Schon 2010, als andere noch vom Diesel träumten, baute Nissan ein serienreifes E-Auto. Jetzt ist der Nachfolger da, der Ariya. Wurde er nur ein SUV wie viele andere?
Nissan und Elektromobilität, das sind zwei alte Bekannte. Schon im Jahr 2010 brachte der japanische Hersteller den Kompaktwagen Leaf auf den Markt, eines der ersten massentauglichen E-Autos überhaupt. Während andere Konzerne noch über die Stromer lachten – der Diesel-Skandal lag in weiter Ferne –, verkauften die Japaner bereits ein Familienauto, das etwa 150 Kilometer weit kam und zeitweise zum meistverkauften E-Auto der Welt avancierte. Selbst heute noch ist der Leaf so beliebt, dass Nissan ihn – inzwischen mit größerem Akku – weiterhin im Angebot hat.
Sein Nachfolger, der Ariya, wurde das genaue Gegenteil: ein elektrischer SUV. Setzte Nissan vor 14 Jahren ein Zeichen gegen den Mainstream, folgt der Hersteller nun dem allgemeinen Trend nach „größer, breiter, höher“. Die Folge: mehr Platz, mehr Power, mehr Reichweite. Aber auch deutlich mehr Stress bei der Parkplatzsuche.
Diesmal war die Konkurrenz allerdings schneller. Ob Kia EV6, VW ID.5, Mercedes EQA, Tesla Model Y oder Subaru Solterra – überall Elektro-SUV. Was unterscheidet den Ariya also von all den anderen, die es bereits zu kaufen gibt? Ist Nissan diesmal zu spät dran oder kann der Hersteller abermals überzeugen?
Zahlreiche Assistenzsysteme
Beim Aussehen gibt es keine großen Überraschungen. Ein geschliffen-rundes Design mit Tagfahrlichtern, die wie Zähne in die Front ragen. Am Heck leuchtet eine durchgezogene Lichtleiste – hübsch, aber nichts, das man nicht auch woanders schon gesehen hätte. Positiv fällt die Ladeklappe vorne auf der Beifahrerseite auf. Fürs StVO-konforme Parken am rechten Fahrbahnrand gibt es kaum eine Stelle, die sich besser als Stromanschluss eignet.
Beim Innenraum weicht meine Skepsis. Schon der erste Eindruck zeugt von einer hochwertigen Verarbeitung. Tacho und Navi befinden sich in zwei 12,3-Zoll-Displays; das Armaturenbrett ist ebenso gepolstert wie die Innenverkleidung der Tür. Knöpfe gibt es, außer am Lenkrad, so gut wie keine. Stattdessen leuchten einzelne Symbole direkt in der Zierleiste unterhalb des Navi-Bildschirms. Es handelt sich um eine völlig glatte Fläche, sodass die „Knöpfe“ mit der Zierleiste verschmelzen. Auch in der Armlehne leuchten diese Bedienelemente, schlicht und edel zugleich! Da kann VW mit seinen Plastik-Bildschirmen einpacken.
Das Platzangebot überzeugt. Sowohl vorne als auch hinten kann man sich gut ausstrecken. Die Armlehne endet bündig mit den Sitzen, sodass vorne im Fußraum ein zusätzlicher Stauraum entsteht. Müssten die Füße nicht am Strompedal bleiben, könnte ich sie zur Seite ausstrecken. So dient der zusätzliche Platz immerhin als Ablagefläche für mitgebrachte Taschen und Proviant. Wobei dieser natürlich auch nicht auf die Füße des Fahrers rutschen sollte. Wirklich bizarr wird es bei der Armlehne selbst. Diese lässt sich zwar hochklappen, bietet darunter aber nur eine Mini-Ablagefläche für Gegenstände, die nicht dicker als eine Postkarte sind. Warum lässt sich der Rest nicht nutzen? Seltsam.
Der Kofferraum ist etwas kleiner als beim VW ID.5, überrascht aber mit herausnehmbaren Brettern, wodurch eine zweite Ebene entsteht. In diesem „Keller“ lassen sich Ladekabel oder Einkaufstüten prima verstauen. So fliegt nichts durch die Gegend. Auf jeden Fall reicht der Platz aus, um das Urlaubsgepäck einer Familie zu transportieren.
Der Kofferraum schließt elektrisch, der Ariya startet auf Knopfdruck. Der beste Gradmesser, wie gut ein Auto gefedert ist, ist mein Hund. Wenn man jedes Schlagloch spürt, fängt er an zu sabbern. Läuft das Fahrwerk dagegen ruhig und ausgeglichen, geht die Entspannung auf den Vierbeiner über. In diesem Fall ist Letzteres der Fall: Der Hund liegt zusammengerollt auf seiner Decke und schläft.
