Der Skandal um die Russin Kamila Walijewa bei Olympia hat die Diskussion um die Einführung eines Mindestalters zur Teilnahme an Top-Events neu befeuert. Für die Kufenkünstler wurde nun eine Regelung getroffen.
Als die gerade mal 15-jährige Australierin Summer McIntosh, die ein Jahr zuvor auch schon bei den Olympischen Spielen in Tokio teilgenommen hatte, im Sommer 2022 bei den Schwimm-Weltmeisterschaften in Budapest die Goldmedaille über 200 Meter Schmetterling mitgewonnen hatte, wurde ihre Leistung in den Medien unisono bewundernd gefeiert.
In anderen Sportarten mit dem Skateboarden an der Spitze sind die Teilnehmer bei internationalen Top Events noch weitaus jünger. Da gehen regelmäßig elf- oder zwölfjährige Kids bei internationalen Top Events an den Start. Bei den Olympischen Spielen in Tokio 2021 konnten daher zwei 13-jährige Teenager, die Lokalmatadorin Momiji Nishija und die Brasilianerin Rassya Leal, Gold und Silber in der Disziplin Street abräumen. Was seinerzeit von der Öffentlichkeit mit begeistertem Staunen zur Kenntnis genommen wurde, ohne dass sich jemand groß Gedanken darüber gemacht hatte, ob es in Ordnung sein kann, dass solch blutjunge Kinder schon an so bedeutenden Veranstaltungen teilnehmen dürfen.
Diskussion bereits seit 1980
Das war in der Vergangenheit schon mal anders gewesen, als sich Experten wie Sportmediziner oder Sportpsychologen intensiv Gedanken über das Problem des Frühverschleißes, körperlich vor allem am Rückgrat und dem Bewegungsapparat ablesbar, aber durch Erfolgs- und Erwartungsdruck auch die Psyche belastend, bei kindlichen Athleten gemacht hatten. So hatte der „Spiegel" schon 1980 einen ausführlichen Beitrag mit dem Titel „Olympia: Kinder-Fron für die Nation" veröffentlicht und darin mit Eiskunstlauf, Schwimmen und Kunstturnen drei Sportarten als besonders bedenklich in den Mittelpunkt gestellt. Im Schwimmsport war man damals zu der Erkenntnis gekommen, dass die Mädchen vor der finalen körperlichen Ausreifung, etwa im Alter von 13 Jahren, über „ein besonders günstiges spezifisches Gewicht und damit eine bessere Wasserlage" verfügten. Zusätzlich war von Hormongaben die Rede gewesen, mit deren Hilfe die Pubertät hinausgezögert werden konnte, vom systematischen Staatsdoping etwa in der DDR ganz zu schweigen.
Auch bei den jungen Turnerinnen war man von Hormongaben ausgegangen, um die kindliche Figur und ein Idealgewicht um die 40 Kilogramm möglichst lange halten zu können, strenge Dauerdiät inklusive. Im Eiskunstlauf wurde auf dem Weg hin zu Drei- oder gar Vierfach-Sprüngen die früh zu erlangende optimale Bewegungsgeschicklichkeit der Kids ausgenutzt, ohne dabei die körperlichen Spätfolgen für Gelenke und Wirbelsäule durch den in diesem Alter auf Dauer kaum zu bewältigenden Aufpralldruck ernsthaft zu berücksichtigen. Im Kunstturnen sollte immerhin 1997 die Reißleine gezogen werden und das Mindestalter für die Teilnahme an internationalen Events auf zuweilen schwer kontrollierbare 16 Jahre (bei Olympia in Peking 2008 schienen chinesische Teilnehmerinnen deutlich jünger zu sein) festgelegt werden.
Russische Kinderstars in der Eislauf-Szene
Neben dem Kunstturnen war ein Mindestalter eigentlich nur in der Leichtathletik Usus, bei deren Wettbewerben nur Volljährige teilnahmeberechtigt sind, zumal Kids bei dieser Sportart keinerlei Vorteile, sondern eigentlich nur Nachteile von ihrem kindlichen Körperbau erzielen können. Doch wie aus dem Nichts wurde das brisante Thema Mindestalter im internationalen Spitzensport als Folge des Damen-Eiskunstlauf-Wettbewerbs bei den Olympischen Winterspielen in Peking 2022 auf die oberste Entscheidungsebene katapultiert. Ausgerechnet IOC-Präsident Thomas Bach, der sich bislang kaum als Kämpfer für das Wohl und die Förderung der Athleten hervorgetan hatte, forderte nach den Vorkommnissen rund um die russische Eisprinzessin Kamila Walijewa alle seiner Organisation angeschlossenen Weltverbände eindringlich auf, die Einführung eines Mindestalters für ihre jeweilige Sportart zu überprüfen. Bachs plötzlicher Aktivismus, der nur dem riesigen medialen und für das Ansehen des IOC schädlichen Interesse um die Russin geschuldet gewesen sein dürfte, mutete etwas Scheinheiliges an. Denn dass russische Kinderstars die Szene nach Belieben beherrscht haben, ist ja nichts Neues, wie das Beispiel der beiden Olympiasiegerinnen Alina Sotnikowa, in Sotschi 2014, und Alina Sagitowa, in Pyeongchang 2018, bewiesen hatten. Weil es inzwischen in Mediziner- und Expertenkreisen als gesichert angesehen wird, dass Mädchen vor der Pubertät dank ihres schmalen, leichten Körpers dazu prädestiniert sind, Drei- oder gar Vierfachsprünge in Serie aufs Eis zaubern zu können. Russland, mit der umstrittenen, für ihre knallharten Drillmethoden gefürchteten Moskauer Trainerin Eteri Tutberidse als Hauptprotagonistin, hat daraus längst ein Geschäftsmodell gemacht. Die Mädchen werden dabei ganz gezielt auf einen Leistungshöhepunkt im Alter von 15 oder 16 Jahren hingeführt und danach einfach gegen neue Kids ausgetauscht. Walijewa war in Peking nur der Star von gleich drei unter der Obhut von Tutberidse stehenden Olympia-Medaillenanwärterinnen.
