Wie in jedem Jahr lieferte der Wintersport auch 2022 zahlreiche Höhe- und Tiefpunkte. Manche Athleten wurden bejubelt, andere kritisiert. Und die Klimakrise ist längst ein Dauerthema.
Die Olympischen Spiele in Peking? Organisatorisch ein Erfolg, sportlich größtenteils unspektakulär, gesellschaftspolitisch nicht nur für Human Rights Watch „ein Albtraum für die Menschenrechte“. Die Weltcup-Saisons und Titelkämpfe? Aus deutscher Sicht insgesamt durchwachsen. Corona? Ein unsichtbarer Begleiter und ständiges Ärgernis. Nicht wenige in der Szene sind froh, wenn hinter dem Wintersportjahr 2022 endlich ein Schlussstrich gezogen wird. Wir geben einen Überblick über die Gewinner und Verlierer.
GEWINNER
Francesco Friedrich: Wenn das Wort „Dominator“ auf einen Sportler passt, dann auf Francesco Friedrich. Der Sachse setzt im Bobsport neue Maßstäbe. Durch seinen Doppelsieg in Peking kommt er nun auf vier Olympia-Goldmedaillen, außerdem darf er sich 13-facher Weltmeister nennen. In der kompletten Vorsaison beendete er nur zwei Wettbewerbe nicht als Gewinner, die Kristallkugeln für die Weltcup-Gesamtsiege im kleinen und großen Schlitten gingen klar an ihn. Und auch die neue Saison 2022/23 startete er im kanadischen Whistler mit Siegen im Zweier und Vierer.
„Friedrich, der Große“ fuhr 2022 in einer anderen Liga, genau wie in den Jahren zuvor auch. Das liegt einerseits am durch das Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten (FES) bereitgestellten Material, das im Weltvergleich seinesgleichen sucht. Zum anderen gilt Friedrich als Perfektionist, der nie locker lässt und jedes Training wie einen Wettkampf angeht. Dass seine (lähmende) Dominanz für die Randsportart auch ein Problem sein kann, weiß Friedrich. „Aber soll ich nur Halbgas fahren?“, fragte der 32-Jährige rhetorisch. Selbst beim Spaß-Event „Wok-WM 2022“ in Winterberg, als er seinen „Vierer-Wok“ steuerte, konnte Friedrich nicht anders als zu gewinnen. „Der Pokal fehlte noch in der Trophäensammlung“, sagte er schmunzelnd.
Denise Herrmann: Die strahlende Olympia-Heldin von Peking hat ein Buch geschrieben, und der Titel verwirrt zunächst: „Zielsicher“. Denn genau das war Herrmann zunächst nicht, als sie vom Langlauf zum Biathlon wechselte. „Sobald ich auf der Schießmatte gestanden bin, lief etwas schief“, sagte sie einmal. Mit der Hilfe eines Mentaltrainers bekam sie die Probleme in den Griff – der Lohn war das sensationelle Gold im olympischen 15-Kilometer-Wettbewerb von Peking, dazu noch Bronze mit der Frauen-Staffel. Nach Magdalena Neuner und Laura Dahlmeier ist sie der nächste weibliche Biathlon-Star, auch wenn es in der vergangenen Weltcupsaison nur zum Gesamtplatz sechs gereicht hat.
Herrmann weiß, dass nun deutlich mehr Druck auf ihr lastet. Auch deswegen ließ sie lange offen, ob sie ihre Karriere fortsetzen wolle. Nach reiflicher Überlegung steigt sie aber auch in diesem Winter in die Skischuhe und schnallt sich das Gewehr auf den Rücken. „Es sind nicht mehr Ergebnisse oder Medaillen, die mich in erster Linie antreiben“, sagte sie: „Vielmehr ist es das Streben nach Perfektion. Die schnellste Laufzeit von allen, die Null schießen, dazu die schnellste Schießzeit – das ist mein Traumziel, für das ich arbeite.“
Lena Dürr: Zwei Zehntelsekunden sind für das menschliche Bewusstsein kaum messbar. Doch für Lena Dürr bedeuteten jene zwei Zehntelsekunden Rückstand im Olympia-Slalom von Peking Welten: Platz vier statt Olympiasieg, Holzmedaille statt Gold. Doch der erste Frust über die Millimeter-Entscheidung zu ihren Ungunsten hat sich längst gelegt, der Stolz über die starke Leistung überwiegt. Sie verbinde „mehr gute als negative Emotionen mit dem Slalom in China“, sagte die Münchnerin: „Ich denke da positiv zurück, auch wenn an dem Tag alles dabei war, von höchstem Hoch bis ins richtige Tief. Aber das gehört dazu und ich bin dadurch gewachsen.“
Toni Söderholm und der Vorwurf der Raffgier
Allerdings begann die neue Saison 2022/23, wie die alte aufgehört hatte: mit zwei vierten Plätzen im finnischen Levi. Und das, obwohl Dürr erneut auf Siegkurs gelegen hatte. In beiden Läufen Topleistungen zeigen und die Nerven in den Griff bekommen – dann kann die 31-Jährige im Slalom jede Gegnerin schlagen. Doch auch so zählte Dürr aus deutscher Sicht zu den wenigen Lichtblicken des Jahres, drei dritte Weltcupplätze belegen dies. Für DSV-Alpinchef Wolfgang Maier ist sie dank der „Hammersaison“ eine „absolute Gewinnerin“.
