Selten zuvor war die Vorfreude bei Athleten und Fans auf Olympia so gering wie vor den Winterspielen in Peking. Die Gemengelage aus Corona, Politik, Menschenrechten und Nachhaltigkeit überschattet das, wofür das größte Sportfest der Welt eigentlich steht.
Der „Olympische Frieden" ist aus der Antike überliefert. Der Legende nach schlossen griechische Stämme damals einen Waffenstillstand, damit die Wettkämpfe sicher abgehalten werden konnten. Auch wenn der „Olympische Frieden" in der Geschichte mehrfach gebrochen wurde, ist er noch immer ein fester Bestandteil der ursprünglichen Idee von Pierre de Coubertin, dem Gründervater der Neuzeit-Spiele, den sportlichen Wettstreit als Mittel zur Völkerverständigung zu nutzen. Kurz vor den Winterspielen von Peking (4. bis 20. Februar) bekräftigten zum Beispiel die Vereinten Nationen (UN) mit ihrer traditionellen Resolution auf der Vollversammlung die Wahrung des „Olympischen Friedens". Man hoffe, sagte Sitzungspräsident Abdulla Shahid, auf die „Schaffung einer friedlichen und besseren Welt durch den Sport und die olympischen Ideale".
Nun stellt aber ausgerechnet der Gastgeber den Frieden innerhalb der olympischen Familie auf eine harte Probe. Die drastischen Einreisebestimmungen, die besorgniserregenden Quarantänebedingungen, der höchst problematische Umgang mit der Meinungsfreiheit, die dramatische Menschenrechtslage im Land – all das trübt das „Fest des Sports", das von politischen Debatten überschattet wird. Die USA, Australien, Kanada, Großbritannien und Neuseeland schlossen sich einem politischen Boykott an, sie werden keine diplomatischen Vertreter nach Peking entsenden. Diese Forderung wurde auch in Deutschland laut.
Auch, weil die Chinesen im Vorfeld kaum Kompromissbereitschaft gezeigt hatten. Für großes Unbehagen sorgten die jüngsten Aussagen von Yang Shu. Der stellvertretende Generaldirektor für internationale Beziehungen im Organisationskomitee gab zu bedenken, dass gegen chinesische Gesetze oder Regeln gerichtete Äußerungen von Olympioniken „mit einer bestimmten Bestrafung geahndet" werden könnten. Athletenvertreter weltweit sahen darin eine „offene Drohung". In jedem Fall war es eine Warnung, vielleicht auch eine Einschüchterung. „Natürlich nimmt man so was als Stimmungsdämpfer auf", sagte der Nordische Kombinierer Eric Frenzel. China heißt die „Jugend der Welt" willkommen, ohne dass diese sich wirklich willkommen fühlt. „Wir Sportler müssen jetzt das ausbaden, was das IOC nicht hinbekommen hat", sagte Biathlet Erik Lesser, der dem mächtigsten Mann im Ringeorden Opportunismus vorwarf: „Wir müssen auch kritischere Töne von uns geben, was Thomas Bach als IOC-Präsident nicht schafft."
In der Tat ist vom Chef des Internationalen Olympischen Komitees kaum ein negatives Wort über China und die vielfältigen Probleme zu hören gewesen. Man könne „sicher sein, dass unsere Partner und Freunde herausragende Winterspiele bieten werden", sagte Bach, der bei politisch kniffligen Fragen gern auf die Neutralität des Ringeordens verweist. Dass viele Dinge in China mit den olympischen Idealen nicht vereinbar sind, weiß aber natürlich auch Bach. Aber: China ist auch für das IOC ein gewaltiger Markt, auf dem sich – anders als in Europa – noch Steigerungsraten erzielen lassen. Entsprechend rechtfertigte der frühere Fecht-Olympiasieger auch die immensen Kosten für eine neue Wintersport-Infrastruktur in einer Region, in der es aufgrund des trockenen Klimas nur selten schneit. Durch die Spiele würden „300 Millionen Menschen an den Wintersport herangeführt" werden, rechnete Bach vor: „Wenn davon nur ein Bruchteil übrig bleibt, haben sie schon eine hervorragende Auslastung." Eine recht eigenwillige Interpretation von Nachhaltigkeit.
In dieser Weise moderierte Bach vor der Eröffnungsfeier am 4. Februar auch alle anderen Probleme weg. Zur Wahrheit gehört aber auch: Er hatte kaum eine andere Wahl. Öffentliche Kritik würde das autoritäre Regime in China als grobe Missachtung der Geschäftsbeziehungen werten, die Lage hätte sich dadurch wohl noch verschlechtert. Der Fehler wurde für viele schon am 31. Juli 2015 gemacht, als die IOC-Mitglieder die Hauptstadt Chinas zum Gastgeber erwählten. Was aber die meisten vergessen: Weil unter anderem München aufgrund eines negativen Bürgerentscheids auf eine Bewerbung verzichtete, blieb einzig Kasachstan mit seiner Metropole Almaty als Gegenkandidat übrig. In der autoritär geführten Republik tobt derzeit ein heftiger politischer Machtkampf mit Protesten und Ausschreitungen auf den Straßen.
