Lange Ladepausen gehören mit dem Nio ET5 der Vergangenheit an. Die Akkus des chinesischen Elektroautos lassen sich in unter fünf Minuten tauschen. Doch die Sache hat einen Haken.
Guten Morgen!“ Ich habe noch nicht ganz Platz genommen, da meldet sich auch schon eine freundliche Frauenstimme. In der Mitte des Armaturenbretts thront ein tennisballförmiger, drehbarer Bildschirm, der je nach Situation verschiedene Gesichtsausdrücke darstellt. „Nomi“ heißt die sprechende Kugel – laut Hersteller macht sie „die Interaktion zwischen Mensch und Fahrzeug (…) zu etwas völlig Neuem.“ Nüchtern betrachtet handelt es sich bei Nomi (Aufpreis: 600 Euro) um einen Sprachassistenten, wie er in fast jedem modernen Auto vorkommt. In diesem Fall im Nio ET5, einer chinesischen Mittelklasse-Limousine, die nicht nur wie ein Tesla Model 3 aussieht, sondern ebendiesem Konkurrenz machen will.
Von außen ist der ET5 eine Wucht. Lange, geschwungene Linien, schmale Scheinwerfer, sportliches Heck. Zur Krönung ein riesiges Glasdach. Mit 33 Sensoren und Kameras ist der ET5 fast so gut ausgestattet wie ein autonomes Taxi – hier hat der Hersteller schon mal für die Zukunft vorgerüstet. Anders als Konkurrent Tesla setzt Nio allerdings nicht nur auf optische Kameras, sondern verbaut zusätzlich ein Lidar (eine Art Laserscanner), um die Umgebung abzutasten.
Rückscheibe nur Schießscharte
Der Innenraum wirkt hochwertig: Kaum Knöpfe, dafür eine Art „Schubhebel“, mit dem man den Vorwärts- und Rückwärtsgang einlegt. Beim Blick nach hinten hört die optische Freude allerdings auf, denn die Rückscheibe ist nicht viel größer als eine Schießscharte. Beim Einparken muss man sich also auf die vielen Sensoren, Kameras und sonstigen Assistenzsysteme verlassen. Fast alles wird über den 12,8 Zoll großen Touchscreen in der Fahrzeugmitte gesteuert – oder über Nomi, falls sie es denn kann.
Erste Übung: Routenplanung. „Hey Nomi, navigiere nach Stockholm!“ So weit will ich gar nicht, aber da das Ziel über die versprochene Reichweite hinausgeht, müsste Nomi ein paar Ladestopps einplanen – was sie auch tut. Es stehen sogar mehrere Varianten zur Wahl. Meine Tour von Darmstadt nach Köln erscheint da fast langweilig: „Hey Nomi, welche Schnellladestationen gibt es entlang der Strecke?“, frage ich die sprechende Kugel. Prompt erscheinen einige Vorschläge auf dem Bildschirm, die allerdings eher willkürlich wirken. Auch langsame Ladesäulen und solche, die sich nicht direkt an der Autobahn befinden, sind darunter.
Kurios: Sobald ich die entsprechende Funktion selbst auf dem Touchscreen antippe, erscheinen deutlich geeignetere Ladestationen. Diese werden sogar auf der Landkarte angezeigt. Warum Nomi und das Navi hier unterschiedliche Ergebnisse liefern, bleibt ein Geheimnis. Die Fahrt macht Spaß. Alles sehr leise und bequem, wenngleich die Sitze keine verstellbaren Kopfstützen haben. Auch im Fond haben Passagiere viel Platz. Als ich Freunde mitnehme, sind alle sofort hin und weg vom Panoramadach, äußern aber zugleich kritische Töne gegenüber Nomi. Spioniert sie uns aus? „Hey Nomi, ich habe Angst vor dir“, sagt eine Freundin. „Das lässt mich erröten“, antwortet Nomi. Tiefere Diskussionen zur Datenschutzgrundverordnung will sie nicht führen. Immerhin weiß sie, wo sich die nächste Toilette befindet, wenn man sie danach fragt. Dann listet sie Autobahn-Raststätten auf. Die meisten anderen Dinge, die übers Wetter hinausgehen, sind ihr aber fremd.
Ein unerwartetes Highlight bietet das Multimedia-Programm. Dank Anbindung an den Musik-Streamingdienst Tidal spielt Nomi fast jedes Lied ab, das man sich wünscht. Und dann dieser Sound! Satter Bass, kristallklarer Klang, tolles Raumgefühl – als wäre man in einer rollenden Disco. Die Soundqualität ist das Beste am ganzen Auto; hier kann die Konkurrenz einpacken!
