Als Lehre aus den Corona-Erfahrungen wird im Saarland ein Impf-Informations-System entwickelt, das Modell für ganz Deutschland sein soll. Projektleiter ist Jürgen Rissland, der als Virologe einer der wichtigsten Berater während der Pandemie war.
Herr Rissland, was ist die Idee des Impf-Informations-Systems Saarland?
Die Grundidee begleitet mich schon seit gut 20 Jahren. Ich habe relativ früh gesehen, dass wir in Deutschland mit den Impfdaten relativ wenig anfangen. Impfdaten zu haben ist das eine, Impfdaten zu sammeln, um bestimmte Aktivitäten voranzubringen, das andere, das mich immer schon motiviert hat. Ich habe schon in meiner Ausbildung das Motto gelernt: „Daten für Taten“. Das Impfwesen ist entwickelbar.
Es gibt in Deutschland inzwischen ein paar Nutzungsmöglichkeiten, aber aus meiner Sicht ist keine vollumfänglich befriedigend. Meine Idee seit Jahren ist, dass wir im Saarland etwas modellhaftes für die gesamte Bundesrepublik entwickeln können. Hintergrund ist, dass wir 1967 das erste Krebsregister in einem westdeutschen Flächenstaat etabliert haben, das heißt, dass wir eine ganze Menge Erfahrungen haben im Umgang mit sensiblen Gesundheitsdaten. Die Idee, das auf das Impfwesen zu übertragen, lag da nicht so wahnsinnig fern.
Was ist daran so kompliziert?
Wir haben in den letzten zehn Jahren eine ganze Reihe von Vorarbeiten geleistet, es gab Vorstudien, es gab eine Konzeptstudie, es gab ein wissenschaftliches Projekt zur Frage, wie man Impfdaten mit anderen Daten verknüpfen kann und dann so etwas wie eine Prozessanalyse anzufangen. Wir haben die Impfungen als Primärprävention analysiert, Vorsorgemaßnahmen als Sekundärprävention, und das, was am Ende im Krebsregister gelandet ist, sozusagen als Tertiärprävention. Und das zusammengefasst ist ein Beispiel, wie man durch Verknüpfung von Daten ein Mehr an Know-how herausholen kann. Das versuchen wir mit dem Aufbau eines Impf-Informations-Systems, das nicht nur im Saarland laufen soll, sondern in drei weiteren Bundesländern: Bayern, Baden-Württemberg und Brandenburg. Wir im Saarland bauen sozusagen den Prototyp auf, wobei wir nicht nur technische Rahmenprobleme lösen müssen. Teil ist auch, dass wir die rechtlichen Grundlagen mit vorbereiten, damit der Gesetzgeber ein Landesgesetz wie beim Krebsregister erarbeiten kann.
Klingt nach einer technischen Materie. Was ist für den Virologen spannend?
Ein Virologe freut sich darüber. Ich selbst bin ein datenaffiner Mensch. Ich habe in meiner Zeit im öffentlichen Gesundheitswesen viel mit solchen großen Datensammlungen gearbeitet, nicht nur im Sinne von Sammeln, sondern auch im Blick auf Auswertung und Politikberatung. Mit diesem Dreiklang habe ich bereits in drei Bundesländern gute Erfahrungen gemacht. Hier im Saarland ist es Teil meines Verständnisses von öffentlicher Gesundheit. Wir haben gesehen, dass im deutschen Gesundheitswesen die Prävention nicht im Vordergrund steht. Der Fokus liegt relativ stark auf Versorgung bei bereits eingetretenen Erkrankungen. Mein Verständnis ist das Motto: Vorbeugen ist besser als heilen. Impfen ist eigentlich die effektivste Präventionsmaßnahme. Insofern ist der Virologe Teil des Systems, einmal, weil er die Erkrankung kennt, aber er ist auch in der Lage, mit Kenntnis und Auswertung der Daten auf eine Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung hinzuwirken.
Der Laie wundert sich allerdings, dass wir im digitalen Zeitalter in Deutschland nicht schon längst über so etwas verfügen.
