren zuvor bereits Daniel-André Tande und Fredrik Villumstad positiv getestet worden. Sie befinden sich wie der zuletzt im Weltcup zweimal siegreiche Marius Lindvik als enge Kontaktperson Tandes und nun auch Forfang in Quarantäne. Ihr Start ist dennoch geplant, doch was ist in Corona-Zeiten eigentlich noch planbar?
Doch Skisprung-Bundestrainer Stefan Horngacher hat derweil so einige Springer auf seinem Zettel: „Einen Kamil Stoch hat man immer auf dem Zettel. Ryoyu Kobayashi ist in dieser Saison wieder sehr stark. Er wird ganz schwierig zu knacken sein, kann sich eigentlich nur selbst schlagen. Mit Stefan Kraft muss man rechnen, und die Norweger haben mit Halvor Egner Granerud, Marius Lindvik, Daniel-André Tande und Robert Johansson vier sehr gute Springer. Dazu springen die starken Slowenen und nicht zuletzt der Schweizer Killian Peier auf sehr hohem Niveau. Es wird eine mentale Herausforderung. Wer mental der Stärkste ist, wird am Ende vorn sein." Die Möglichkeiten, dass es ein Deutscher sein kann, stehen aber nicht schlecht. Kann Geiger seine Form bestätigen, wird er schwer zu schlagen sein. Auch ein Eisenbichler bringt die nötige Qualität mit, zu überraschen. Klar ist jedoch: Am Ende entscheidet bei Olympia nicht immer die reine Qualität – sondern es entscheiden vor allem die Nerven. Und eventuell das Coronavirus.