Als Weltrekordhalterin in Kür und Kurzprogramm war Walijewa als haushohe Favoritin nach Peking angereist. Als einzige Athletin der Welt konnte sie den dreifachen Axel meistern, der wegen seines Schwierigkeitsgrades mit vorwärtigem Absprung und rückwärtiger Landung sonst nur von Männern beherrscht wird. Zudem zählten auch einige Vierfach-Sprünge zu ihrem Repertoire, was sie im Pekinger Teamwettbewerb wieder mal eindrucksvoll unter Beweis stellen sollte. Kurz nach dem Sieg des russischen Mädchenteams wurde Anfang Februar 2022 jedoch eine positive Dopingprobe Walijewas publik gemacht. Die junge Russin war im Rahmen der Landesmeisterschaften am 25. Dezember 2021 getestet worden. Die Auswertung der Probe war in einem Stockholmer Labor jedoch ungewöhnlich lange hinausgezögert worden. Es konnte das Herzmedikament Trimetazidin nachgewiesen werden, ein Stoffwechsel-Modulator, der die Ausdauer und den Blutfluss steigern kann. Dank einer Entscheidung des Internationalen Sportgerichtshofs CAS durfte Walijewa trotzdem im Einzelwettbewerb an den Start gehen. In der Kür konnte sie dem Rummel und dem Druck um ihre Person zunächst noch einigermaßen standhalten. Doch dann verlor sie die Spitzenposition und landete schließlich nach mehreren Patzern unter Tränen und unter Beschimpfungen ihrer Trainerin nur auf dem vierten Platz.
Glaubwürdigkeit auf dem Prüfstand
Die Internationale Eislauf-Union fühlte sich, dem Aufruf von Bach und dem medialen Druck nachgebend, zum Handeln verpflichtet. Am 7. Juni 2022 traf die ISU im Rahmen einer Tagung im thailändischen Phuket die „historische Entscheidung", so Präsident Jan Dijkema, die Altersmindestgrenze im Eiskunstlauf ab Sommer 2016 auf 16 Jahre und ab 2024 auf 17 Jahre zu fixieren. Für den entsprechenden Antrag hatten die Delegierten aus 100 Ländern votiert, es gab 16 Gegenstimmen und drei Enthaltungen. Die medizinische Kommission der ISU hatte vorab auf erhebliche gesundheitliche Risiken wie Verletzungen, Essstörungen oder ein Hinauszögen der Pubertät für die zu früh mit Extremtraining zu Höchstleistungen gepushten Kids aufmerksam gemacht. Für ISU-Generaldirektor Fredi Schmid war der Beschluss absolut alternativlos: „Die Stunde der Wahrheit ist heute, denn die Glaubwürdigkeit der ISU wird auf den Prüfstand gestellt. Die Medien und die Öffentlichkeit werden uns sehr genau beobachten." Damit dürfte die Zeit der Wunderkinder im Eiskunstlauf endgültig vorbei sein. „Die Kinder haben das Recht, sich in ihrer Jugend zu entwickeln", so Dr. Jane Morgan, Mitglied der medizinischen Kommission. „Sie brauchen uns nicht, um zum Wettkampf gezwungen zu werden."
Während sich die frühere Eiskönigin Katharina Witt sehr positiv zur ISU-Entscheidung geäußert hatte, hielt Ex-Eiskunstlauf-Europameister Norbert Schramm die beschlossene Altersgrenze für „Augenwischerei": „Es reicht einfach nicht aus. 17-Jährige haben im Profisport nichts verloren." Er halte „eine Anhebung des Mindestalters auf mindestens 18, besser noch 21" für wünschenswert. So weit wollte Jens Kleinert, Professor für Sport- und Gesundheitspsychologie an der Deutschen Sporthochschule Köln, nicht gehen. Aber er regte für alle Sportarten „eine Orientierung an der Altersgrenze von 16 Jahren" an, wobei man natürlich die recht unterschiedlichen körperlichen und mentalen Anforderungen von Sportart zu Sportart berücksichtigen müsse: „Die Vorzüge eines kindlichen Körpers sind häufig bei turnerisch-akrobatischen Sportarten größer, was hier das Problem verstärkt. Auch Einzelsportarten sind naturgemäß wesentlich problematischer als Teamsportarten, in denen junge Spieler/Spielerinnen zwar auch Druck erleben, aber häufig sehr gut aufgefangen werden." Für den Heidelberger Sportrechtsanwalt Dr. Michael Lehner ist Leistungssport unter einer Altersgrenze von 16 Jahren sogar „Kindesmissbrauch": „Denn wenn ich dem Kind die Kindheit nehme, es unmenschlichen Dingen aussetze – ist das für mich kein Sport, dem ich begeistert zuschauen und unterstützen kann."