Vor 60 Jahren startete Iggy Pop seine Karriere. Jetzt hat der Sänger, Songschreiber und Schauspieler sein 20. Soloalbum aufgenommen. Auf „Every Loser“ kehrt er zu seinem Markensound zurück.
Sex, Drogen und Rock’n’Roll haben ihn gezeichnet, aber niemand hat so viele Leben wie Iggy Pop. Die Haut zerfurcht wie die einer Echse. Das Gesicht zerklüftet, aber weich und mit durchdringenden Augen. Viele der Falten des 75-Jährigen sind Lachfalten. Der am 21. April 1947 in Muskegon, Michigan, als James Newell Osterberg jr. geborene Sänger und Schauspieler sprüht momentan nur so vor Lebensfreude und positiver Energie. Dabei hat er seit dem Beginn seiner musikalischen Laufbahn im Jahr 1962 als Schlagzeuger bei den Iguanas – daher übrigens auch sein Name „Iggy“ – praktisch keine Droge ausgelassen, und er hat im Laufe der Zeit viele seiner Wegbegleiter sterben sehen.
Mit den Brüdern Ron und Scott Ashton gründete er nach seiner Zeit bei den Iguanas in den späten 1960er-Jahren die Band The Stooges und so wurde die Gruppe um Iggy Pop, der immer mit nacktem Oberkörper auftrat, zu einer Art Vorväter des Punk. Auf die Stooges folgte für ihn die Zusammenarbeit mit David Bowie. Mit dessen Hilfe machte Pop in den 1970er-Jahren seine besten Soloplatten. In den 1980ern und 1990ern erschienen nicht viele Alben von ihm, die seinem Ruf als „Pate des Punk“ gerecht wurden. Wie ein Leguan schien Iggy Pop jahrelang in Kältestarre verfallen zu sein und suchte Umgebungen auf, in denen er geschützt war. Er tat sich wieder mit den Stooges zusammen und nudelte Abend für Abend dieselben Punkrock-Klassiker ab. Seine späten Studioarbeiten mit der Band bleiben kaum in Erinnerung.
Aber das ewige Reptil weiß: Ein Künstler, der wachsen will, muss sich immer wieder häuten. Und so kehrt der 75-Jährige auf seinem 20. Soloalbum „Every Loser“ zu der gleichen rohen Energie zurück, mit der er 1969 mit The Stooges und mit Hilfe des Produzenten John Cale (The Velvet Underground) den Punk erfand. Hatte man noch gedacht, dass Pop mit balladesken, meditativen, jazzigen und teils auf Französisch gesungenen Alben wie „Préliminaires“ (2009), „Après“ (2012) oder „Free“ (2021) seine letzte Runde eingeläutet hatte, wird man von dem Sänger mit Wohnsitz Miami eines Besseren belehrt.
„Unkompliziertheit ist nie aus der Mode“
Schon mit dem ersten Song „Frenzy“ auf „Every Loser“ haut der Pate des Punk den Hörer aus dem Sessel. Zu verzerrten Gitarren und rasantem Schlagzeug singt er: „Ich habe einen Schwanz und zwei Eier, das ist mehr als ihr alle“. Diese Krawallnummer war Pflicht, der Rest Kür.
Das Album ist Pops erste Zusammenarbeit mit dem Produzenten und erklärten Stooges-Fan Andrew Watt und erscheint auf dessen Label Gold Tooth Records. Niemand Geringeres als Morrissey brachte die beiden zusammen. Laut Pop hat Watt ein gutes Gehör und die Fähigkeit, mit außergewöhnlichem Timing zu singen und zu spielen. Für „Every Loser“ stellte der Producer eine exzeptionelle Studioband zusammen: Chad Smith und Josh Klinghoffer (Red Hot Chili Peppers), Dave Navarro und Eric Avery (Jane‘s Addiction), Duff McKagan (Guns n’ Roses), Travis Barker (Blink 182) und Stone Gossard (Pearl Jam). Deren Spielweisen beschreibt Iggy Pop im Gespräch mit dem britischen „New Musical Express“ als „schnell, seltsam, schräg und wütend“.
