Rote Flecken, extrem trockene Haut und schrecklicher Juckreiz bestimmen den Alltag von Menschen, die an Hauterkrankungen wie Neurodermitis oder Schuppenflechte leiden. Das Berliner Start-up Nia Health hat eine Plattform entwickelt, die Betroffenen das Leben leichter macht.

Regelmäßig öffnet Sophia Papillon auf ihrem Smartphone die Nia-App, um sich unter dem Menü „Wissen" Videos über medizinische Grundlagen und Psychologie anzuschauen. Es geht beispielsweise um Wechselwirkungen von Jucken und Kratzen sowie um Strategien im Umgang mit psychischen Schubauslösern. Über die App behält sie auch ihren Gesundheitsverlauf im Blick. In entsprechenden Menüs dokumentiert sie ihre Schübe und was der Auslöser dafür gewesen sein könnte, zum Bespiel bestimmte Lebensmittel, Duftstoffe oder Stress. „Durch die tägliche Abfrage kann ich später einsehen, wie mein Verlauf war, und ich kann nachvollziehen, welche Ursachen bei mir einen Schub ausgelöst haben", sagt Sophia Papillon, die unter Neurodermitis leidet. Von der Nia-App fühlt sie sich unterstützt, um besser mit der Hauterkrankung klarzukommen.
Rund 200 Millionen Menschen leiden weltweit unter Neurodermitis, allein 4,5 Millionen in Deutschland, und es werden immer mehr. Vor allem Kinder sind von der chronischen Hauterkrankung betroffen. Sie tritt meist ab einem Alter von drei Monaten in Schüben auf und verwächst sich bei etwa 80 Prozent der Fälle nach etwa acht Jahren. Die Erkrankung wird durch mehrere Faktoren begünstigt, unter denen auch die Genetik eine bedeutende Rolle spielt. Die steigende Fallzahl weist darauf hin, dass auch Umweltfaktoren das Auftreten von Neurodermitis beeinflussen.
Tausende von Patienten und Eltern mit betroffenen Kindern rennen von Arzt zu Arzt, um endlich den richtigen zu finden. Auf einen Termin müssen Kassenpatienten monatelang warten. Genug Gründe für das Team der Nia Health GmbH, um diese Menschen mit einer digitalen Helferin zu unterstützen. Das Team entwickelte die Nia-App, die Neurodermitis-Betroffene sowie Eltern von Kindern, die unter dieser Hautkrankheit leiden, begleitet und zu mehr Wohlbefinden verhilft. Nia steht für „Neurodermitis intelligent angreifen". „Die App bringt Erleichterung im Alltag und bereitet die Patienten perfekt auf den nächsten Arzttermin vor", sagt Tobias Seidl, der zu dem fünfköpfigen Gründungsteam gehört. Zum Team gehört auch die Dermatologin und Mutter einer an Neurodermitis erkrankten Tochter, Dr. Reem Alneebari. „Wenn das eigene Kind leidet, möchte man natürlich alles dafür tun, um die Situation schnell und nachhaltig zu verbessern", sagt die Mitgründerin. Als Ärztin fiel ihr auf, dass Patienten und Eltern von Kindern mit Neurodermitis häufig wenig über die Hauterkrankung wissen, um auch im Alltag bestmöglich mit den Beschwerden umzugehen. Die App Nia will das ändern, denn sie bietet mehr als ein elektronisches Tagebuch.
Betroffene können in der App Symptome wie Juckreiz, Hautveränderungen, Schlafstörungen und auftretende Schübe beschreiben sowie Bilder von entzündeten Hautpartien hochladen. Über die App erhalten sie Informationen der Arbeitsgemeinschaft Neurodermitisschulung sowie konkrete Handlungsempfehlungen, beispielsweise zu Medikamenten, Ernährung, Psychologie, Bewegung und Körperpflege. Zusätzlich greift Nia auf ein Netzwerk von Dermatologen zurück, die Patienten per Videosprechstunde telemedizinisch betreuen.
Nia erfasst Textangaben zum Krankheitsverlauf, Bilder der Haut, motiviert und erinnert. Die Patienten entwickeln ein besseres Verständnis für ihren Gesundheitsverlauf und sind durch eine Auswertung der Daten gut für den nächsten Arzttermin vorbereitet. Zudem kann der Arzt mit den zusammengefassten Angaben der App den Verlauf fundierter bewerten. Zusätzlich bietet Nia personalisierte – im Alltag umsetzbare – Tipps. „Mit Nia können wir die Betroffenen begleiten und ihren Alltag verbessern, einen Arzt können und wollen wir nicht ersetzen", sagt Seidl.
