Noch steckt Virtual Reality in den Kinderschuhen, doch aktuelle VR-Brillen zeigen, was schon heute möglich ist. Die Technik hat das Zeug dazu, unsere Art zu spielen oder Filme zu genießen, zu revolutionieren. Wir haben die Oculus Rift getestet.
Das Rennen geht in die entscheidende Phase. Ich trete das Gaspedal bis zum Anschlag durch, und das Kart schießt die Gerade entlang. Der Rasenmäher-Sound meines und der neun anderen Fahrzeuge knattert in meinen Ohren. Die Warnschilder für die Spitzkehre am Ende der Geraden fliegen nur so an mir vorbei. Jetzt bloß nicht den Bremspunkt verpassen. Noch 200 Meter, 100, 50, die Bremsen greifen perfekt. Sauber durch die Spitzkehre driften, sanft beschleunigen bis zur S-Kurve. Ein Gegner versucht, sich links vorbeizuschieben. Aus dem Augenwinkel sehe ich auf der rechten Seite eine Bewegung. Plötzlich gibt’s einen heftigen Schlag ins Lenkrad. Das Kart bricht hinten aus, dreht sich und schlittert frontal auf die Streckenbegrenzung zu. Unwillkürlich spannt sich der ganze Körper an in Erwartung des heftigen Einschlags – der zum Glück aber nur virtuell ist. Außer verletztem Stolz wegen des verpassten Sieges sind keine Blessuren zu beklagen.
Ich ziehe mir die VR-Brille vom Kopf und finde mich in meinem Arbeitszimmer wieder. Vor mir das Force-Feedback-Lenkrad, das jede Bodenwelle im Spiel unmittelbar an den Nutzer weitergibt, und die Oculus Rift, die das Rennerlebnis am Computer auf eine völlig neue Ebene gehoben hat. Noch nie hat es so viel Spaß gemacht, eine Rennsimulation zu spielen. Statt des zweidimensionalen Bildes des normalen Monitors gaukelt einem die Virtual-Reality-Brille vor, selbst im Kart zu sitzen. Man sieht das Geschehen aus der Sicht des Fahrers. Dreht man den Kopf nach links und rechts oder dreht sich nach hinten um, sieht man die Konkurrenten und die virtuelle Welt der Rennstrecke. Die reale Umgebung ist komplett ausgeblendet. Dank der hohen Auflösung und der detaillierten Grafik wirkt alles so realistisch, dass man in kürzester Zeit vergisst, dass das Ganze nicht real ist.
Der Wunsch, in virtuelle Welten einzutauchen, ist keineswegs neu. Bereits im 19. Jahrhundert schufen Fotografen vermeintlich plastische Bilder, indem sie ein Bild aus zwei Perspektiven aufnahmen und mit Hilfe von zwei Linsen so ein statisches Stereofoto schufen, das dreidimensional wirkte. Die Fernsehserie „Star Trek – Die nächste Generation" erschuf das sogenannte Holodeck, bei dem die Crew jede erdenkliche Umwelt simulieren und darin eintauchen konnte – beispielsweise einen Ausflug auf die Erde des 19. Jahrhunderts.
Sicherheitszone verhindert Unfälle
Vom Holodeck der Fernsehserie sind wir auch 30 Jahre später noch Lichtjahre entfernt, doch mit entsprechenden Hilfsmitteln und einem leistungsstarken Computer mit entsprechender Grafikkarte sind wir durchaus schon heute in der Lage, unsere Sinne gehörig an der Nase herumzuführen. Derzeit gibt es für den heimischen PC zwei ernstzunehmende Systeme: die von uns getestete Oculus Rift des Unternehmens Facebook und die HTC Vive von Valve. Zudem bietet Sony für seine aktuelle Konsolengeneration Playstation 4 eine VR-Brille an, die allerdings nicht ganz mit den beiden Erstgenannten mithalten kann.
Vom technischen Leistungsspektrum sind Oculus Rift und HTC Vive absolut vergleichbar. So bilden beide Brillen ein Sichtfeld von 110 Grad ab. Wer überwiegend im Sitzen spielt oder nur einen geringen Aktionsradius braucht, ist mit der deutlich günstigeren Oculus Rift bestens bedient. Inklusive der im Vergleich zur Vive auch komfortableren Controller ist sie seit einer Preissenkung Anfang Oktober dauerhaft für etwa 450 Euro zu haben. Die HTC Vive kostet dagegen noch immer um die 700 Euro. Der Vorteil der Vive liegt im größeren Aktionsradius, der vor allem für Anwendungen wichtig ist, bei denen man sich bewegen muss. Ihre Sensoren beim sogenannten Tracking können einen Spielraum von etwa fünf Mal fünf Meter abdecken. Bei der Oculus sind es „nur" etwa 2,5 auf 2,5 Meter.
Wer Bewegungsspiele mag, wie sie etwa die Spielkonsole Wii populär gemacht hat, wird entsprechende Spiele mit VR-Brille lieben. Denn die VR-Brille kombiniert die tatsächliche Bewegung mit anspruchsvoller Grafik. So kann man beispielsweise „richtig" Tischtennis spielen. Beim Blick durch die Brille wird der Controller zum Tischtennisschläger, und schon nach kürzester Zeit glaubt man, tatsächlich einen Schläger in der Hand zu halten. Der Schwierigkeitsgrad lässt sich einstellen, sodass auch gute Tischtennisspieler durchaus eine Herausforderung haben. Hierzu braucht man allerdings Platz, denn sonst fegt man unfreiwillig den Schreibtisch leer oder zertrümmert den Monitor – wie gesagt: Die reale Umwelt nimmt man in dieser Zeit nicht mehr wahr.
