Sie ist ein deutscher Star mit hauchfeiner Flüsterstimme und 1,5 Millionen verkauften Tonträgern. Mit Annett Louisan sprachen wir über ihr neues Album, über Selbstoptimierung, den Tod und über Xavier Naidoo.
Frau Louisan, mit „Babyblue“ verbeugen Sie sich vor den Chansons der 60er- und 70er-Jahre. Ist ein Chanson im Idealfall ein Gesamtkunstwerk aus Text, Musik, Gesang und Sprachmelodie?
Im Begriff Chanson mit seinem französischen Hauch liegt eine positive Wertung. Ich liebe den Klang von Worten. Ich finde es toll, wenn man sagt, ich sei eine Chansonsängerin. Damit fühle ich mich sehr wohl.
„Babyblue“ ist ein Album über das Älterwerden. In welcher seelischen Verfassung waren Sie, als Sie sich die neuen Lieder erarbeiteten?
Ich bin mit 40 Mama geworden und mit vielen Glücksgefühlen in die mittleren Jahre reingeschlittert. In den ersten zwei Jahren als Mutter war ich sehr glücklich. Wenn das so spät geschieht, nimmt man es noch bewusster wahr. Dass ich einen kleinen Baby-Blues hatte, habe ich erst hinterher gemerkt, weil ich mir zu wenig Zeit für mich genommen hatte. Bei der Veröffentlichung meiner letzten Studioplatte 2019 habe ich mich sehr zerrissen, weil ich meine Tochter abends im Arm halten wollte. Aber bei den ersten Konzerten nach der Geburt wurde mir bewusst, wie wichtig die Musik für mich ist. Ich brauche sie einfach, aber ich musste auch erst mal einen Platz für die private Annett finden. Das war sehr anstrengend. Die letzten zwei, drei Jahre waren für mich die schönsten, aber vielleicht auch die schlimmsten. Es ist viel passiert.
Haben Sie Eigenschaften, die Sie selbst nur schwer akzeptieren können?
So komisch es klingt, aber mit meinem Selbstwertgefühl hat lang etwas nicht gestimmt. Gemocht zu werden, war für mich in den ersten Jahren als Künstlerin bestimmend. Mir war wichtig, den Leuten etwas zu geben, was ihnen gefällt. Aber mein Bedürfnis als Künstlerin hat sich verändert.
Inwiefern?
Heute habe ich mehr den Wunsch, die Musik zu machen, die ich selbst liebe. Vielleicht hat es etwas mit Selbstwertgefühlen zu tun, dass ich es erst jetzt kann. Ich habe mir selbst ein Publikum erarbeitet.
Die Lieder auf der Platte sind ausdrucksvoll und tiefgehend.
Wir leben in einer Zeit der kompletten Selbstoptimierung und des positiven Denkzwangs an jeder Ecke. Wenn man sagt, es gehe einem nicht so gut, bekommt man gleich 50.000 Anleitungen, wie man es besser machen kann. Aber für mich muss es auch eine Legitimation für Melancholie geben. Die ist für mich ein Motor und eine Suche nach der Wahrheit. Melancholie macht mich als Künstlerin hungrig und demütig.
Früher seien Menschen 40 geworden und sparten sich so die Therapie, heißt es in „Die mittleren Jahre“. Wann sollte man in Therapie gehen?
Also, ich konnte es erst jetzt. Ich habe es vorher hier und da angefangen, aber die Therapeuten merkten, dass ich noch nicht soweit war, um ehrlich zu sein. Ich dachte immer, den trickse ich aus, aber damit stellt man sich selbst ein Bein. Ich bin erst jetzt wirklich bei meinen Themen. Ich musste da ran.
Weshalb?
Durch meine Lebensumstände, durch eine schmerzhafte Trennung und Liebeskummer. Wenn man ein relativ resilienter Mensch ist und auch ständig arbeitet, warten Traumata lang. Bei mir kam es dann geballt. Es waren die schönsten und die schlimmsten Jahre für mich. Später werde ich dankbar auf diese Zeit zurückschauen, weil ich mich gewissen Dingen gestellt habe.
Sie sagen, Glück gebe es nur mit Unglück. Hilft Ihnen das Songschreiben dabei, eigene Probleme zu identifizieren und zu verstehen?