ARD und ZDF: Auch das Fernsehen darf sich als eine Art Gewinner fühlen. „Auch wenn wir auf eine schwierige Saison zurückschauen“, sagte ZDF-Sportchef Thomas Fuhrmann, „haben wir die Erfolgsgeschichte Wintersport im ZDF fortgeschrieben“. Insgesamt verfolgten die teilweise stundenlangen Übertragungen im Zweiten vom November 2021 bis März 2022 durchschnittlich 2,32 Millionen Zuschauer (Marktanteil: 18,5 Prozent). Dazu kommen neue Rekordwerte bei der Nutzung der Mediathek und des Online-Angebots. Ähnliches berichtete auch die ARD. Die Corona-Jahre haben die Lust der Zuschauer am Wintersport offenbar nicht negativ beeinträchtigt.
VERLIERER
Toni Söderholm: Wenn man sich gegen den Vorwurf der Raffgier wehren muss, dann weiß man, dass die eigene, angeblich aus sportlichen Gründen getroffene Entscheidung bei anderen nur schwer nachzuvollziehen ist. Der Finne hatte Anfang November überraschend seinen Posten als Bundestrainer der deutschen Eishockey-Nationalmannschaft aufgegeben, um in der Schweizer Liga beim SC Bern als Clubcoach anzuheuern. Und das, obwohl er erst im vergangenen März seinen Vertrag beim Deutschen Eishockey-Bund bis 2026 verlängert hatte. Vom DEB gab es deswegen keinen Vorwurf, schließlich war eine entsprechende Ausstiegsklausel im neuen Vertrag beidseitig verankert worden. Doch klar ist auch: Der Verband wurde von der Entscheidung überrumpelt.
Im letzten Jahr als Bundestrainer büßte Söderholm deutlich an Reputation ein, das frühe Olympia-Aus in Peking haftet ihm als großer Makel seiner Amtszeit an. Vor allem deswegen, weil sein Vorgänger Marco Sturm vier Jahre zuvor mit dem Silber-Coup in Südkorea für ein Eishockey-Märchen gesorgt hatte. Dessen erfolgreiche Arbeit führte Söderholm zunächst fort, doch zum Ende hin wurden Risse zwischen Trainer und Mannschaft sichtbar. Auch Söderholms ständiges Liebäugeln mit einem Job in der NHL hatte intern für Verstimmung gesorgt.
Wenige Lichtblicke bei Skisprungteam
Das deutsche Skisprung-Team: Zugegeben, die Bronzemedaillen-Gewinner im Mannschaftsspringen von Olympia in die Kategorie der Verlierer zu verorten, ist gewagt. Doch selbst intern hatte man sich angesichts der Qualität in Peking mehr versprochen. Und nicht nur dort: Auch bei der Skiflug-WM in Vikersund und der Vierschanzentournee flogen die deutschen Ski-Adler am Titel vorbei. „Die Saison ist nicht ganz perfekt verlaufen, aber das gibt es nie“, sagte Bundestrainer Stefan Horngacher: „Überall, wo es Medaillen gibt, haben wir Medaillen gewonnen.“ Nur eben nicht die goldene.
Vor allem der verpasste Triumph bei der Vierschanzentournee im vergangenen Januar war ein riesiger Stimmungsdämpfer. Die Topathleten Karl Geiger und Markus Eisenbichler waren als Mitfavoriten gestartet, am Ende aber jubelte einmal mehr ihr japanischer Rivale Ryoyu Kobayashi. Seit 21 Jahren wartet Deutschland beim prestigeträchtigen Wettbewerb auf einen Sieg. Dass sich die beiden DSV-Topspringer am Ende etwas verbessert präsentierten, „interessiert keinen“, wie Eisenbichler genervt feststellte. Immerhin konnte sich Geiger wenig später mit zwei Bronzemedaillen in Peking trösten.
