Die Niederlagen gegen Bayern und Ulm haben gezeigt: Der Umbruch von Alba Berlin braucht Zeit, ehe er Früchte trägt. Dieser Prozess wird durch die aktuellen Verletzungssorgen erschwert.
Wie bei allen anderen Proficlubs auch hat die Social-Media-Abteilung bei Alba Berlin an Bedeutung gewonnen. Im digitalen Zeitalter sind peppige und kreative Posts gefragt, dazu sollten die Fans möglichst aktiv einbezogen werden. Einen direkten Online-Austausch zwischen Usern und Club-Verantwortlichen gibt es aber in der Regel nicht – beim Euro League-Start war das jedoch anders. Nach der 68:80-Niederlage beim zweiten deutschen Vertreter, dem FC Bayern München, antwortete Sportdirektor Himar Ojeda tatsächlich mit seinem Privataccount direkt auf eine konkrete Frage eines Fans. Ein richtiger „Schlagabtausch mit Fans im Netz“, wie es die „Bild“ betitelte, kam zwar nicht wirklich zustande. Aber immerhin zeigt es, dass die Antennen bei den Alba-Verantwortlichen aufgestellt sind. Die Situation ist nicht ungefährlich.
Gefährliche Situation
„Nach einer richtig starken ersten Halbzeit macht sich unsere verletzungsbedingte Unterlegenheit unter den Körben in der zweiten Hälfte bemerkbar. Der FC Bayern München gewinnt das Rebound-Duell und das erste Euro League-Spiel der Saison“, schrieb Alba bei X (vormals Twitter) nach Spielende. Der User „Mr. Marks“ schrieb darunter als direkte Nachfrage an den Manager: „49:17 Rebounds. Keine Bigs, keine Chance in der Euro League. Himar Ojeda, gibt es irgendeine Möglichkeit, einen guten Spieler zu verpflichten?“ Mit Kresimir Nikic in der Euro League zu spielen sei „lächerlich“, die Gegner würden Alba „zerstören“, sobald Yanni Wetzell nicht auf dem Feld stehe. Der bei Alba für die Transfers zuständige Ojeda antworte: „Wir haben schon sechs große Spieler.“
Doch drei von den sogenannten „Big Men“ – namentlich Khalifa Koumadje (2,21 Meter/Knieprobleme), Yanni Wetzell (2,07 Meter/Knöchelverletzung) und Tim Schneider (2,08 Meter/Augeninfektion) – fallen derzeit verletzt aus. Das war vor allem gegen die Bayern ein Riesenproblem. Die Rebound-Statistik ging mit 17:49 glasklar an den deutschen Dauerrivalen. Und damit auch das Spiel. Da auch noch der über zwei Meter große Flügelspieler Elias Rapieque wegen einer Mittelhandfraktur nicht zur Verfügung stand, kam die Pleite nicht überraschend. Und sie bestätigte die Befürchtungen: Die Euro League könnte in dieser Saison für die neu formierte und sehr junge Berliner Mannschaft eine Herkulesaufgabe werden. „Wir sind nicht diejenigen, die da die großen Ansprüche stellen. Aber ich glaube, wir werden für viele unangenehmer sein, als sie es vielleicht glauben“, sagte Geschäftsführer Marco Baldi. Doch großen Erfolgsdruck spüren sie nicht bei Alba. „Solange wir unser Bestes geben und unseren Basketball spielen, können wir glücklich sein“, hatte Ojeda als Ziel für diese Spielzeit auf internationalem Parkett gesagt und vorausschauend ergänzt: „Obwohl Gewinnen dann immer noch schwierig ist.“ Und das nicht nur in der Euro League.
