Als kreativer Paukenschlag konnte das Debüt von Sabato De Sarno nicht eingestuft werden. Stattdessen soll der neue Design-Chef das Label Gucci stilistisch in klassischere Gewässer zurückführen.
Den September 2023 dürften sich sämtliche Fashionistas und auch alle anderen Modebegeisterten dieser Welt auf ihren Kalendern dick rot eingekringelt gehabt haben. Denn in diesem Monat standen gleich zwei Ereignisse an, die in der Welt der Luxus-Klamotten eine wichtige Bedeutung haben und in die die beiden größten Konzerne Kering und LVMH involviert sind. Zum einen das Debüt von Sabato De Sarno als Kreativdirektor des Kering-Flaggschiffs Gucci. Zum anderen das seit Jahren sehnsüchtig erwartete Comeback von Phoebe Philo, der seit Coco Chanel meist vergötterten Designerin, für deren Label LVMH eine Minderheitsbeteiligung erworben hat. Während Phoebe Philo ihre riesige weibliche Fangemeinde weiter auf die Folter spannte und die Premieren-Kollektion auch Ende September 2023 noch immer auf sich warten ließ, gab es für Sabato De Sarnos Start bei Gucci einen festen Termin: Am 22. September 2023 bat die Marke zur Vorstellung ihrer Sommerkollektion 2024 auf die Fashion Week in Mailand.
Comeback von Daria Werbowy
Dass Gucci bei diesem Mega-Event diesmal die Hauptrolle spielen würde, stand vorab schon außer Frage. Was die Marke jedoch nicht davon abhalten konnte, den ersten kreativen Auftritt Sabato De Sarnos „wie eine Hollywood-Produktion auf Blockbuster-Niveau“, so die „Welt“, anzuteasern. Überall in der lombardischen Metropole prangte das Kollektions-Motto „Ancora“ vor blutrotem Hintergrund auf Plakaten, Hauswänden oder Straßenbahnen. Als besonderen Clou konnte Gucci sogar das legendäre, seit vielen Jahren nicht mehr auf den internationalen Catwalks präsente Model Daria Werbowy zu einem Comeback überreden. Werbowy hat ihre noch immer makellose Schönheit im Vorfeld der Fashion Week beim Präsentieren einer Gucci-Schmuck-Auswahl vorgeführt. Dies ließ jedoch keinerlei Rückschlüsse auf die anstehende Mode-Kollektion zu. Aufschlussreicher war diesbezüglich schon eher der Instagram-Account von Gucci, auf dem alles, was an Alessandro Michele erinnert hatte komplett getilgt wurde. Alessandro Michele prägte immerhin sieben Jahre lang die Geschicke der Marke stilistisch und verhalf Gucci zu einem gewaltigen Umsatzsprung auf rund 10,5 Milliarden Euro im Jahr 2022. Somit wurde Spekulationen darüber, dass der im Januar 2023 bestallte Sabato De Sarno stilistisch den Fußspuren des am 23. November 2022 als Gucci-Kreativchef überraschend entlassenen Vorgängers Alessandro Michele folgen würde, weitestgehend der Boden entzogen.