Entstanden ist die Nia Health GmbH 2019 aus einem Existenz-Gründerstipendium an der Berliner Charité. Es ist die erste vollumfängliche technologische Begleitung für Neurodermitis-Patienten und als Medizinprodukt anerkannt. Die Technologie entwickelten die Gründer selbst. Unterstützt werden sie durch einen medizinischen und technologischen Beirat. Nia wurde mit dem Europäischen Innovationspreis und dem Gründerpreis der Berliner Sparkasse 2020 ausgezeichnet. Gefördert wird das Start-up Nia Health beispielsweise vom Bundeswirtschaftsministerium und der Investitionsbank Berlin. Inzwischen bietet die Nia-App über 6.000 Patienten und Angehörigen tägliche Unterstützung und verhilft mit personalisierten Inhalten und Funktionen zu einer erhöhten Lebensqualität. Anerkannt wird das Medizinprodukt bereits von drei Krankenkassen. Eine davon ist die Kaufmännische Krankenkasse KKH. Sie stellt allen Versicherten die Premium-Version der Nia-App kostenfrei zur Verfügung. Damit bietet sie den Versicherten umfangreiche Dokumentationsmöglichkeiten des Gesundheitsverlaufs bei Neurodermitis. Ein Report unterstützt die Arzt-Patienten-Kommunikation, und klinisch validierte Tipps erleichtern den Umgang mit der Hautkrankheit. Der Vorstandsvorsitzende der KKH, Dr. Wolfgang Matz, begrüßt die Möglichkeiten der Nia-App: „Wir sehen die innovative Neurodermitis-App Nia als eine wichtige und zeitgemäße Ergänzung zu bestehenden Behandlungsmethoden bei Neurodermitis für unsere Versicherten." Weitere Kooperationsverträge mit Krankenkassen sollen die App für alle Versicherten in Deutschland kostenfrei zugänglich machen. Die App ist über den App Store von Apple und Google Play erhältlich. Ohne Kostenübernahme einer Krankenversicherung kostet die App monatlich knapp 50 Euro.

Basierend auf der für die Neurodermitis-App entwickelten Plattform brachte das Team der Nia Health GmbH im Oktober 2020 eine zweite App auf den Markt. Sie heißt Sorea und richtet sich an Patienten mit Psoriasis, auch Schuppenflechte genannt. Schuppende Hautveränderungen sind typische Merkmale der chronisch-entzündlichen Hauterkrankung. In Deutschland allein sind etwa zwei Millionen Menschen an Psoriasis erkrankt. Bei dieser Hauterkrankung können zahlreiche schwerwiegende Begleiterkrankungen auftreten. Hierzu zählen beispielsweise Bluthochdruck, Diabetes, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen und psychische Erkrankungen wie Angststörungen und Depressionen.
Über 6.000 Patienten bietet die Nia-App inzwischen tägliche Unterstützung
Nia-Health-Mitgründerin Dr. Reem Alneebari kennt als Dermatologin die bereits vorhandenen und wirksamen Behandlungsmethoden für Psoriasis-Patienten. Den Betroffenen seien diese jedoch meist unklar. „Um effizienter die hoch-individuellen Auslöser für Schübe sowie die optimale Therapie zu erkennen, ist die Dokumentation extrem wichtig", sagt die 39-Jährige. Genau dabei soll die neue App Patienten und Ärzte unterstützen. Aufzeichnungen des Hautbildes anhand von Beschreibungen und Fotos helfen Patienten und Medizinern Muster im Gesundheitsverlauf zu erkennen.
Technologisch greift Nia Health auf seine seit zweieinhalb Jahren entwickelte Plattform zurück. Gründungsmitglied und Technischer Leiter, Oliver Welther, betont die Bedeutung skalierbarer Plattformen. „Unsere auf Künstlicher Intelligenz basierte Technologie haben wir von Beginn an so entwickelt, dass wir in vielen Indikationsfeldern Synergieeffekte erzielen können", sagt der 36-Jährige. Ziel sei immer die Entstehung eines Produkts, das Patienten und Medizinern einen direkten Mehrwert bringt.
Die Gründer von Nia sind derzeit dabei, die Apps für den englischsprachigen Markt vorzubereiten. Ziel der Gründer ist die Internationalisierung des Produkts.