Zwei Tage später verlor Alba auch in der Bundesliga. Das 88:100 bei Titelverteidiger Ratiopharm Ulm war zwar erst die erste Niederlage in der Liga nach zuvor zwei Siegen – doch sie hinterließ Eindruck. Zum zweiten Mal hintereinander setzte es gegen eine Topmannschaft eine Pleite, was die Frage aufwirft: Ist Alba immer noch ein Spitzenteam? „Man soll das nicht überbewerten. Wir sind am Saison-Anfang“, sagte Johannes Thiemann. Der Weltmeister war gegen die Bayern und gegen Ulm bester Alba-Schütze und hilft aktuell wegen fehlender Alternativen als Center aus. Thiemann ist weit davon entfernt, wegen der Situation Panik zu verbreiten. „Die Jungs brauchen eben Zeit, um zurückzukommen“, sagte er. Dass das sonst so kreative Alba-System derzeit wenig Spektakuläres zu bieten hat, liege vor allem an der fehlenden Eingespieltheit und der Personalnot. „Das System, das wir spielen, ist anspruchsvoll. Da kann man nicht erwarten, dass man in zwei, drei Wochen perfekt zusammenspielt“, sagte Thiemann. Vor allem nicht, wenn wichtige Spieler mehrere Wochen ausfallen. „Wir spielen eben derzeit dezimiert, haben keinen Center“, erklärte Thiemann: „Normalerweise sind wir tiefer besetzt.“
Im Moment läuft vieles gegen die Berliner, die Personalsorgen werden immer größer. Gegen Ulm mussten sie nicht nur auf Wetzell, Schneider, Koumadje und Rapique verzichten. Auch Small Forward Gabriele Procida fehlte aufgrund der 6+6-Regel im Kader, und Robin Christen und Philipp Herkenhoff verzichteten wegen Knieproblemen auf eine Anreise. Dennoch lieferte Alba dem Meister der Vorsaison drei Viertel lang einen offenen Schlagabtausch – ehe sich Konzentrationsmängel einschlichen. In der Crunchtime machte sich die noch nicht perfekte Abstimmung der neu formierten Mannschaft deutlich bemerkbar. Ulm, das in Yago dos Santos und Bruno Caboclo zwar wichtige Stützen des Meisterteams verloren hat, setzte sich mit einem 11:0-Lauf entscheidend ab. Dabei glänzte vor allem Ulms Aufbauspieler Juan Nunez, der 19-Jährige gilt als Riesentalent auf seiner Position. Genau wie die Berliner Matteo Spagnolo (20 Jahre) und Ziga Samar (22), die aber im direkten Duell klar im Schatten von Nunez standen. „Sie haben als Titelverteidiger ein großes Selbstbewusstsein und sie sind immer noch ein gutes Team mit Juan Nunez als starkem Spielmacher“, hatte Alba-Sportdirektor Ojeda im Vorfeld gewarnt.
Große Verantwortung auf Thiemann
Der Spanier Nunez kam allein auf 17 Punkte, zehn Assists und vier Rebounds, die beiden jungen Berliner Spagnolo und Samar zusammen nur auf neun Punkte, sieben Assists und zwei Rebounds. Spagnolo, Samar, aber auch die ebenfalls talentierten Malte Delow (22) und Gabriele Procida (21) stehen für den Umbruch im Berliner Team. Dass sie die erfahrenen Leistungsträger wie Luke Sikma, Maodo Lo und Jaleen Smith, die den Club im Sommer verlassen haben, nicht sofort gleichwertig ersetzen können, war den Verantwortlichen aber von Beginn an klar. „Wir wollen die Neuen jeden Tag besser machen“, sagte Ojeda im Versuch, von der Öffentlichkeit und den Fans etwas Geduld einzufordern. Man stehe erst am Anfang des „neuen Kapitels“, betonte der Sportdirektor. Rückschläge sind deshalb einkalkuliert – doch im Mittelmaß will der Club deshalb nicht versinken. „Wir wollen natürlich dorthin zurück, wo wir schon einmal waren“, erklärte Ojeda.
Bis sich die vielen Talente im Team stabilisiert haben, müssen es die Etablierten richten. Vor allem auf Thiemann lastet derzeit eine große Verantwortung, in engen Situationen vertraut das Team vor allem ihm. Der 29-Jährige scheint damit noch keine Probleme zu haben, der jüngste Sensations-Coup mit der Nationalmannschaft bei der WM hat sein Selbstvertrauen sichtlich wachsen lassen. Trainer Israel Gonzalez traut seinem Schützling einen weiteren Entwicklungsschritt zu: „Er ist sehr klug, er lernt sehr schnell.“ Und er ist ein wichtiger Ansprechpartner für die „jungen Wilden“ in der Kabine und ein Stabilisator auf dem Feld. Doch Thiemann kann auch Spektakel – das hat er bei der WM und in der Bundesliga schon beweisen. „Mit seinem Spiel unterm Korb fasziniert JT alle“, sagte der abgewanderte Sikma einmal über seinen Ex-Teamkollegen: „Was er da macht, ist so unterhaltsam wie wenn Maodo Lo eins gegen eins spielt.“