Mitten in Deutschlands Konjunkturflaute ruft die Industrie immer lauter nach gesenkten Industriestrompreisen. Die Ampelkoalition ist sich noch nicht einig darüber, wie der deutschen Wirtschaft geholfen werden soll. Ein Ansatzpunkt: die Netzentgelte.
Die deutsche Wirtschaft steckt in der Konjunkturflaute. Die Aussichten für die kommenden Monate haben sich nach Einschätzung von Ökonomen weiter eingetrübt. Der Internationale Währungsfonds etwa erwartet, dass die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr um 0,3 Prozent schrumpft.
Entlastung muss her, aber wie? Darüber debattiert die Ampelkoalition in Berlin und hat einen möglichen Ansatzpunkt schon längst ausgemacht: die Industriestrompreise. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) will für eine Übergangsphase einen staatlich subventionierten Industriestrompreis für besonders energieintensive Betriebe. Habeck spricht von einem sogenannten Brückenstrompreis von sechs Cent je Kilowattstunde für einen klar definierten Empfängerkreis. Bis 2030 könnte dies bis zu 30 Milliarden Euro kosten, der Zeitraum könne auch deutlich kürzer sein. Bereitstellen soll das Geld der Fonds, der bereits für die Strom- und Gaspreisbremse aufgelegt wurde.
Kanzler Olaf Scholz (SPD) hat den Plänen nun jedoch eine Absage erteilt. Auch der Koalitionspartner FDP lehnt einen subventionierten Industriestrompreis ab. Stattdessen legte Finanzminister Christian Lindner knapp 50 steuerpolitische Maßnahmen vor, um die Wirtschaft mit jenem Steuerpaket um jährlich rund 6,5 Milliarden Euro zu entlasten. Dies wurde bereits im Koalitionsvertrag so vereinbart. Kernelement des sogenannten Wachstumschancengesetzes ist eine Prämie für Investitionen in den Klimaschutz. So sollen Investitionsprämien für Firmen während ihres Umstieges auf effiziente und erneuerbare Energien ausgeschüttet werden und Verlustrückträge für das Vorjahr bis ins Jahr 2027 vorgenommen werden dürfen. Außerdem sollen laut Vorschlag des Ministeriums bis zu 70 Prozent aller Investitionskosten für Forschungsvorhaben anteilig förderfähig sein und nicht mehr nur Personalkosten. Kein Wort zum Industriestrompreis. Der Entwurf ist in der Regierung noch nicht abgestimmt. Die Union fordert unter anderem, die Stromsteuer und die Netzentgelte zu senken.
Steuerpaket oder Subventionen
Die Bundesnetzagentur fordert, die erneuerbaren Energien schneller auszubauen. Allerdings werde der Ausbau von Netzen und erneuerbaren Energien für manche Unternehmen zu spät kommen, um die Kosten rechtzeitig zu senken. „Deswegen begrüße ich, dass die Politik verschiedene Varianten diskutiert, um bedrängten Branchen ans rettende Ufer zu helfen“, sagte Netzagentur-Chef Klaus Müller mit Blick auf einen befristeten Industriestrompreis.
Die Gewerkschaften stehen in der Diskussion um eine Entlastung, die bereits seit Langem schwelt, an der Seite der Unternehmen. Im Arbeitspapier des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz im Mai wurden mit dem „Transformationsstrompreis für erneuerbaren Strom“ und einem „Brückenstrompreis“ zwei mögliche Instrumente veröffentlicht. Die Diskussionen über die beiden Optionen müssten fortgesetzt werden und schnellstmöglich zu einer Lösung führen, welche die Industrie zu wettbewerbsfähigen Preisen produzieren lasse, so der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB). Der Chef des DGB im Saarland, Timo Ahr, sagt, er sehe „durch das Abwarten auf der Bundesebene und die Blockadehaltung von Finanzminister Lindner den gesamten Transformationsprozess in Gefahr“.
Forderungen und Debatten aber täuschen über den Umstand hinweg, dass es den „einen“ Industriestrompreis in Deutschland nicht gibt. Der Großhandelspreis, der eben nicht gleichzusetzen ist mit dem Industriestrompreis, betrug zuletzt knapp zehn Cent pro Kilowattstunde. Er wird an der Strombörse gehandelt. Jedes Unternehmen zahlt Steuern, Netzentgelte und Umlagen wie ein Privathaushalt. Wie viel aber deutsche Unternehmen tatsächlich zahlen, hängt individuell von der Unternehmensgröße, Vertragslaufzeiten und möglichen Sonderregelungen für ein Unternehmen ab. Inklusive Steuern und Abgaben lag der durchschnittliche Strompreis für kleinere und mittlere Betriebe nach Angaben des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft im Juli bei 24,96 Cent; im Vergleich zum extrem teuren zweiten Halbjahr 2022 hat sich der Preis bereits halbiert.
