Die Europäische Union hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, klimaneutral zu werden. Atomkraftwerke als „saubere" Energiequellen stehen jetzt wieder auf der Tagesordnung. Das Ergebnis: alte Diskussionen und neue Perspektiven.
Die EU-Kommission hat Ende 2021 bekannt gegeben, dass fossiles Gas und Atomkraft in die EU-Taxonomie aufgenommen werden sollen. Übersetzt heißt das, dass Investitionen in neue Gas- und Atomkraftwerke unter bestimmten Auflagen als nachhaltig eingestuft wurden. Warum? Ganz einfach: um das ambitionierte EU-Ziel, bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu werden, in ansatzweise erreichbare Nähe zu rücken. Kommissionsexperten gaben zu, Atomenergie und Gas seien zwar an sich nicht grün, ermöglichten jedoch den Übergang zu erneuerbaren Energien. Und was genau bedeutet das jetzt?
Die Beantwortung dieser Frage ist schwierig. Denn während die Entscheidung der EU-Kommission höchst umstritten bleibt, ist seit Dezember 2021 noch einiges mehr passiert: Putins Angriffskrieg hat die Debatte um Atomkraft – die genau genommen bereits seit einem halben Jahrhundert läuft – in ein ganz neues Licht gerückt. Denn jetzt stellen sich Verantwortliche in Politik und Wirtschaft nicht nur die Frage, wie wir die Energiewende möglichst schnell schaffen, sondern auch noch möglichst sicher und unabhängig von Energieliefergigant Russland. Daneben stellen sich weitere Fragen, die miteinander zusammenhängen: Wie wollen wir unsere Energieversorgung sicherstellen? Und mit wem wollen wir dahingehend auf welche Art zusammenarbeiten?
Deutschland hat sich über Jahrzehnte in seiner Energieversorgung wie kaum ein anderes westeuropäisches Land abhängig von Russland gemacht. Dem Land, das die ganze Welt von heute auf morgen auf den Kopf stellte – jedenfalls kam es vielen so vor. Wenig verwunderlich also, dass wohl kaum ein Wort in den letzten Wochen öfter in den Zeitungen zu lesen war als „Versorgungssicherheit".
Was muss man sich eigentlich unter Versorgungssicherheit vorstellen? Und wer gewährleistet sie? Und was bringt es uns, wenn wir mit der emissionsarmen Atomenergie unserem CO2-Klimaziel näherkommen, dafür aber jede Menge hochgefährlichen radioaktiven Atommüll produzieren, für den Stand jetzt noch nicht einmal ein geeignetes Endlager gefunden werden konnte?
Den kleinen zeitlichen Puffer, den Deutschland im Dezember 2021 bei der Erörterung all dieser Fragen zur sicheren Versorgung angesichts des Klimawandels noch hatte, hat Putin genommen. Jetzt braucht es auf schnellem Wege sichere Entscheidungen, die zu nachhaltigen Lösungen führen.
Der Preis der Unabhängigkeit
Schon vor dem Angriffskrieg in der Ukraine war klar, dass Deutschland in seiner Energieversorgung unabhängiger werden will. Sollte sich die EU tatsächlich für ein Öl-Embargo nach Ablauf der kommenden sechs Monate gegen Russland entscheiden, fällt ein Großteil des Erdöls weg. Allerdings bezieht Deutschland derzeit auch einen Großteil von Gas und Kohle aus Russland.
Um unabhängiger zu werden, braucht es also grünen Strom aus erneuerbaren Energien. Denn diese sind CO2-arm, und das wiederum braucht es, um Deutschlands Ziel der Klimaneutralität zu erreichen. Dabei ist Deutschland sogar noch ambitionierter als die Europäische Union. Denn bereits im August 2021 hat die Bundesregierung ihr Klimaschutzgesetz verschärft und das Ziel der Treibhausgasneutralität bis 2045 angekündigt. Die Ziele Deutschlands stehen fest, allerdings ist der Weg dorthin noch nicht ganz klar. Am Ende kommt es aber auf die Umsetzung an.
Der über lange Jahrzehnte andauernde und kürzlich wieder aufgeflammte Streit um die Atomenergie zeigt, dass sogar in dem Diskurs zwischen „Atomkraft? – Nein, danke. Energiewende? – Ja, bitte" noch viele Aspekte zu bedenken sind. Darunter Versorgungssicherheit, Klimaschutz und Nachhaltigkeit. Ende 2022 sollen die letzten drei noch laufenden Atomkraftwerke in Deutschland abgeschaltet werden. Derzeit macht der Anteil der Atomenergie in Deutschland noch 6,2 Prozent aus. Der Rest ergibt sich aus Kohle, Erdgas, erneuerbaren Energien und anderen Energiequellen.
Aber können am Ende auch alle berechtigten Anliegen und Bedürfnisse gleichzeitig berücksichtigt werden? Und wenn nicht, wo setzt man Prioritäten?
Welche Rolle die Atomkraft in diesem Dilemma spielt, bleibt umstritten. Eine eindeutige Antwort gibt es nur auf eine Frage: Brauchen wir die Energiewende? Ja. Und da sind sich alle einig.