Gewagte Optik, Steckdosen im Innenraum, blitzschnelles Laden: Mit der Elektro-Limousine Ioniq 6 hebt sich Hyundai vom Alltagsbrei ab. Manche Features nerven dann aber doch.
Die schwierigste Frage: Wie sieht er aus? Bei den meisten Autos ist die Antwort offensichtlich. Klein und süß, groß und prollig, lang und edel – irgendein Alleinstellungsmerkmal gibt’s immer. Nicht so beim Ioniq 6. Von vorne könnte es sich um einen Sportwagen handeln. Ein paar Schritte weiter und er sieht aus wie ein Tesla. Die große Überraschung dann beim Blick von der Seite: Plötzlich entpuppt sich der vermeintliche Roadster als fast fünf Meter lange Limousine, modelliert wie ein Tropfen. So hat man sich früher vermutlich das Auto der Zukunft vorgestellt.
Echte Spiegel liefern ein besseres Bild
Die seltsame Optik ist der Nachhaltigkeit geschuldet: Der Ioniq 6 soll dem Fahrtwind so wenig Angriffsfläche wie möglich bieten. Dazu gehört, dass die Türgriffe nach dem Losfahren einklappen und sich Luftklappen im Stoßfänger befinden. So kommt der Ioniq 6 auf einen Luftwiderstandswert (cW-Wert) von 0,21. Damit liegt er nur ganz knapp hinter dem Spitzenreiter unter den elektrischen Serienmodellen, dem Mercedes EQS. Dieser kommt auf einen cW-Wert von 0,20. Besser war nur der niederländische „Lightyear 0“, dessen Produktion allerdings schon wieder eingestellt wurde. Um die Aerodynamik weiter zu verbessern, bietet Hyundai digitale Außenspiegel an: Dort, wo normalerweise die Spiegel sitzen, befinden sich (deutlich kleinere) Kameras. Was sie filmen, wird live auf zwei Bildschirme übertragen, die sich links und rechts zwischen A-Säule, Front- und Seitenscheibe befinden. Braucht man das? Eher nicht.
Zum einen liefern echte Spiegel ein besseres Bild, vor allem bei Regen, im Tunnel und generell im Dunkeln. Zum anderen erscheint der Energiespar-Effekt fraglich, weil zwar die Luft besser vorbeiströmt, gleichzeitig aber permanent Strom für die Monitore verbraucht wird.
Und erst der Preis! Die digitalen Seitenspiegel sind nur in Kombination mit der teuersten Ausstattungsvariante „Uniq“ erhältlich, und selbst dann kosten sie noch einmal 1.300 Euro extra. Von den Spiegeln abgesehen, gibt es im Innenraum keine großen Überraschungen. Die Insassen haben viel Platz, die Sitze sind bequem und die wichtigsten Funktionen (Navi, Klima, Medien) sind über klassische Knöpfe erreichbar. Einzige Besonderheit: Die Knöpfe fürs Fenster befinden sich in der Mittelkonsole – erst mal ungewohnt, aber keineswegs unpraktisch.
Das Lenkrad wirkt überfrachtet, weil sich vom Tempomat über die Lautstärke bis hin zum Telefon so ziemlich alles steuern lässt. Hinzu kommen die Schaltwippen, mit denen sich die Rekuperationsstufe (zur Rückgewinnung von Energie beim Bergab-Fahren) einstellen lässt. Und zusätzlich noch drei weitere Hebel: einer für den Blinker, einer für die Scheibenwischer, einer für den Gang. Nicht zu vergessen den „Drive Mode“-Knopf, der eine sportliche, normale oder sparsame Fahrweise festlegt. Bei so vielen Tasten schaue ich lieber auf die Straße und nutze die exzellente Sprachsteuerung.
Ein lustiges Merkmal bietet das Lenkrad dann aber doch. Statt eines Hyundai-Logos befinden sich vier kleine LED-Rechtecke in der Mitte. Je nachdem, was man gerade tut oder vom Auto will, blinken die Rechtecke oder wechseln ihre Farbe. Dabei zeigen sie zum Beispiel den Füllstand an, während man die Batterie auflädt.
Dass Hyundai optische Spielereien mag, zeigt sich bei den durchgehenden Rücklichtern. Wie ein Lineal aus Pixeln ziehen sie sich unterhalb der Kofferraum-Klappe komplett übers Heck. Was uns zum Gepäck führt: Mit 401 Litern fällt der Stauraum etwas mager aus, zumindest für eine 4,80 Meter lange Limousine. Bei einem Familienurlaub will also gut überlegt sein, ob das dritte Paar Schuhe wirklich mit muss. Immerhin: Es gibt einen kleinen Stauraum unter der Motorhaube, einen sogenannten Frunk. Viel mehr als das Ladekabel passt da aber nicht rein.
