Jens Kleinert, Professor an der Deutschen Sporthochschule Köln, spricht über die Motive von Extremsportlern sowie Suchtgefahr und Angstlust.
Herr Kleinert, warum werden manche Menschen zu Extremsportlern, während andere sich kaum von der Couch bewegen?
Was extrem ist, kann objektiv und subjektiv bewertet werden. Von außen sehen wir bestimmte Dinge als extrem an, wenn zum Beispiel jemand 100 Kilometer läuft, extreme Höhen klettert oder den Atlantik durchquert. Aber subjektiv kann es auch extrem sein, wenn jemand, der noch nie Sport getrieben hat, gleich fünf Kilometer am Stück laufen will. Das ist für denjenigen dann auch extrem. Das ist ein wichtiger Punkt. Alle Menschen tragen dieses Bedürfnis in sich, bestimmte Grenzen zu erreichen, wissen zu wollen, was sie leisten können. Dass man sich austesten will. Dieses Bedürfnis ist allerdings in unterschiedlichem Maße bei den Menschen ausgeprägt und hängt auch von der Persönlichkeit ab. Sicher kann man davon ausgehen, dass Extremsportler diese bestimmte Persönlichkeitsstruktur in sich tragen, dieses Bedürfnis, die Leistungsgrenze immer weiter verschieben zu wollen.
Was für eine Persönlichkeitsstruktur ist das?
Grundsätzlich wollen wir uns alle gerne als fähig, als kompetent erleben. Wir machen gerne Dinge, die wir können, die wir beherrschen. Bei Extremsportlern ist das in besonders starkem Maße ausgeprägt und verbunden mit dem Risiko, was beherrscht wird. Das ist ein Teil der Motivstruktur im Risikosport.
Spielen auch Erziehung oder Gene eine Rolle?
In welchem Ausmaß dieses Risikobedürfnis ausgeprägt ist, ist sowohl von der sozialen Entwicklung und Erziehung als auch von genetischen Komponenten abhängig.
Manche Extremsportler spielen auch mit ihrem Leben. Zum Beispiel Wingsuit-Springer, die nur mithilfe eines speziellen Fluganzugs von hohen Klippen springen. Dabei kamen auch schon Menschen ums Leben. Wieso tun die das?
Es ist das Erleben höchster Kompetenz, sich mit einem Anzug so steuern zu können. Und man muss sagen, dass die allermeisten Extremsportler ein unheimlich hohes Kontrollbedürfnis haben. Sie sind aus ihrer Sicht nicht leichtsinnig. Extremsportler bereiten sich unheimlich akribisch auf solche Situationen vor. Es gibt ganz wenige Ausnahmen. Die meisten haben einen regelrechten Kontrollwahn. Sie üben, trainieren und durchdenken alles genauestens. Das ist ja auch ihr Bedürfnis, diese extrem schwierige und scheinbar unkontrollierbare Situation kontrollieren zu können. Das ist das, was sie wollen. Sie wollen nicht unkontrollierbar sein.
Sind das zwanghafte Persönlichkeiten?
Wenn wir solche Menschen analysieren sollten, könnte es sein, dass da einige dabei sind, die ein zwanghaftes Verhalten zeigen. Kontrolle kann zum Zwang werden. Aber sie haben auch eine Risikolust. Das heißt, sie wollen das Risiko zwar minimieren, es aber auch nicht ganz aufgeben. Zum Beispiel bei den Wingsuit-Springern, da können kleinste Windzüge die Flugbahn komplett durcheinanderwerfen, was zum Absturz führen kann. Dieses Restrisiko, das unter Umständen den Tod bedeuten kann, löst eine unheimliche Spannung aus, die gewollt ist. Denn wenn man in so einer schwierigen Situation das eigene Leben gerettet hat, dann ist das ein tolles Kompetenzerleben! Das ist eine unheimliche Befriedigung. Je mehr auf dem Spiel steht, desto höher ist das Erfolgsgefühl.
Ist das der berühmte Kick?
Viele nennen das zum Beispiel den Adrenalin- oder Endorphin-Kick. Interessanterweise weiß man aber heute, dass diese Ausschüttung von bestimmten Stoffen im Gehirn oder im Körper nicht alleine dieses Hochgefühl erklärt. Bei Marathon-Läufern hat man medikamentös die Endorphin-Rezeptoren blockiert. Trotzdem hatten die noch ein Hochgefühl. Natürlich rufen diese Stoffe die körperliche Anspannung hervor und verstärken auch die Euphorie. Aber das alleine erklärt, wie gesagt, nicht das psychische Hochgefühl.