Thomas Dreßen: In der schlimmsten Phase seiner Leidenszeit ging es Deutschlands besten Ski-Abfahrer richtig dreckig. Er sei „mental in ein Loch gefallen. Ich hatte auf nichts mehr Lust, obwohl ich eigentlich nicht zu den schweigsamen Zeitgenossen gehöre.“ Nach intensiven Gesprächen mit seinem Mentaltrainer musste der frühere Sieger der Hahnenkammabfahrt in Kitzbühel feststellen, „dass ich leichte depressive Phasen hatte“. Diese hat Dreßen mittlerweile überwunden, auch sportlich ist er nach dem Comeback im kanadische Lake Placid, seinem ersten Weltcup-Rennen seit März 2020, auf dem aufsteigenden Ast.
Das Jahr 2022 will Dreßen deswegen am liebsten komplett vergessen. Nachdem ihn zunächst eine Hüft-Operation ausgebremst hatte, machte ihm eine Knieverletzung einen Strich durch die Saisonrechnung. Kein einziges Rennen konnte der 29-Jährige bestreiten, Olympia ging ohne ihn über die Bühne – mit sehr überschaubarem Erfolg für die deutschen Alpinfahrer. Einzig die Silbermedaille im gemischten Teamwettbewerb zum Abschluss verhinderte eine Medaillen-Nullnummer. Die vierten Plätze von Kira Weidle in der Abfahrt und Lena Dürr im Slalom sowie Rang sieben von Linus Straßer im Männerslalom waren beachtenswert, konnten die Probleme des deutschen Teams in der Spitze und Breite aber nicht kaschieren. Und die Teammedaille sei zwar „eine tolle Leistung“, wie die dreimalige Olympiasiegerin Maria Höfl-Riesch betonte, „vom Stellenwert her aber nicht ganz so hoch zu gewichten wie eine Einzelmedaille“.
Die Nordische Kombination: Seit Jahrzehnten ist die Kombinations-Sportart aus Skispringen und Langlauf ein Medaillengarant für Deutschland – so auch bei Olympia in Peking mit Gold für Vinzenz Geiger und Silber für das Team. Doch damit könnte zumindest bei Winterspielen bald Schluss sein, das Internationale Olympische Komitee eröffnete den Kombinierern eine düstere Olympia-Prognose: „Um es klar zu sagen – der Platz der Männer für 2030 ist nicht garantiert“, sagte IOC-Sportdirektor Kit McConnell vor ein paar Wochen. Schon die Entscheidung gegen eine Aufnahme eines Frauen-Wettbewerbs ins olympische Programm für 2026 in Mailand und Cortina war ein Fingerzeig.
Neue Lösungen sind nötig angesichts des Klimawandels
Das IOC vermisst ein vielfältiges Teilnehmerfeld, außer Deutschland sind eigentlich nur Norwegen, Österreich und Japan stark vertreten. Außerdem wird das Zuschauer-Interesse bemängelt, das gemessen an den TV-Quoten, der Medien-Berichterstattung und den Social-Media-Aktivitäten im Vergleich zu anderen Wintersportarten deutlich hinterherhinken soll. „Beim IOC geht es nur um Zahlen, Zahlen, Zahlen. Alles drumherum, etwa Tradition, zählt nichts mehr“, schimpfte Team-Olympiasieger Fabian Rießle. Es gehe nur noch darum, „wer die meisten Social-Media-Follower oder so einen Käse hat“. Der olympische Gedanke bleibe auf der Strecke. Die Nordische Kombination ist seit 1924 olympisch.
Klimawandel-Leugner: Olympische Spiele in China abzuhalten, in einem Land, das wenig bis keine Wintersport-Tradition hat, mutet reichlich absurd an. Zumal die Klimabilanz für den Bau der teils gigantischen Wettkampfstädten und für die massive Produktion von Kunstschnee und -eis verheerend ausgefallen sein dürfte. Dabei müsste der Wintersport eigentlich den Weg in die andere Richtung einschlagen, um seine langfristige Zukunft zu sichern. Das Thema Nachhaltigkeit müsse „den gleichen Wert bekommen wie eine sichere Streckenführung“, forderte der frühere Skirennfahrer Felix Neureuther, der sich des Themas in Reportagen und Dokumentationen angenommen hat. Der Sport müsse seinen Beitrag leisten, durch „eine kritische Bestandsaufnahme und die Bereitschaft für Änderungen“, sagte Neureuther, der sich zum Beispiel fragte: „Muss man für einen einzigen Slalom an den Polarkreis fliegen?“
Der Weltcupauftakt der Skispringer Anfang November im polnischen Wisla wurde nicht auf Kunstschnee, sondern auf grünen Matten ausgetragen. Gewöhnungsbedürftig für die Zuschauer, aber kein Problem für die Athleten – und auf jeden Fall besser fürs Klima. Eine mögliche Zukunftslösung.