Auf der Suche nach den Wurzeln
Offenbar hatten sich die Gucci-Verantwortlichen mit Kering-Boss François-Henri Pinault und Gucci-CEO Marco Bizzarri an der Spitze für einen radikalen kreativen Neuansatz entschieden. Was man als Außenstehender wohl kaum so richtig verstehen konnte, weil Alessandro Michele mit seinen genderfluiden, träumerisch-nostalgischen Kreationen dem Haus viele neue weibliche und männliche Kunden zugeführt hatte, vor allem aus der Generation Z. Sein flamboyanter Eklektizismus und fantasievoller Maximalismus bis hin zu glitzernden Märchenwesen oder einem exzentrischen Applikations- beziehungsweise Muster-Overkill mag zwar nicht jedermanns Sache gewesen sein. Die Verkaufszahlen hatten Michele letztlich aber immer Recht gegeben. Die Umsatz-Stagnation im Jahr 2022 soll die Kering-Verantwortlichen jedoch zu einem Überdenken der stilistischen Ausrichtung ihres Marken-Flaggschiffs veranlasst haben. Angeblich hat man Alessandro Michele daher zu einem Kurswechsel Richtung klassischerer und leichter zu konsumierbarer, zeitloser Eleganz aufgefordert. Damit wollte man auch die traditionelle Luxusklientel wieder zurückzugewinnen, die eher zu Konkurrenten wie Hermès oder Louis Vuitton abgewandert war. Es sollte wieder deutlich stärker an das Gucci-Erbe, die lange Tradition und an die Wurzeln oder die Marken-DNA des Hauses angeknüpft werden. Da Michele sich geweigert haben soll, diesen neuen Weg mitzugehen, führte an einer Trennung praktisch kein Weg vorbei.
Auf der Suche nach einem Michele-Nachfolger war Gucci ziemlich schnell erfolgreich. Die Wahl fiel auf den 40-jährigen Sabato De Sarno, der zwar schon reichlich Erfahrungen in der Luxus-Branche sammeln konnte, aber bislang nicht an vorderster Front gearbeitet hatte. Der 1983 in Cicciano in der Provinz Neapel geborene und später mit seinen Eltern in den italienischen Norden nach Como gezogene De Sarno verdiente sich bereits 2005 erste Sporen bei Prada und wechselte danach zu Dolce & Gabbana. 2009 folgte dann die Anstellung bei Valentino, wo er insgesamt rund 13 Jahre lang und zuletzt nach Durchlaufen vieler Karrierestufen als Fashion Director unter Kreativchef Pierpaolo Piccioli tätig war. Er hat sich sowohl mit Damen- als auch mit Herrenmode intensiv beschäftigt, was für seinen neuen Job bei Gucci enorm hilfreich sein dürfte – schließlich wird De Sarno Anfang 2024 auch seine erste Gucci-Herrenkollektion vorstellen müssen.
Eigentlich sollte die Debüt-Kollektion von Sabato De Sarno unter freiem Himmel in den malerischen Kopfsteinpflaster-Gassen des Mailänder Stadtviertels Brera präsentiert werden. Doch da das Wetter leider nicht mitspielen wollte, musste die Veranstaltung zwangsläufig in die Gucci-Räumlichkeiten am Stadtrand verlegt werden. Das konnte aber die vielköpfig erschienene Prominenz – darunter beispielsweise Kendall Jenner, Anna Wintour, Julia Roberts oder Ryan Gosling – nicht davon abhalten, in erwartungsvoller Spannung in der Front Row Platz zu nehmen. De Sarno hatte wahrlich nicht viel Zeit, um seine erste Gucci-Kollektion vorbereiten zu können. Von daher dürfte es für ihn sogar sehr hilfreich gewesen sein, dass man ihm stilistisch klare Korsett-Stangen vorgegeben hatte. Auf der Suche nach den Gucci-Wurzeln war er offensichtlich tief in den Archiven des Hauses fündig geworden. Allein schon seine Vorliebe für die neue Gucci-Hausfarbe Ochsenblutrot sollte das dokumentieren. Diese hat schon der Gründer des Hauses, Guccio Gucci, bei seiner Portiersanstellung im Londoner Savoy Hotel im 19. Jahrhundert angeblich hoch geschätzt. In Zukunft wird die Farbe auch sämtliche Gucci-Einkaufstüten zieren, nachdem sie auf den Werbe-Plakaten für das Gucci-Event geradezu alle Blicke magisch anzog.