Wie gehen Extremsportler, die lebensgefährliche Dinge tun, mit der Angst um? Spüren die weniger Angst oder gar keine?
Es gab Forschungen zu Angst und Extremsport. Dabei kam immer heraus, dass diese Sportler auch so etwas wie Angst erleben. In hohem Maße sogar. Das Risiko ist ja verbunden mit einer Angst. Man spricht sogar von Angstlust. Das Lustvolle daran ist für diese Sportler, die Angst in den Griff zu bekommen, die Angst zu bewältigen. Deshalb beinhaltet Angst immer etwas Positives. Es kann natürlich auch Menschen geben, die keine Angst wahrnehmen, aber das ist eher die Ausnahme. Die anderen beschreiben die Angst nur nicht direkt als Angst, sondern eher als Respekt vor der Sache.
Wie kommen Extremsportler damit klar, dass sie auch ihren Körper auf Dauer schädigen? Zum Beispiel Ultraläufer.
Das stimmt so nicht. Es gibt natürlich Ultraläufer, die das in einer Art und Weise machen, dass es zu Schäden kommt. Das ist aber bei vielen Extremsportlern nicht der Fall. Sie bauen bewusst Regenerationsphasen ein, achten zum Beispiel auch sehr auf Ernährung oder das richtige Training. Wenn jemand tatsächlich durch den Sport mittel- und langfristig seinen Körper schädigt, kann man das schon als Sportsucht bezeichnen. Zeichen von Sportsucht sind auch, dass man wegen des Sports seinen Beruf, sein soziales Umfeld vernachlässigt. Natürlich sind Gesundheit und Extremsport immer ein Balanceakt, das ist aber bei jedem Leistungssportler auch so. Im Hochleistungssport ist es fast noch schwerer, gesund zu bleiben.
Welche psychischen Veränderungen können durch Extremsport hervorgerufen werden?
Die Psyche eines Menschen verändert sich natürlich. Das kann aber auch positiv sein. Es kann Menschen auch stärken, sie werden selbstbewusster, sind mehr von sich überzeugt. Es kann natürlich auch übertrieben werden, sodass man die eigenen Schwächen nicht mehr sehen kann. Unfälle passieren ja durch Selbstüberschätzung, dass das Risiko nicht mehr richtig abgeschätzt wird. Die Gefahr liegt vor allem in der Veränderung des alltäglichen Lebens. Für den Extremsport muss man unheimlich viel Zeit aufwenden. Man muss sehr viel trainieren, sich sehr viel vorbereiten, sein Material immer wieder aktualisieren. Dadurch leiden natürlich andere Lebensbereiche.
Wie gut behandelbar ist die Sportsucht?
Sportsucht ist eigentlich gut behandelbar. Man ist heute davon weggegangen, dass man Sportsüchtigen generell den Sport entzieht. Die allermeisten Sportsüchte entstehen aufgrund einer Essstörung, weil man zum Beispiel versucht, den Sport zum Abnehmen zu benutzen. Auch Zwangsstörungen können vorliegen, die manchmal die Grundlage einer Sportsucht sind. Andere Persönlichkeitsstörungen sind seltener. Daher gilt es, die Grundstörung zu behandeln. Die Süchtigen müssen außerdem wieder eine andere Einstellung zum Sport finden. Sie müssen wieder lernen, dass eigentlich die Bewegung im Mittelpunkt stehen sollte, das Körpererleben, nicht das Ergebnis. Bei Extremsportlern besteht die Gefahr, dass das Ergebnis vorrangig ist, dass immer höhere Leistung angestrebt wird. Ein Extremkletterer hat möglicherweise nicht mehr so viel Freude am Klettern, sondern er will nur noch ausreizen, wie hoch er kommt, wie schnell er klettert. Die Freude an der Bewegung zurückzubekommen, das ist bei Sportsüchtigen wichtig. Das ist natürlich ein langfristiger Prozess, an dem auch neuro-psychologische Belohnungssysteme beteiligt sind. Diese Systeme sind sehr komplex und verbinden unsere Wünsche und Erwartungen mit Handlungsplänen. Wenn ein Plan erfolgreich aufgeht, werden dann im Mittelhirn Neurotransmitter, also Dopamin, freigesetzt, was mit positiven Gefühlen einhergeht. Auf diese Art und Weise sind neurologische und psychologische Prozesse verbunden.