Dennoch liegt er damit immer noch doppelt so hoch wie vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine. Energieintensive Unternehmen in der Chemie-, Aluminium- oder Zementproduktion kämpfen seit 2022 mit höheren Energiepreisen, aber auch der klassische Mittelstand wie Bäckereien. Für sie wäre ein subventionierter Industriestrompreis eine Erleichterung. Für Experten wie Marcel Fratzscher, dem Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, liegt das Problem tiefer. Er forderte stattdessen in der ARD einen besseren Infrastrukturausbau etwa der Digitalisierung und der Netze, mehr erneuerbare Energien und eine deutliche Entbürokratisierung.
Den Rufen nach Sofortprogrammen gegen die Konjunkturflaute hat FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai eine Absage erteilt. „Nicht kurzfristige Konjunkturprogramme sind jetzt gefragt, sondern ein strategisches Konzept, das Bürokratieabbau, niedrige Steuern und eine Steigerung von privaten Investitionen beinhaltet“, sagte er. Es brauche „mehr Anreize für private Investitionen, mehr Innovationen und weniger Staatsinterventionismus in Form von Subventionen oder Transferleistungen“.
Die Regierungsdebatte könnte also dazu führen, dass den deutschen energieintensiven Unternehmen nicht allzu schnell geholfen wird. Dass ein kurzfristiger „Brückenstrompreis“ hilfreich ist, um die strukturellen Probleme der deutschen Industrie anzugehen, ist zweifelhaft. Zu diesem Schluss kommt jedenfalls Achim Wambach, Präsident des Leibniz-Zentrums für europäische Wirtschaftsforschung. Statt 30 Milliarden Euro in das erhoffte Nicht-Abwandern energieintensiver Betriebe und Produktionen mit geringer Wertschöpfung zu stecken, sollte man nach Meinung Wambachs dieses Geld in Forschung stecken und internationale Kooperationsmechanismen für den Klimaschutz ausweiten.
Nord-Süd-Gefälle bei Netzentgelt
Unbestreitbar hat Deutschland derzeit die höchsten Strompreise weltweit, 23 Prozent der Kosten davon entstehen derzeit den Unternehmen durch Beschaffung, für Netzentgelte und Vertrieb. Und gerade bei den Netzentgelten könnte ein Kompromiss liegen, um die hohen Kosten für alle fairer zu verteilen. Denn dort, wo die Erneuerbaren stark ausgebaut wurden, im Norden und im Osten Deutschlands, sind die Netzentgelte hoch, weil mit dem Ausbau auch die Netzkapazität steigen musste, mitunter also auch die Strompreise. Im Süden jedoch stockt der Ausbau. Es entsteht ein Ungleichgewicht zwischen Nord und Süd.
Über eine Strompreisreform wird seit Längerem diskutiert. Mitte Juni hatten mehrere Länder aus dem Norden und Osten wie Brandenburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein eine faire bundesweite Verteilung der durch den Erneuerbaren-Ausbau bedingten Netzausbaukosten gefordert. Faire Netzentgelte seien die Grundlage für die Akzeptanz der Energiewende. Dagegen hatte etwa Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) im Mai gesagt, es könne nicht sein, dass der Strom im Süden teurer und im Norden billiger sei. Im Süden Deutschlands aber könnten zahlreiche Großverbraucher und Betriebe den Strom aus dem Norden gut gebrauchen, der mangels Netzen aber nicht dort ankommt.
Niedersachsen, Brandenburg und Schleswig-Holstein sind die Länder mit den meisten Windrädern in Deutschland. Die Energiebranche beklagt seit Langem ein Nord-Süd-Gefälle beim Ausbau der Windkraft. Insbesondere in Süddeutschland stocke der Ausbau weiter. Die Neuverteilung der Netzentgelte übernehmen soll laut einem Gesetzentwurf der Bundesregierung die Bundesnetzagentur. Wie der Kompromiss letztlich aussehen könnte, ist noch offen. Klar ist aber, dass es schnell gehen muss.