Corona-Maßnahmen als Deckmantel
Solche Szenen sind in Peking aktuell undenkbar, mit Oppositionellen wird im Riesenreich nicht zimperlich umgegangen. Zudem können die Verantwortlichen alleine schon unter dem Deckmantel der Corona-Maßnahmen Protestaktionen unterbinden. China will sich ungestört für die XXIV. Olympischen Winterspiele feiern lassen. Peking ist mit den zwei weiteren Wettkampfarealen in Yanqing und Zhangjiakou die erste Stadt, die nach Sommerspielen (2008) auch Winterspiele austrägt.
Die insgesamt 109 Wettkämpfe in sieben Sportarten und 15 Disziplinen finden ohne ausländische Zuschauer statt. Die Eintrittskarten für die einheimischen Besucher gingen nicht in den freien Verkauf, sondern wurden zur besseren Nachverfolgung zentral verteilt. Die Zuschauer müssen sich vor, während und nach den Wettkämpfen testen lassen. Diese extremen Test-Hürden warten auch auf die Sportler und übertreffen in dieser Hinsicht die Olympischen Sommerspiele in Tokio vor einem halben Jahr noch mal deutlich. Jedes positive Ergebnis bedeutet das Aus, die hochansteckende Omikron-Variante ist damit der erste und vielleicht auch größte Gegner. Dabei sein ist alles – dieses olympische Motto ist diesmal so treffend wie noch nie.
Bob-Goldkandidat Francesco Friedrich lud aus Angst vor einer Ansteckung sogar seine Eltern für das Weihnachtsfest aus. Den deutschen Eishockey-Nationalspielern wurde geraten, auch zu Hause eine Maske zu tragen. „Die Athleten kasteien sich für Olympia", meinte Rodel-Bundestrainer Norbert Loch. Manchmal reichte aber auch das nicht: Wegen eines positiven Tests musste unter anderem der zweimalige Skeleton-Weltmeister Axel Jungk um seinen Start bangen. Nur mit vier negativen PCR-Tests in der Hand könnte er noch nach China einreisen.
Eine Corona-Infektion vor Ort ist noch problematischer, vor der Quarantäne haben alle Angst. Die deutschen Rodler erlebten bei ihrer Generalprobe auf der Olympiabahn hautnah mit, was Chinas rigider Umgang im Sinne der Corona-Eindämmung bedeutet. „Wir dürfen nur aus dem Zimmer, wenn Bahntraining ist, bekommen nicht wirklich vernünftiges Essen in Plastikbechern und Tüten vor die Tür gestellt, haben keine Möglichkeit uns zu bewegen, jeden Tag zwei Corona-Tests", hatte es die viermalige Olympiasiegerin Natalie Geisenberger damals beschrieben. Doppelsitzer Tobias Arlt war zunächst positiv getestet worden und in einem Quarantäne-Hotelzimmer mit Kakerlaken untergekommen. „Ich war fassungslos", berichtete Arlt, „es war wie in einem Gefängnis!"
Vor der Quarantäne haben alle Angst
Für Wolfgang Schobersberger, Vorsitzender des medizinischen und wissenschaftlichen Komitees in Peking, ist das nicht überraschend. „Die Chinesen machen keine Kompromisse", sagte der Chefmediziner. Auch während Olympia ist es das oberste Gebot, die Corona-Ausbreitung zu stoppen. Dabei sind die Inzidenzzahlen verglichen mit Europa verschwindend gering.
Viel Unsicherheit gibt es auch wegen der Auswertung der PCR-Tests. Nicht nur der Alpin-Chef Wolfgang Maier warnte vor der Möglichkeit der Manipulation: „Mit einem PCR-Test kann ich sofort jeden sportlichen Gegner aus dem Rennen nehmen." Das sei „kein Hirngespinst" von ihm, betonte Maier, „weil man weiß, um was es geht". Kurz vor dem Start gaben die Organisatoren bekannt, dass der CT-Richtwert (je tiefer, desto höher die Viruslast) bei 35 liegen soll. In Deutschland gilt 30 als Grenze.
Diejenigen, die die vielen Testreihen erfolgreich bestehen, müssen bei der Landung in China offensichtlich einen Teil ihrer Persönlichkeitsrechte abgeben. Die Olympia-App „My2022", die möglichst von allen Teilnehmern auf dem Handy installiert werden soll, weist laut Experten des Citizen Lab der Universität in Toronto „verheerende" Sicherheitslücken auf. Die Universität in Toronto sieht in ihr dagegen die „Möglichkeit zur Zensur". Die Zweifel über die Datensicherheit geht so weit, dass einige Nationale Olympische Komitees, darunter auch der DOSB, ihren Sportlern von der Nutzung privater Endgeräte in China abraten. Die Niederländer haben es sogar verboten.
Bleibt noch das Problem der Nachhaltigkeit. In Zeiten des Klimawandels und globaler Protest-Bewegungen für den Umweltschutz kann sich eigentlich auch das IOC nicht erlauben, sein Prestigeprojekt auf Kosten der Natur zu realisieren. Vor allem nicht im Wintersport, der die Auswirkungen schon jetzt deutlich zu spüren bekommt. Der Neubau zahlreicher Sportstätten und Wettkampforte in Peking und Umgebung könne man „nur bei einer entsprechenden Nachnutzung rechtfertigen", gab Bach zu. Experten bezweifeln dies aber stark. Und auch wenn es zwei Wochen vor dem Start im Olympiaort geschneit hat: Auf natur-weiße Spiele hoffte nicht mal das IOC: Die Evaluierungskommission ging von einer „kompletten Abhängigkeit von Kunstschnee" aus.