Rückkehr zum Minimalismus
Auch mit dem Motto der Kollektion, „Ancora“, wird an die glorreiche Gucci-Vergangenheit angeknüpft: im Sinne von „noch mal“. „Ich möchte, dass sich die Menschen noch mal in Gucci verlieben. Deshalb habe ich das Wort ‚ancora‘ für meine Show gewählt“, so Sabato De Sarno. Und so tauchen denn auch Klassiker des Hauses in überarbeiteter Form in der neuen Kollektion auf, beispielsweise die legendäre Jackie-Tasche. Natürlich in der Farbe „Rosso Ancora“ und nun wieder mit dem klassischen Karabinerhaken-Verschluss, nachdem Michele diesen durch einen Kolbenverschluss ersetzt hatte. Die ebenso traditionsreiche Bamboo-Bag, diesmal in winzigem Format, der Gürtel mit Gucci-Logo-Schnalle oder der ikonische Gucci-Loafer, nun aber mit Plateausohle und Horsebit-Schnalle werden ebenfalls noch mal auftauchen.
Schon der erste Look in Gestalt eines schlichten, anthrazitfarbenen Wollmantels mit spitzem Revers über einer ultrakurzen Shorts und einem tief ausgeschnittenen weißen Top gab die stilistische Richtung der gesamten Kollektion vor. Statt Maximalismus ist bei Gucci nun offenbar eine Rückkehr zum Minimalismus (auch in der Silhouette) oder zur Reduktion angesagt. Oder, um die „Welt“ zu zitieren, ein „Mix aus Sexyness und Klassik, aus ‚Quiet Luxury‘ und Instagram-tauglichen Accessoires, den moderne Luxuskonsumenten heute lieben, Mode, die leicht zu tragen ist und mit auffälligen Anhängseln aufgehübscht wird“. Sprich, der Look darf durchaus leise sein, stattdessen sollen die Accessoires für Aufmerksamkeit sorgen, natürlich immer schön mit dem Logo bestückt, das auch auf einer Zipper-Jacke nicht zu übersehen war. Auffällig war zudem, dass De Sarno viel Stoff einsparte: Es wurde viel Bein gezeigt, denn es gab zum Beispiel extrem kurze Röcke, Shorts und auch Kleider wie Babydolls mit Schmuckverzierungen oder Lingerie-Dresses zu bestaunen. Dies wurde dann aber durch entsprechende Blazer, Tanktops oder Polos etwas entschärft.
Wenn man mal von eleganten Blazern mit breitem Revers, pfiffigen Mänteln und Jacken – toll die Caban-Jacken oder bis zu den Oberschenkeln reichenden Leder-Coats –, absieht, zeugt die gesamte Kollektion nicht gerade von einer Huldigung an die große Schneiderkunst. Vor allem Mäntel erweisen sich übrigens als große Passion des Designers, der eine persönliche Sammlung von 200 Exemplaren sein eigen nennt.
Einer klaren Linie folgen
Viele Stücke sind vergleichsweise leger gehalten: beispielsweise Hemden, Strickpullover, Spitzenkleider oder auch ein schlichter grauer Hoodie mit Logo auf der Brust. Bleistiftröcke waren vorne beinahe bis zum Bund geschlitzt, ein zartes Negligé wurde nur notdürftig von einer geräumigen Allwetterjacke bedeckt. Ob die so schnell angestellten Vergleiche von De Sarnos stilistischer Handschrift mit Tom Fords Gucci-Ära zutreffend sind, sollte vielleicht erst einmal abgewartet werden. Jetzt schon von einem Wiederaufleben eines coolen und sexy Purismus bei Gucci sprechen zu wollen, scheint doch etwas verfrüht zu sein. Als neuer Design-Chef scheint Sabato De Sarno immerhin einer klaren Linie zu folgen. Damit bietet er „eine gekonnte Neuinterpretation der Vergangenheit für den modernen Geschmack, welcher der Nostalgie nach vergangenen Jahrzehnten ohnehin total verfallen ist“, so die „Welt“. „Wirklich überraschend, komplex oder neu ist daran nichts“.