Ebenfalls überzeugend finde ich die zahlreichen Assistenzsysteme, von denen viele bereits in der einfachsten Ausstattungslinie enthalten sind (zum Beispiel der Spurhalte-, Totwinkel-, Geschwindigkeits- oder Abstandsassistent). Auch die Verkehrszeichen erkennt der Ariya fast immer richtig. Beim Einparken helfen eine autonome Einpark-Automatik oder (für Selbstparker wie mich) eine 360-Grad-Kamera mit Bewegungserkennung. Beide Systeme sind bei einem SUV durchaus nützlich, kosten aber extra.
400 Kilometer mit großem Akku realistisch
Das serienmäßige Navi macht einen fragwürdigen Eindruck. Die Grafik wirkt simpel, wie bei einem Saugnapf-Gerät anno 2010. Andererseits: Wer braucht schon animierte Flüsse, wenn man sich aufs Wesentliche konzentrieren möchte? Ich finde diese Simplizität gar nicht schlecht. Völlig unbrauchbar sind hingegen die Sprachbefehle: Um ein Ziel auszuwählen, muss man dies in einer ganz bestimmten Reihenfolge (Stadt, Straße, Hausnummer) benennen – und selbst dann klappt es oft nicht. Dabei kennt der Ariya sogar viele Sonderziele wie Restaurants, Ärzte oder Kinos. Dann lieber per Hand eintippen, das geht schneller. Die für E-Autos so wichtige Routenplanung kann das Navi. Aber auch gut? Na ja. Liegt ein Ziel außerhalb der Batterie-Reichweite, schlägt das System automatisch die passenden Ladestopps entlang der Strecke vor. Eingrenzen oder verfeinern lässt sich diese Auswahl allerdings nicht. Komplett daneben liegt das Navi beim Verbrauch. „Ziel außerhalb der Reichweite“, warnt es eindringlich – obwohl die Batterie am Ende noch zu 20 Prozent gefüllt ist. Aber gut, andersherum wäre es schlimmer.
Den Nissan Ariya gibt es in verschiedenen Varianten – von der Basisversion mit kleinem Akku (401 Kilometer Normreichweite) bis hin zum Allrad-Antrieb mit 87-kWh-Akku und 498 Kilometern Reichweite. Mein Testfahrzeug hat den großen Akku mit Frontantrieb, liegt also genau dazwischen. Bei mehreren Autobahnfahrten zeigt sich, dass hier etwa 400 Kilometer realistisch sind. Selbst bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt kann der Ariya diese Werte halten, sehr gut!
An der Ladesäule machen dem Stromer die eisigen Temperaturen schon eher zu schaffen. Normalerweise soll er mit einer Leistung von bis zu 130 Kilowatt laden – schon das können Hyundai oder VW besser. In diesem Fall aber schafft der Ariya gerade einmal 40 Kilowatt. Ich brauche am Ende fast eine Stunde, um von 30 auf 70 Prozent zu kommen. Zu Nissans Verteidigung muss man sagen, dass solche „Lade-Einbrüche“ im Winter alle Hersteller betreffen. In diesem Fall ist der Unterschied zwischen Anspruch und Realität jedoch extrem. Selbst bei wärmeren Temperaturen von zehn Grad Celsius lädt der Ariya bei einem Zwischenstopp mit gerade mal 76 Kilowatt, also etwas mehr als der Hälfte der versprochenen Ladeleistung. Von „Schnellladen“ kann man hier eigentlich nicht mehr sprechen.
Grundsolides Elektro-SUV ohne Wow-Effekt
Beim Laden in der Innenstadt sieht das schon wieder anders aus. An langsamen Wechselstrom-Ladesäulen schafft er bis zu 22 Kilowatt. Das können nicht viele. Allerdings löst sich dieser Vorteil auch schnell wieder auf: Sobald sich ein weiteres Auto dazugesellt, teilen viele Ladestationen ihre Power nämlich auf. Dann laden beide nur noch mit elf Kilowatt – egal, wie flott das Auto eigentlich wäre.
Am Ende stellt sich der Ariya als grundsolides Elektro-SUV heraus, wenngleich ohne Wow-Effekt. Ja, er bietet viel Platz und eine zuverlässige Reichweite. Ja, ihn gibt’s auch mit Allrad. Aber ein echtes Alleinstellungsmerkmal fehlt. Kein Riesenbildschirm wie im Volvo CX30, kein Bordcomputer, der Witze erzählt wie bei Mercedes. Für echte Geländetouren würde ich lieber in den Subaru Solterra steigen, der mit seiner äußeren Plastikverkleidung robuster wirkt. Keine Frage: Nissan kann E-Autos bauen. Der große Wurf wie einst beim Leaf ist dem Hersteller diesmal aber nicht gelungen.