Unbedingt. Ich habe den Luxus, in die Tiefe gehen und Dinge auseinandernehmen zu können. Ich habe es immer schon geliebt, in Rollen zu schlüpfen und jede Person sein zu können, die ich sein will. Das macht Annett Louisan aus, die eine Art Kunstfigur ist. Sie gibt mir die Möglichkeit, den Apfel von verschiedenen Seiten zu betrachten. Und wenn man sich selbst versteht, versteht man andere auch besser. Ich verspüre manchmal Seelenschmerz, weil ich zu tief in mir gegraben habe.
Was gab Anlass, ein Lied über den Tod zu schreiben?
Leid, Schmerzen. Ich habe schon als Kind gedacht, dass ich etwas Besonderes sein möchte. Das mit dem Tod konnte ich mir gar nicht vorstellen. Dieses Gefühl der Unsterblichkeit trug ich noch lang in mir. Es ist weg, seitdem ich Mutter bin.
Wie gehen Sie mit dieser Situation um?
Es bereitet mir große Angst, mich von gewissen Erwartungen, die ich ans Leben hatte, zu verabschieden. Das muss ich erst einmal durcharbeiten, aber ich merke jetzt schon, dass es besser wird und das Glück wieder mehr kommt. Ich weiß jetzt mehr zu schätzen, was ich habe. Das „Lied über den Tod“ ist eigentlich ein Liebeslied für mich selbst. Das einzige, was ich je geschrieben habe. Es hat etwas mit der dunklen Seite zu tun, die ich anerkennen musste. Ich kann nicht immer nur fröhlich sein. Zu harmoniebedürftig darf man nicht sein, weil man dann zu lang in Zuständen verharrt, die einen vielleicht nicht glücklich machen. Man muss auch nein sagen können, aber das ist manchmal anstrengend.
In „Wenn ich groß bin“ geht es ums Kindsein und ums Musikmachen. Brauchen Frauen im Musikgeschäft sehr viel mehr Selbstbewusstsein als Männer?
Ja. In der Musikbranche gibt es natürlich auch die Typen, die an den großen Schreibtischen sitzen. In den Chefetagen sind noch immer sehr wenig Frauen. Aber Gott sei Dank tut sich viel. Viele Dinge, die ich früher mit mir habe machen lassen, würde ich heute nicht mehr zulassen. Zum Beispiel, schlechte Verträge zu unterschreiben, mich schlecht zu behandeln oder runterzumachen, um instrumentalisiert zu werden. Das sind Sachen, die überall passieren.
Was sollten sich junge Künstlerinnen auf keinen Fall gefallen lassen?
Sie sollten sich erstens nicht sagen lassen, dass sie nicht gut genug sind. Sie sollten zweitens ihre Kunst beschützen und nicht gleich nach dem Erfolg schauen, der kommt eh durch Stärke und Selbstbewusstsein. Es gibt so viele neidische und missgünstige Leute. Drittens braucht eine Frau einen guten Anwalt beziehungsweise eine Anwältin, um die Verträge durchzuschauen. Man sollte nie zu sehr vertrauen, denn Musik ist ein Geschäft! Das ist ja das große Drama. Mit Liebe und Passion sein Geld verdienen müssen ist so schwer. Das ist schon toxisch. Ich würde auch Konzerte unentgeltlich spielen, aber mit irgendetwas muss man schließlich seine Brötchen verdienen. Man muss sehr aufpassen, dass man als Künstlerin nicht durchgezogen wird.
Und das ist Ihnen schon passiert?
Ja, durchaus. Als ich mit der Musik anfing, wusste ich noch nicht einmal, was die Gema ist. Aber man arbeitet sich da rein. Zum Teil lernt man aus seinen Fehlern. Man muss sich wirklich bilden und darf sich nicht zu viel aus der Hand nehmen lassen. Die Kunst liegt in der Leichtigkeit, im Ungesagten und den Zwischentönen. Ich kenne so viele Künstlerinnen und Künstler, die haben sich noch nicht einen Vertrag durchgelesen und wollen nur Musik machen. Aber es gehört dazu, aufzupassen.
In „Große Hände“ besingen Sie Verschwörungstheoretiker. Was glauben Sie: Warum haben Verschwörungstheorien während der Corona-Pandemie einen regelrechten Boom erlebt?