(lacht) Das stimmt wohl. Deutschland ist, was Digitalisierung im Gesundheitswesen angeht, im Vergleich zu den europäischen Nachbarn nicht an der Spitze, vorsichtig ausgedrückt. Wir hinken hinterher, vielleicht auch, weil wir uns das Leben selber schwermachen und Dinge zu sehr überfrachten. Wir versuchen häufig, so was wie die eierlegende Wollmilchsau zu basteln. Wir sind zu anspruchsvoll und kommen nicht richtig vom Fleck. Kollegen in Österreich, mit denen ich im Austausch stehe, machen das etwas pragmatischer nach dem Pareto-Prinzip, wonach man mit 20 Prozent Einsatz 80 Prozent des Erfolges erreichen kann, und sind uns damit voraus. Wir hätten schon 2018 die Chance zur Umsetzung des Impf-Informations-Systems gehabt, hatten die Konzepte, aber die Finanzierung kam nicht zustande. In der Pandemie haben wir gelernt, dass wir uns verstärkt mit Daten auseinandersetzen und digitalisieren müssen. Das passiert jetzt auch, auch auf der Bundesebene, wo man versucht, die elektronische Patientenakte, die es ja gibt, endlich voranzubringen. Zu Ihrer Frage, warum wir nicht weiter sind: Vielleicht einfach, weil wir es zu umständlich angehen.
Was sind dabei die größten Hürden?
Natürlich muss der Datenschutz gewährleistet sein, ebenso die IT-Sicherheit. Das ist conditio sine qua non: Man kann heute kein System aufbauen, bei dem das nicht vernünftig gestaltet ist. Aber wenn man bei mir wissen will, welche Impfungen es während meiner Kindheit gab, wird das keiner mehr herausfinden. Die Daten und mein Impfpass sind verloren. Sie erinnern sich an die Aktion: „Deutschland sucht den Impfpass“. Das ist im 21. Jahrhundert schon ein bisschen schwierig. Wenn Sie dann noch die Daten vernünftig miteinander verknüpfen wollen, liegt die Tücke im Detail. Ein Argument ist immer der Datenschutz, wobei die Vorgaben sehr hoch sind, weshalb wir auch nur begrenzt schnell vorankommen. Und man braucht bei solchen Projekten einen langen Atem. Man sollte so etwas nur anfangen, wenn man eine Erwartung an die Nachhaltigkeit hat. Ein System, das man jetzt beginnt, erweist seinen bevölkerungsweiten Mehrwert erst im Laufe der nächsten Jahrzehnte. Wir sehen das am Beispiel des Krebsregisters. Man muss einen langen Atem und die Nachhaltigkeitsperspektive haben.
Das Projekt ist aber erst mal zeit- und budgetmäßig begrenzt. Wie groß ist der Druck?
Jeder Geldgeber will natürlich auch wissen, was er für sein Geld kriegt. Sie müssen also erst einmal einen Prototypen aufbauen und zeigen, dass Sie das, was sie versprechen, auch halten. Das ist das, was wir in diesem Projekt jetzt machen, um auch den Mehrwert demonstrieren zu können. Wir haben jetzt eine Zweijahresfinanzierung, das ist ein vergleichsweise kurzer Zeitraum, um so etwas aufzubauen.
Wer wird denn von dem „Mehrwert“ profitieren können?
Ich hoffe, im Idealfall jeder, der an dem System beteiligt ist. In erster Linie der Bürger, die Bürgerin, wenn sie wissen, dass die Daten sicher aufbewahrt und nutzbar sind. Aber auch die Impfdienstleister in Praxis, Klinik, Apotheke und öffentlichem Gesundheitsdienst. Ein Beispiel: Am Anfang meiner Tätigkeit habe ich in einer unfallchirurgischen Ambulanz gearbeitet. Da ist jeder mit einer blutigen Verletzung nach dem Impfausweis gefragt worden, und wenn nicht vorhanden, gab es vorsorglich eine Tetanusimpfung. Da sind einige aus meiner Sicht unsinnig geimpft worden. Das wäre nicht der Fall, wenn man den Zugriff auf eine digitale Impfdokumentation hätte. Denken Sie auch die Anfänge der Covid-Impfungen. Eine Kampagne wie „Deutschland sucht den Impfpass“ möchte ich in Zukunft nicht mehr haben.
Aber es liegt auch nicht auf dem Rechner bei Google?
(lacht) Nein. Es gibt bei solchen Projekten zwei große „I“s: Das eine ist IT-Sicherheit, einschließlich Datenschutz, und das zweite ist Interoperabilität. Das heißt, dass die Daten in den verschiedenen Bereichen des Gesundheitssystems sicher aufbewahrt und genutzt werden können. Dabei liegt, wie schon gesagt, die Tücke im Detail. Die Übergabe an den Schnittstellen, etwa zum Praxisverwaltungssystem der Hausärzte oder zu Klinikinformationssystemen, ist nicht ganz trivial, auch weil es viele Anbieter gibt. Wenn wir mit unserem System vorankämen, wäre das auch ein Positivbeispiel für Digitalisierung im Gesundheitswesen. Ich glaube zudem, wenn Bürger sehen, dass es funktioniert, wächst auch die Bereitschaft, mitzumachen.