Das Navi verursacht keine Extrakosten
An anderer Stelle überrascht der Ioniq 6 mit pfiffigen Besonderheiten. Am auffälligsten ist die serienmäßige 230-Volt-Steckdose unter der Rückbank, mit der sich Laptops oder andere Geräte während der Fahrt betreiben lassen. In der teuersten Ausstattungsvariante ist zusätzlich ein Steckdosen-Adapter an Bord, der außen an die Ladebuchse angeschlossen wird. Damit kann dieses E-Auto also nicht nur Strom tanken, sondern auch abgeben, zum Beispiel bei Stromausfällen oder beim Camping. Einen Wohnwagen kann man ebenfalls mitnehmen, denn am Ioniq 6 lässt sich eine Anhängekupplung installieren. Verbunden mit dem wählbaren Allrad-Antrieb macht das den südkoreanischen Stromer zu einem echten Outdoor-Auto, auch wenn er nicht danach aussieht.
Schön, dass das Navi – anders als bei den meisten Herstellern – nicht extra kostet. Aber taugt es auch etwas? Sprachbefehle versteht es gut. Nur die Ladeplanung könnte besser sein.
Bisher gab es eine solche Funktion bei Hyundai überhaupt nicht. War eine Strecke zu weit, um mit einer Akkuladung dorthin zu gelangen, musste man per Handy eine Ladestation auf dem Weg suchen. Endlich ist das nicht mehr nötig! Auf Wunsch berechnet das Navi automatisch einen Lade-Stopp.
Weil ich nicht mit vollem Akku starte, ist für meine 420 Kilometer lange Tour von Freiburg nach Bonn eine Lade-Pause nötig. Das Navi plant eine Schnellladestation nach etwa der Hälfte der Strecke ein. Und wenn ich lieber woanders laden möchte? Eine Auswahl präsentiert das Navi nicht – „Friss (Strom) oder stirb“, lautet wohl das Motto. Noch schlimmer wird es auf dem Rückweg, als die Live-Dienste plötzlich ausfallen. Weder weiß der Ioniq 6, wo sich ein Stau auf der Route befindet, noch kann er Ladestopps berechnen. Ist das Internet ausgefallen? Hat er kein Netz? Oder handelt es sich gar um einen Software-Fehler? Auf jeden Fall sind wichtige Funktionen stundenlang nicht verfügbar.
Nur das ständige Gepiepse nervt
Ansonsten verläuft die Fahrt sehr gemütlich. Gute Sound-Qualität, angemessene Dämmung, bequeme Sitze. In den Türen schimmert indirektes Licht; die Farbe lässt sich individuell einstellen. Da kommt fast schon Oberklasse-Feeling auf. Laut Normreichweite kommt der Ioniq 6 über 600 Kilometer weit mit einer Ladung Strom, zumindest mit 18-Zoll-Felgen und Heckantrieb. Mein Testfahrzeug, ausgestattet mit 20-Zoll-Felgen und Allrad-Antrieb, schafft auf der Autobahn rund 400 Kilometer. Das ist ordentlich, aber weniger als bei Hyundais bisherigem Stromspar-König, dem „Kona“ der ersten Generation.
Was wirklich nervt, ist das ständige Gepiepse. Sobald man das Tempolimit auch nur zaghaft überschreitet, meldet sich der Ioniq 6 zu Wort. Da hilft nur eins: Tempomat einstellen oder die Warnfunktion ausschalten.
Schließlich eine Pause an der Raststätte. Hier entpuppt sich der Ioniq 6 als echter Wettläufer. Wie schon sein SUV-Bruder, der Ioniq 5, verfügt er über ein 800-Volt-System. Das sorgt dafür, dass er superschnell lädt. Nicht einmal eine halbe Stunde braucht er, um von acht Prozent auf über 90 Prozent zu laden. Wow! Hyundai verspricht sogar, dass sich die Limousine in nur 18 Minuten von zehn auf 80 Prozent aufladen lässt, wofür allerdings eine richtig schnelle 350-Kilowatt-Ladesäule nötig ist. Die gibt es noch nicht an jeder Raststätte.
Preislich startet der Ioniq 6 bei 43.900 Euro, ausgestattet mit kleinem Akku (429 Kilometer Normreichweite). Die Variante mit großem Akku kostet 48.900 Euro; die Allrad-Variante (mein Testfahrzeug) ist ab 52.900 Euro erhältlich. Plus allerlei Zusatzpakete, die aber kaum nötig sind, da die wichtigsten Dinge bereits serienmäßig mitgeliefert werden.
In diesem Preissegment konkurriert der Ioniq 6 zum Beispiel mit dem Polestar 2 oder dem Tesla Model 3. Bei Fahrspaß und Komfort muss er sich vor diesen Mit-Wettbewerbern nicht verstecken, bei den Ladezeiten liegt er klar vorn. Nur das Navi muss besser werden. Hier hilft hoffentlich ein baldiges Update.