Das technische Prinzip ist eigentlich recht simpel. Die Oculus Rift verfügt über zwei sogenannte OLED-Displays mit einer Auflösung von 2.160×1.200 Pixeln, die im Verbund einen stereoskopischen Effekt erzeugen, den wir in abgeschwächter Form auch aus 3D-Filmen kennen. Eine Bildfrequenz von 90 Hertz erlaubt selbst schnelle Kopfbewegungen ohne Schlieren. Die Bewegungserfassung passiert über einen oder mehrere externe Sensoren, in denen jeweils eine Kamera eingebaut ist. Bei raumgreifenden Anwendungen etwa kommt ein dritter Sensor zum Einsatz, um die Spielfläche festzulegen. Zusätzlich lässt sich eine Sicherheitszone einrichten, die einen optischen Hinweis in die Brille gibt, wenn man die sichere Spielzone verlässt. So ist gewährleistet, dass man nicht gegen die Wand rennt. Der Rest der Brille besteht aus Schaumstoffpolsterung, Gurtsystem zum Festzurren und – sehr positiv – integrierten Kopfhörern.
Virtual-Reality-Brillen sind jedoch weitaus mehr als nur kostspielige Spielereien für Computer-Nerds. Mit entsprechenden Programmen können beispielsweise Medizinstudenten den menschlichen Körper virtuell erkunden und sich etwa einzelne Muskeln, Organe oder auch das vielverzweigte Nerven- oder Venensystem bis in die kleinsten Verästelungen dreidimensional vor Augen führen. Therapeuten nutzen diese Systeme, um Patienten etwa gegen Phobien – beispielsweise Höhenangst – zu behandeln. Oder angehende Häuslebauer können schon vor der Grundsteinlegung einen virtuellen Spaziergang durch ihr künftiges Haus machen und dieses sogar maßstabsgetreu virtuell einrichten. So sieht man bereits vorab, ob Kleiderschrank und Bett tatsächlich ins kleine Zimmer passen, und erlebt nicht erst nach abgeschlossenem Hausbau die dann ganz reale Überraschung.
Vor dem Kauf im Fachhandel testen
Auch wer gerne einmal einen Eindruck von fernen Ländern bekommen möchte, aber nicht das nötige Kleingeld für eine Reise – etwa ins im Himalaya gelegene Nepal – übrig hat, muss so nicht mehr völlig darauf verzichten. Sogenannte 360-Grad-Filme ermöglichen faszinierende Einblicke in die unterschiedlichsten Regionen. Etwa der Rundumblick von einem 8.000er im Himalaya, eine unfassbar „real" wirkende Begegnung mit Elefanten in den Steppen Afrikas, ein Rundflug durch den Grand Canyon in den USA oder ein Tauchgang mit Haien oder Walen. Sogar ein Besuch im Jurassic Park oder ein Weltraumspaziergang lassen sich simulieren – die Möglichkeiten sind schier grenzenlos. So können Zögerliche sich auch auf Achterbahnen trauen, mit denen sie in der Realität niemals fahren würden.
Man sollte allerdings nicht verschweigen, dass die VR-Welt durchaus auch ihre negative Seiten haben kann. Die Rede ist von der sogenannten Motion Sickness, die manche Menschen beispielsweise auch bei einer Bootsfahrt heimsucht oder wenn sie etwa im Auto lesen. Wenn einem das 360-Grad-Video über die Brille eine rasante Achterbahnfahrt vorgaukelt, man in Wirklichkeit aber völlig regungslos auf dem Stuhl sitzt, kann das menschliche Gehirn diesen Widerspruch nicht lösen. Das Gehirn nimmt visuell eine Bewegung wahr, das Innenohr, das für die Registrierung körperlicher Bewegungen zuständig ist, aber nicht. Der Körper reagiert – unter Umständen – mit Schwindelgefühlen, Schweißausbrüchen, Kopfschmerzen bis hin zu Orientierungsschwierigkeiten, Übelkeit und gar Erbrechen. Unter Umständen deshalb, weil alle Menschen unterschiedlich reagieren.
Mindern lässt sich die Gefahr grundsätzlich, wenn man die dargestellte Bewegung tatsächlich mitmacht. Bei Bewegungsspielen etwa stimmen Darstellung und Bewegung eins zu eins überein, so dass es meist keinerlei Probleme gibt. In der Regel haben auch die Spielehersteller ein Interesse, dass ihren Kunden beim Benutzen ihrer Produkte nicht übel wird. Entsprechend sind die meisten Programme gut verträglich. Wer allerdings weiß, dass er für Motion Sickness anfällig ist, sollte vor dem Kauf einer VR-Brille das Ganze testen. In großen Elektronikmärkten ist dies in aller Regel möglich. Bei Anzeichen von Motion Sickness sollte man in jedem Fall aufhören, denn Langzeitwirkungen sind bisher kaum erforscht.