Ich glaube, jeder hat Leute in seinem Freundeskreis, die sind abgedreht. Manchmal wundert man sich, was jetzt mit dem oder der los ist. Eine Theorie von mir ist, dass zum Beispiel besonders Leute, die früher immer mit Vitamin B durchkamen, davon betroffen sind, denn dank Corona waren plötzlich alle gleich. Es gab ja keine Ausnahmen, keine VIP-Pässe. Manche von denen wurden wütend, weil man wirklich nichts tun konnte.
Der Sänger Xavier Naidoo bereut seine früheren Schwurbeleien. Er sei geblendet gewesen und habe sich instrumentalisieren lassen. Anlass für seinen Sinneswandel war der Krieg in der Ukraine, in der Teile seiner Familie leben. Wünschen Sie ihm jetzt ein Comeback?
Da ich ihn in Südafrika bei der letzten Staffel der TV-Show „Sing meinen Song“ persönlich kennengelernt habe, würde ich ihm das wünschen. Ich habe ihn als sehr netten, höflichen Menschen erlebt. Ich glaube, Leute um ihn herum haben ihn falsch gefüttert. Ich will Xavier Naidoo nicht die Verantwortung absprechen, aber er sagt ja, dass er es bereut und ich denke, er meint es ehrlich. Er ist ja ein kluger Mann, auch wenn ich zum Teil schockiert war von dem, was er da von sich gegeben hat. Alle, die ihn gemocht haben, waren das. Es ist manchmal verrückt, wie Menschen auf eine komische Schiene kommen.
Künstler gelten als unangepasste Einzelgänger. Sind sie spezielle Persönlichkeiten?
Aber in Deutschland sind Künstler sehr viel angepasster. Wir lassen eigentlich viel zu wenig schräge Vögel zu.
Woran liegt das?
Dafür müsste man ganz tief ins Deutschsein reingehen. Vielleicht liegt es ja an unserer Geschichte. So viele Künstler, die hier aufgewachsen sind, haben vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg das Land verlassen. Es wurde sehr viel zerstört, was heute fehlt.
Bräuchten wir mehr Typen wie Udo Lindenberg?
Ja, und vor allen Dingen mehr Toleranz. Es hat sehr viele Vorteile, in Deutschland zu leben, unser soziales System funktioniert immer noch besser als das in anderen Ländern. Aber es ist immer noch verbesserungswürdig. Man soll nach dem Guten streben, ohne die Dunkelheit auszumerzen, die gehört eben dazu. Wir müssen Fehler machen dürfen, ohne Angst zu haben. Das würde ich Kindern als allererstes beibringen. Aus Fehlern sind viele tolle Dinge entstanden.
„Ganz nebenbei schießt im TV eine Drohne in ein Wohngebiet“, heißt es ganz nebenbei in dem ironischen Lied „Die fabelhafte Welt der Amnesie“. Vergessen wir Menschen gern Missstände beziehungsweise schauen wir darüber hinweg und tun so, als ob alles funktioniert?
Der Spagat zwischen Selbstschutz und Ignoranz ist nicht leicht. Mit dem Lied will ich gerade nicht die offensichtlichen Rassisten ansprechen, sondern Menschen wie ich, die in einer Bio-Welt aufwachsen. Ich kenne Leute, die bekamen Angstzustände beim Ausbruch des Ukraine-Kriegs, weil sie sich das so zu Herzen genommen haben. An irgendeiner Stelle muss ein Selbstschutz einsetzen, damit du funktionierst und nicht krank wirst. Aber dann sofort wieder alles wegzuwischen und weiterzumachen ist eben auch nicht gut. Ich finde, wir müssen uns da alle an die Nase fassen. Es ist sehr schwer, so zu leben, wenn du weißt, dass zwei Länder weiter alles in Schutt und Asche liegt. Auch die Revolution in Iran bewegt mich persönlich gerade sehr.
Lässt Sie das alles eher pessimistisch oder optimistisch in die Zukunft blicken?
Ich glaube, ich bin trotz dieser Platte eine Optimistin, weil ich das will. Am Ende glaube ich an uns Menschen, an meine Tochter und an mich selbst. Ich spüre, dass wir alle füreinander da sind. Es gibt sehr viele Menschen, die sich um andere Gedanken machen. Mit dem Optimismus, den man selbst ausstrahlt, kann man andere beeinflussen und mitreißen.