Beeindruckende Musikanlage
An der Ladestation angekommen, stehe ich vor dem nächsten Rätsel: Wie öffne ich die Ladeklappe? Ich drücke und drücke und drücke, aber nichts passiert. Die Nio-Hotline erklärt mir später, wo die richtige Stelle liegt. Fürs Erste behelfe ich mir aber wieder per Sprachbefehl: „Nomi, öffne die Ladeklappe!“ Tatsächlich schnappt der Verschluss auf, der Strom kann fließen. Sonderlich schnell geschieht dies allerdings nicht. Mit einer maximalen Ladeleistung von 125 Kilowatt bewegt sich der ET5 am unteren Ende seiner Klasse (Tesla ist schneller). Es dauert ungefähr eine halbe Stunde, die Batterie wieder auf 80 Prozent vollzuladen. Auch dieser Wert ist in Ordnung, aber keineswegs besser als bei der Konkurrenz.
Doch warum eine Batterie laden, wenn man sie auch tauschen kann? An den Nio-eigenen Wechselstationen soll die Prozedur nur etwa fünf Minuten dauern, computergesteuert und (nahezu) vollautomatisch. Vor über zehn Jahren hatte Renault schon einmal derartige Tausch-Stationen geprüft, die sich aber nie durchsetzen konnten. Schon damals war unklar, ob die Batterien anderer Automarken ebenfalls gewechselt werden können – vermutlich nicht, denn bis heute fehlt ein einheitlicher Standard. Zumal die Zahl der Wechselstationen zwar wächst, aber immer noch sehr überschaubar ist: In ganz Europa bietet Nio derzeit 33 solcher Anlaufstellen an.
So viel zur Theorie. In der Praxis muss man eine Wechselstation über den Hauptbildschirm auswählen, um einen Batterietausch zu „buchen“. Ich steuere den Ladepark Hilden an, in dem es neben vielen Ladestationen auch eine solche „Garage“ gibt. Unterwegs wundere mich, dass meine Füße plötzlich immer kälter werden: „Hey Nomi, mir ist kalt!“ Pflichtbewusst zeigt die Assistentin eine höhere Temperatur an, was sich in der Realität aber nicht bemerkbar macht. Wie ein Eiszapfen entsteige ich in Hilden dem Auto – nicht gerade meine Vorstellung einer elektrischen Nobel-Limousine.
In fünf Minuten ein neuer Akku
Durch Zufall ist ein Nio-Servicetechniker vor Ort, der freihat und den Hund spazieren führt. „Das Problem tritt manchmal bei Autobahn-Fahrten auf“, erklärt er mir. „Das ist seit dem letzten Software-Update so.“ Offenbar liegt es an fälschlicherweise öffnenden Klappen, wodurch zu viel Frischluft nach innen strömt – die Heizung kann das dann nicht kompensieren. Und was mache ich, bis es ein neues Update gibt? „Langsam fahren und Umluft einstellen“, rät der Techniker. Beim Batterietausch hingegen kehrt das versprochene Premium-Erlebnis zurück. Nach dem Einparken vor der Wechselstation läuft alles automatisch: Der ET5 fährt auf eine Hebebühne, es surrt und schnarrt und wackelt – dann gleitet er wieder raus. Nach vier Minuten und 30 Sekunden ist alles vorbei. Mit einem zu 90 Prozent geladenen Akku geht’s wieder auf die Autobahn (randvoll ist er nicht, um die Batteriezellen zu schonen).
Servicenetz ist bislang sehr dünn
Im Gegensatz zur Heizung funktioniert dieses Feature wirklich gut. Nutzen können es Fahrerinnen und Fahrer aber nur, wenn sie sich beim Kauf des Nios für eine Batteriemiete entscheiden. Diese kostet monatlich 169 Euro für den kleineren Akku mit 456 Kilometern Reichweite beziehungsweise 289 Euro beim großen Akku (590 Kilometer Reichweite). Alternativ kann man die Batterie kaufen, was 12.000 Euro beziehungsweise 21.000 Euro kostet. Das kommt auf den Grundpreis von 47.500 Euro obendrauf. Ein Tesla Model 3 kostet weniger, obwohl die Batterie schon enthalten ist.
Nach 14 Tagen fällt mein Resümee zum Nio ET5 durchwachsen aus. Er ist todschick, hochwertig und bietet mit dem Batterie-Wechselsystem ein echtes Alleinstellungsmerkmal. Den Hype um Nomi finde ich übertrieben – vom animierten Gesicht abgesehen, kann sie nicht wirklich mehr als die Konkurrenz. Die Steuerung per Touchscreen und Sprachassistentin ist ungewohnt. Ein paar echte Knöpfe hätten nicht geschadet.
Darüber hinaus bleiben wirtschaftliche Fragen: Schafft es Nio, langfristig zu überleben? Medienberichten zufolge steckt der Konzern in finanziellen Schwierigkeiten, auch das Servicenetz ist in Deutschland bislang dünn. Hinzu kommt der hohe Preis. Nomi, warum bist du so teuer?!