„Diese Jungs sind nicht großmäulig oder so“, sagt er über diese Rockstars, die er größtenteils schon kannte, als sie ihre Karrieren begannen. „Sie sind Musiker. Ich bin so etwas wie ein Groupie“, gackert er. „Ich hänge gerne mit Musikern ab, sie sind einfach eine bestimmte Art von Typen, in deren Nähe ich mich wohlfühle.“ Das spürt man besonders bei den Stücken mit gedrosseltem Tempo, „Morning Show“ und „New Atlantis“. Letzteres eine Hommage an „das versinkende Land des beschissenen, zwielichtigen Paradieses“, das Iggy Pop sein Zuhause nennt. Dargeboten mit einer von Jahresringen angenehm belegten Baritonstimme.
Auf dem Titel-Song und einem weiteren Stück hat Taylor Hawkins seine Spuren hinterlassen, der kurz nach den Aufnahmen während einer Tour mit den Foo Fighters an einer Überdosis verstarb. Es ist quasi sein musikalisches Vermächtnis. „Ich bin sehr glücklich, dass ich diese Farbe auf der Platte habe. Ich war wirklich traurig und schockiert, als er starb“, kommentiert Pop die Tragödie. „Auf diesen Stücken trommelt er wie wild, und man kann es wirklich heraushören.“ Dem Sänger ging es bei dem Album um Unkompliziertheit. Und er weiß: „Die ist nie aus der Mode.“ Schon mit den Stooges verstand er es, Songs auf ein Riff zu reduzieren. Er ist ein Meister der Schlichtheit und unaufgeregten Einfachheit.
In dem aggressiven „Neo Punk“ betätigt sich die lebende Legende mit einem Augenzwinkern als Kulturwissenschaftler und geht der Frage nach, wie Punk in den vergangenen 50 Jahren in das „Unterbewusstsein“ der Popkultur eingedrungen ist. Er erklärt: „Mit ‚Neo Punk‘ wollte ich diese unwahrscheinliche Figur erschaffen, die sich umschaut und sagt: ‚Wow, ich habe lila Haare, eine Kette, zehn Millionen Dollar auf der Bank, ein Einkommen, ein heißes Auto und jeder liebt mich – diese Punk-Scheiße ist großartig!‘“
„Ich dachte immer, es würde ruhiger“
Apropos Punk: Schon vor über einem halben Jahrhundert trat Iggy Pop mit nacktem Oberkörper auf, um seinen durchtrainierten Körper gefährlich zu verformen, so wie er auch die Silben von animalisch gegrölten Textzeilen à la „I Wanna Be Your Dog“ verbiegt. Der irre Provokateur holte auf der Bühne sogar sein Glied heraus, zerschnitt sich mit einem kaputten Bierglas die Brust, machte das Hundehalsband zur Underground-Mode und erfand als Krönung das Stagediving. Es gehört neben verstörenden Klassikern wie „Raw Power“, „Search And Destroy“ oder „T.V. Eye“ zu seinen größten kulturellen Errungenschaften. „Ich werde die Tauchgänge nicht mehr machen, ich habe es meistens überlebt, und dafür bin ich jetzt zu klapprig“, sagt der Pate des Punk nach 55 Dienstjahren.
Pop ist jetzt manchmal auf einen Krückstock angewiesen, weil sein „Skelett“ seine „Schwachstelle“ ist – obwohl er im vergangenen Sommer in Deutschland noch eindrucksvoll beweisen konnte, dass er für sein Alter immer noch muskulös ist. Auf der Bühne versteht er es, seinen sehnigen Körper auf eine Art und Weise zu verdrehen, dass man befürchtet, seine Gelenke würden jeden Moment aus ihren Halterungen springen. Ein vielleicht letztes Mal will sich der Altmeister der Anarchie 2023 noch zu einer internationalen Tournee aufraffen. Im Londoner Crystal Palace Park etwa wird er unter dem Motto „Dog Day Afternoon“ auftreten – neben den Bands Blondie und Generation Sex. In Deutschland gibt er ein Gastspiel mit den Red Hot Chili Peppers. „Ich bin immer davon ausgegangen, dass die Dinge sich beruhigen würden, wenn ich 65 bin“, sagt er. „Das war nicht der Fall.“